Einmal pro Woche eine Spritze, und dadurch zwischen 10 und 17 Prozent des Körpergewichts verlieren: Das ist das Versprechen der inzwischen überaus populären Abnehmspritze mit dem Wirkstoff Semaglutid.
Die Substanz wurde unter dem Namen des Diabetes-Medikaments Ozempic bekannt, inzwischen ist sie aber auch unter dem Namen Wegovy zur Behandlung von Übergewicht in der EU zugelassen. Doch es könnte sein, dass sie auch noch gegen weitere Krankheiten hilft. Jede Woche erscheinen derzeit Studien, die neue Wirkungen untersuchen: auf Herz, Niere, Leber, Gelenke und auch auf das Gehirn.
Einige Wirkungen sind dabei wenig überraschend: Schließlich gibt es um die 60 Erkrankungen, die mit Adipositas, also starkem Übergewicht, zusammenhängen. Wer Übergewicht reduziert, entlastet seinen Körper an vielen Stellen.
Parkinson, Arthritis und Alkoholsucht
Doch es gibt auch Hinweise darauf, dass es nicht nur die Gewichtsabnahme sein könnte, die hier vorteilhaft wirkt - sondern dass Semaglutid und Co. darüber hinaus noch andere, eigene Effekte im Körper haben könnten.
Im Gespräch ist sogar eine Wirkung gegen Erkrankungen, die zumindest auf den ersten Blick nichts mit Adipositas zu tun haben: Parkinson zum Beispiel, Arthritis oder Alkoholsucht. Ist es realistisch, dass ein Wirkstoff auf so vielen Ebenen wirkt? Ein Überblick über den Stand der Forschung.
Wirkung gegen Übergewicht
Der Wirkstoff Semaglutid gehört zu den so genannten GLP-1-Mimetika. Sie ahmen die Wirkung des Darmhormons GLP-1 nach. Das Hormon greift im Körper an verschiedenen Stellen ein: Es senkt den Blutzuckerspiegel, verlangsamt die Entleerung des Magens und signalisiert dem Gehirn, dass man genug gegessen hat.
Neu ist das alles nicht: GLP-1-Mimetika sind schon länger als Medikamente gegen Typ-2-Diabetes und zur Gewichtsreduktion auf dem Markt. Doch Semaglutid ist ihnen deutlich überlegen, denn es bleibt - statt Minuten wie das echte Darmhormon oder Stunden wie die früheren Medikamente - eine ganze Woche im Körper, bis es zur Hälfte abgebaut ist.
Entsprechend stark ist die Wirkung: In den Zulassungsstudien aßen die Teilnehmenden so viel weniger, dass sie innerhalb von eineinhalb Jahren im Schnitt 10 bis 17 Prozent ihres Gewichts verloren. Allerdings mussten sie dafür auch ihre Ernährung umstellen und Sport treiben.
Imitation von Darmhormonen
Neben Semaglutid gibt es auch das neuere Tirzepatid, das die Wirkung von gleich zwei Darmhormonen imitiert: GLP-1 und GIP. Es ist ebenfalls in der EU als Medikament gegen Typ-2-Diabetes und zur Gewichtskontrolle und -abnahme zugelassen. In Zulassungsstudien wurde damit ein Gewichtsverlust zwischen 16 und 21 Prozent beobachtet.
Etwa 15 Prozent der Teilnehmenden nahmen in den Zulassungsstudien mit beiden Wirkstoffen nicht oder kaum ab. Und auch wer einiges an Gewicht verliert, kann nicht damit rechnen, dass das immer so bleibt. Nach Absetzen des Medikaments kommt das Übergewicht in der Regel wieder zurück, sodass nach eineinhalb bis zwei Jahren das Ausgangsgewicht wieder erreicht ist.
Wirkung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Eine großangelegte Studie mit mehr als 17.000 Teilnehmenden aus dem Jahr 2023 zeigt, dass der Wirkstoff Semaglutid als Abnehmspritze das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich verringert. Das ist erst einmal nicht überraschend, denn wer abnimmt, senkt normalerweise seinen Blutdruck, das entlastet das Herz. Auch für eine bestimmte Form der Herzinsuffizienz gibt es Daten zu positiven Effekten. Herz, Leber und Gefäße könnten außerdem davon profitieren, dass sich weniger Fette in ihnen ablagern, wenn das Fett überall im Körper weniger wird.
Eine Überraschung bietet die Studie aber dann doch: Der positive Effekt auf Herz-Kreislauferkrankungen zeigte sich weitgehend unabhängig davon, ob die Probanden und Probandinnen abgenommen hatten oder nicht. Er trat auch schon auf, bevor die Teilnehmenden viel Gewicht verloren hatten. In einer Studie zu Effekten auf Nierenerkrankungen war es ähnlich.
Wirkung auf Leber, Niere und andere Organe
Die Leber ist ein Organ, das bei Adipositas oft geschädigt wird. Eine Folge kann die nicht-alkoholische Fettleber sein, bei der Fett in der Leber abgelagert wird, sodass auf Dauer das Gewebe vernarbt.
