Folgt man von Potsdam der Bundesstraße 1 Richtung Brandenburg, zeigt sich die märkische Streusandbüchse schnell von ihrer hügeligen Seite. Vorbei an Weinbergen, Obstplantagen und Getreidefeldern liegt nach knapp 20 Kilometern etwas abseits der Hauptstraße das zur Stadt Werder gehörende Derwitz. Ein bereits im 14. Jahrhundert erwähntes Straßenangerdorf mit spätgotischer Kirche und etwa 50 Häusern an zwei Sackgassen links und rechts der Durchgangsstraße. Pferdewinkel salopp die eine Gasse genannt, Zickenwinkel die andere. Zentral neben der Kirche im alten Feuerwehrhaus ist die Lilienthal-Gedenkstätte untergebracht, denn in Derwitz an der Gemarkungsgrenze zum benachbarten Krielow unternahm der Flugpionier 1891 seinen ersten Gleitflug. Es war gleichzeitig der erste Menschenflug.
Durch verwandtschaftliche Beziehung kam ja Otto Lilienthal nach Derwitz her. Also von seinem Bruder Gustav die Frau und davon der Onkel, der war Karl Otto Bournot. Der war Pfarrer damals in Derwitz. Und dann kam er eben mal hierher zu Besuch, und dann ist er hinterher rumgewandert Richtung Krielow gelaufen und hat da diesen Mühlenberg und den Spitzberg entdeckt."
Erklärt Ortschronist Gerd Schönefeld unverkennbar mit brandenburgischem Dialekt. Schon seit seiner Kindheit war Otto Lilienthal fasziniert vom Fliegen, betrieb Vogelstudien, testete Modellflieger und bewies in langwierigen Versuchsreihen die besonderen Flugeigenschaften gewölbter Tragflächen. Der Praxistest mit seinem selbst gebauten, "manntragenden Gleitapparat" stand an.
Die bis zu 64 Meter hohen Hügel erschienen Otto Lilienthal als perfektes Übungsterrain. Denn für den Bau der Bahnstrecke von Berlin nach Magdeburg im Jahr 1846 war der benötigte Sand hier abgetragen worden, sodass eine Grube mit Abbruchkante entstanden war, von der er abspringen konnte. Lilienthal schleppte den in seiner Maschinenfabrik in Berlin gefertigten Segler schließlich im Passagierabteil der Bahn an.
"Er hat ja die Fluggleiter so konstruiert, dass sie zerlegbar waren, um den Transport mit der Bahn besser zu organisieren. Und eenmal hat er in Berlin am Anhalter Bahnhof gestanden und hatte das alles so zusammen, und dann ham die Leute gefragt, was das sein soll. Und dann hat er gesagt: Flugzeug. Da ham die gleich gedacht: der spinnt doch. Da konnten sich ja die Menschen nicht vorstellen, dass eener durch die Luft fliegt wie Vögel eben."
Lilienthals Reiseziel war der wenige Kilometer von Derwitz entfernte Bahnhof Groß-Kreutz, wo er schon mit einem Pferdefuhrwerk erwartet wurde, erzählt der wettergegerbte 68-Jährige auf unserem Spaziergang zum Spitzen Berg.
"Jetzt nähern wir uns langsam diesem Wohnhaus vom Müller Hermann Schwach damals, in dem Otto Lilienthal, den er dann kennengelernt hatte und mit dem er klargemacht hatte und ihm vom Bahnhof mit seinem Fluggerät abholt."
Das Wohnhaus ist im Vergleich zu einem Foto von 1891 kaum verändert. Nun allerdings mit Anbau. Was fehlt, ist die damals in Wurfweite stehende Bockwindmühle auf dem Rücken des Mühlenbergs. - Abgerissen im Zuge der Elektrifizierung dieses Handwerks. Die Scheune aber steht noch.
"In der Scheune vom Müller Hermann Schwach hat er das untergestellt. - Also man kann sagen, das war der erste Hangar der Welt? – Ja, so wurde das auch schon öfter bezeichnet: der erste Hangar der Welt in der Scheune von dem Müller Hermann Schwach damals."
Über seinen Gleiter schreibt Otto Lilienthal:
"Der Apparat, dessen ich mich bediente, hatte die Gestalt ausgebreiteter Vogelflügel. Der Flügelquerschnitt nach der Flugrichtung war parabolisch gekrümmt."
