Mitte März trat Marina Owsjannikowa während einer Nachrichtensendung des russischen Fernsehsenders "Perwy Kanal" hinter der Moderatorin ins Bild und hielt ein Schild in die Kamera: "No war" stand dort auf Englisch. "Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen" war auf Russisch zu lesen. Owsjannikowa rief "Stoppt den Krieg" bevor die Übertragung abbrach.
Daraufhin wurde sie festgenommen und von einem Gericht zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 300 Euro verurteilt - die Strafe bezieht sich allerdings auf ein Twitter-Video, das sie vor der Aktion veröffentlicht hatte. In einem weiteren Verfahren wird Owsjannikowa die „Diskreditierung der Streitkräfte Russlands“ vorgeworfen. Im Falle einer Verurteilung drohen Owsjannikowa bis zu 15 Jahre Gefängnis.
Viele Medien berichteten von der "mutigen" Journalistin, nannten sie eine "Heldin" oder die "mutigste Frau Russlands". Jetzt arbeitet Marina Owsjannikowa für die Tageszeitung und den TV-Sender "Welt". Ihren ersten Kommentar hat sie am Montag veröffentlicht.
"Marina Owsjannikowa hat in einem entscheidenden Moment den Mut gehabt, die Zuschauer in Russland mit einem ungeschönten Bild der Wirklichkeit zu konfrontieren", erklärte der Chefredakteur der "Welt"-Gruppe, Ulf Poschardt. "Damit hat sie die wichtigsten journalistischen Tugenden verteidigt - und das trotz drohender staatlicher Repression."
Kritik an “Welt” und Owsjannikowa von Journalistinnen und Journalisten
Mehrere ukrainische und russische Medienschaffende kritisieren, dass "Welt" Owsjannikowa beschäftigt. Ein Argument: Sie habe lange bei einem Staatssender gearbeitet und russische Propaganda verbreitet.
"Wie sieht es mit ihren beruflichen Fähigkeiten aus? Ist sie eine qualifizierte Journalistin? Ich habe Zweifel: Journalismus gibt es in den russischen Staatsmedien nicht. Sie hat dort jahrelang gearbeitet und war mit der Propaganda über die Ukraine zufrieden", schreibt die ukrainische Journalistin Olga Tokariuk auf Twitter.
Viele unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Russland seien auf der Suche nach einem Job in Europa, schreibt Farida Rustamova von der russischsprachigen Nachrichtenseite Meduza. "Sie sind hochqualifiziert und haben alle einen guten Ruf. Aber es ist Marina Owsjannikowa, die einen Job bei 'Welt' bekommt. Bei allem Respekt, sie war es nicht, die ihre Sicherheit bei der Arbeit in Putins Russland riskiert hat."
Die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Litvinenko sieht in der neuen "Welt"-Journalistin eine Bereicherung für das Meinungsspektrum. "Mit Frau Owsjannikowa hat die Welt eine interessante Stimme bekommen. Einerseits ist es keine idealtypische liberale Journalistin. Andererseits ist sie eine typische Vertreterin der russischen Bevölkerung jetzt, die jahrelang weggeschaut hat und depolitisiert war."
Die freie Journalistin Anna Romandash, die unter anderem für das deutsche Magazin Katapult schreibt, sieht Owsjannikowa und ihre Plakat-Aktion dagegen als Teil russischer Propaganda.
"Es gibt eine Menge Fragen. Warum ist sie so leicht davon gekommen? Sie kann sich frei äußern und so viel Kritik üben, wie sie will, während alle anderen regimekritischen Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Das ist merkwürdig. Dann ist da noch die Tatsache, dass sie seit vielen Jahren für diesen Sender gearbeitet hat. Und ihre Narrative sind definitiv nicht pro-ukrainisch“, sagte Romandash dem Deutschlandfunk.
Litvinenko: "Owsjannikowa hat eine klare Antikriegsposition"
Litvinenko hat bereits Mitte März beobachtet, dass versucht wurde, die Plakat-Aktion Owsjannikowas als russische Propaganda zu interpretieren. "Weil die Aktion zeige, dass es auch Russen gibt, die protestieren und deswegen solle man auch die Sanktionen entschärfen. Das Wichtigste ist, dass Owsjannikowa eine klare Antikriegsposition hat."
Die Journalistin werde in den Sozialen Medien derzeit von allen Seiten kritisiert. "Es wird interessant sein, diese Debatte von ihr und von ukrainischen Kolleg*innen zu sehen. Es ist jetzt wichtig, in diesem Krieg verschiedene Perspektiven und Meinungen zu hören."