Ob Abnehmspritzen hier helfen können, dazu läuft eine größere Studie mit positiven Zwischenergebnissen. Nach Angaben des Herstellers, der die Studie in Auftrag gegeben hat, führte das Medikament dazu, dass sich das Narbengewebe und die Entzündung in der Leber teilweise zurückbildeten.
Die Leber als regenerationsfähiges Organ
Bei einer möglichen Wirkung auf die Leber könnten Entzündungsbotenstoffe eine Rolle spielen, die das Fettgewebe freisetzt und die auch in der Leber ankommen und ihr schaden können. Wenn das Fettgewebe schrumpft, werden auch weniger dieser Botenstoffe ausgeschüttet.
Die Mechanismen habe die Wissenschaft „noch nicht genau verstanden“, sagt der Mediziner Paul Horn, der an der Charité in Berlin zu Lebererkrankungen forscht. „Es kommt wahrscheinlich zu einem Ausgleich des Gleichgewichts zwischen schädlichen Einflüssen des Immunsystems und Reparaturmechanismen des Immunsystems. Die Leber ist ein sehr regenerationsfähiges Organ. Es kann selbst bei relativ weit fortgeschrittenen Stadien noch eine deutliche Verbesserung erreicht werden, wenn wir die Ursache beheben können.“ Dass eine vollständige Regeneration einer schwer geschädigten Leber möglich ist, bezweifelt Horn aber.
Gesenktes Risiko für Nierenversagen
Dazu kommen klinische Studien, die auf einen Schutz der Niere hinweisen. Es wurde beobachtet, dass bestehende Nierenschäden langsamer voranschritten und das Risiko für Nierenversagen gesenkt wurde. Eine Ursache könnte in der Wirkung der Abnehmspritzen auf den Blutzucker liegen.
Die Medikamente wurden ursprünglich gegen Diabetes Typ 2 entwickelt. Möglich ist also, dass man eine unerkannte Diabetes-Erkrankung therapiert und damit die Niere schont, deren feinste Blutgefäße sonst durch zu hohen Blutzucker Schaden nehmen. Außerdem könnte auch die Niere davon profitieren, wenn weniger Entzündungsbotenstoffe im Körper ausgeschüttet werden.
Auch bei Arthritis-Schmerzen gibt es Hinweise auf mögliche positive Effekte, und bei Schuppenflechte. Bei diesen Autoimmunerkrankungen könnte ebenfalls eine entzündungshemmende Wirkung der GLP-1-Mimetika entscheidend sein.
Wirkung auf Gehirn und Suchtverhalten
Immer wieder werden auch Effekte auf neurodegenerative Erkrankungen diskutiert, etwa auf Parkinson oder Alzheimer. Hier gibt es noch keine überzeugenden Belege. Zumindest zu Alzheimer laufen aber größere Studien, die das testen sollen. Die Vermutung: GLP-1-Mimetika wirken nicht nur gegen Entzündungen, sondern schützen auch Nervenzellen.
„Studien zeigen ganz klar: GLP-1 und andere Darmhormone wirken neuroprotektiv im Gehirn und auch in anderen Geweben“, erklärt Timo Müller, der am Helmholtz Zentrum in München an neuen Wirkstoffen gegen Diabetes und Adipositas forscht. Daher glaubt auch Müller: „Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer oder Parkinson könnten die GLP-1-Mimetika durchaus positive Effekte haben.“
Doch das sind erst einmal Annahmen, die Bestätigung durch klinische Studien steht aus. Nur weil etwas in der Petrischale oder bei Mäusen funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass es auch beim Menschen funktioniert.
Weniger Lust auf Tabak und Alkohol
Schon etwas konkreter sind Untersuchungen, wie Semaglutid und andere GLP-1-Mimetika bei Suchtverhalten eingesetzt werden könnten. (Diabetes)-Patienten, die solche Medikamente nehmen, berichten immer wieder, dass sie nicht nur weniger Lust aufs Essen, sondern beispielsweise auch weniger Verlangen nach Tabak und Alkohol haben.
Kleinere Studien haben bereits die Effekte auf Opioid-Abhängige untersucht, Untersuchungen zu Nikotin, Alkohol und Kokain laufen. Für Lorenzo Leggio, Klinischer Direktor des Nationalen Instituts für Drogenmissbrauch, ist der Zusammenhang naheliegend: „Wenn man sich das Gehirn von Menschen mit Adipositas und Menschen mit Suchtverhalten ansieht, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Und aus der klinischen Praxis wissen wir, dass manche Medikamente, die gegen Alkoholsucht angewendet werden, auch das Gewicht und den Appetit beeinflussen.“ Leggio testet in einer Placebo-kontrollierten Studie, ob Menschen mit einem Alkoholproblem weniger Verlangen nach Alkohol verspüren, wenn sie sich Semaglutid spritzen.