Das Gestell der Flügel aus Weidenruten, vier Meter lang und acht Meter Spannweite mit zehn Quadratmetern Segelfläche aus lackiertem Baumwollgewebe. Zusammen 18 Kilogramm schwer.
Spektakel für Dorfbewohner
So häufig es seine beruflichen Verpflichtungen als Firmenchef eines Betriebes mit 60 Arbeitern zuließen, führte es ihn von Berlin hinaus nach Derwitz. Ein Spektakel für die Dorfbevölkerung, besonders für die Kinder.
"Und da hieß et: der Flügelmann ist wieder da. Und da sind, wer konnte und Zeit hatte, sind se hoch und haben zugekuckt, wie der hier seine Flugversuche gemacht hat."
Allein, verrät Gerd Schönefeld, ist der Flugenthusiast selten angereist.
"Der Mitarbeiter Hugo Eulitz, der auch in der Maschinenfabrik gearbeitet hat, ist auch mit dem Fluggleiter geflogen. Die haben sich denn abgewechselt. Der eine ist geflogen, hat ihn hochjetragen wieder, dann hat er ihn den anderen übergeben, hat der sich ausgeruht, ist der andere runtergeflogen. Man sieht auch auf vielen Bildern, dass der Hugo Eulitz geflogen ist, weil er hat immer eine Melone aufgehabt."
Dokumentiert wurden zahlreiche Sprünge mit einem Fotoapparat. Weniger aus Eitelkeit, vielmehr wollte Lilienthal im Bild nachverfolgen, welche Haltung er beim Fliegen einnahm, um die Wirkung der Flügel besser zu studieren.
Lilienthal schreibt 1891 über die Derwitzer-Flugversuche:
"Auf dem besagten Übungsterrain habe ich nun den Sprung von größerer Höhe bei Winden von verschiedener Stärke tausendfältig ausgeführt und eine Menge neuer Erfahrungen gesammelt. Wenn der Wind eine Stärke von mehr als 5 bis 6 Metern besitzt, so ist die Handhabung des Apparates eine äußerst schwierige, und bevor man nicht durch längere Übung eine gewisse Fertigkeit darin erlangt hat, darf man es nicht wagen, den Boden mit den Füssen irgendwie zu verlassen. Wiederholt wurde ich durch unvorhergesehene Windstöße mehrere Meter hoch vom Erdboden gehoben, und konnte einem unglücklichen Absturz mit dem sich überschlagendem Apparate nur dadurch vorbeugen, dass ich mich aus dem gehobenen Apparate bei Zeiten herabfallen ließ.
Das Endresultat an dieser Versuchsstelle bestand nun darin, dass an der höchsten vorhandenen Absprungstelle von 5 - 6 Metern ein etwa 20 - 25 Meter langer Sprung durch die Luft sich ausführen ließ und zwar sowohl bei Windstille als auch bei Winden verschiedener Stärke."
Ein Ort, an dem Fluggeschichte geschrieben wurde
Wir gehen weiter Richtung Absprungstelle und werden diese dennoch nicht erreichen. Denn wie in einer Sanduhr ist auch hier der Sand in Bewegung geraten.
"Der Spitze Berg, der hatte 64 Meter, aber der wurde immer kleiner, der wurde immer gebraucht."
1904 für die Potsdamer Bahnstrecke Charlottenhof bis Kaiserbahnhof für Kaiser Wilhelm II. und zuletzt für den Autobahnbau im Nationalsozialismus. Wo früher also der Absprungberg war, klafft nun ein großes Loch. Aus Berg wurde Sandgrube.
Doch auf dem Mühlenberg, gut 100 Meter entfernt vom tatsächlichen Ort, an dem Fluggeschichte geschrieben wurde, steht heute ein großes Lilienthal-Denkmal: ein Würfelgerüst aus Edelstahl mit Steinpyramide und einem stilisierten Gleitflugapparat. Von hier eröffnet sich ein weiter Blick über das Havelland.
Wer heutzutage mit dem Regionalzug von Potsdam nach Brandenburg reist, kommt an diesem Denkmal vorbei und rollt streckenweise auf einem Bahndamm, dessen Untergrund vom Spitzen Berg stammt. Vielleicht exakt von der Stelle, an der der Flugpionier die ersten mutigen Schritte der Luftfahrt gemacht hat.