Wenn Lehrer oder Erzieher zu DDR-Zeiten eine gute Lösung für immer wieder auftretende Probleme gefunden hatten, waren sie aufgerufen, eine sogenannte "Pädagogische Lesung" zu verfassen, eine Art Erfahrungsbericht zum Nachmachen für die Kollegen. "Best Practice", nennt man das heute in Wirtschaft und Politik. Im sozialistischen Regime gab es Auszeichnungen für Vorschläge, die als besonders gelungen galten.
Berichte 30 Jahre unbeachtet im Archiv
Fast 10.000 solcher Berichte aus der Zeit von 1955 bis 1989 lagerten einst im "Haus des Lehrers", einer Begegnungsstätte für Pädagogen am Ostberliner Alexanderplatz. Mit der Wende zogen sie um in die Bibliothek für bildungswissenschaftliche Forschung – wo sie 30 Jahre lang kaum Beachtung fanden. Prof. Katja Koch vom Institut für Sonderpädagogik an der Universität Rostock ist erst durch ein Gespräch mit einem Kollegen darauf gestoßen.
"Wir kannten die Pädagogischen Lesungen beide nicht. Und wir waren dann sehr erstaunt und sehr beeindruckt und sehr motiviert, dieses Thema anzugehen. Weil es ist ja für einen Wissenschaftler nicht so ganz häufig, dass man auf ein Konvolut trifft, was so gut wie nicht bearbeitet ist."
Neues Interesse an der DDR-Geschichte
Doch wie es kam es dazu, dass das Thema so lange nicht erforscht wurde? Die Unterlagen mussten nach ihrem Umzug erst einmal katalogisiert werden und waren deshalb lange Zeit nicht öffentlich zugänglich, erklärt Katja Koch. "Und hinzu kam, dass ich glaube, in den 90er Jahren war man auch relativ satt von dem Thema, da konnte das auch nicht verfangen. Und jetzt ist gewissermaßen eine neue Generation herangewachsen, die größeres Interesse wieder aufbringt an diesen historischen Dingen."
Die Arbeit des Rostocker Forschungsteams ist eingebettet in ein breit angelegtes Projekt des Bundesforschungsministeriums über "Sozialistische Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit", das unter anderem die "Pädagogischen Lesungen" sichtet und analysiert. Katja Koch und fünf weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören zum Team, das diese institutionalisierte Form der Erfahrungsweitergabe erforscht. Zunächst konzentrieren sie sich dabei auf die Fächer Deutsch, Sonderpädagogik und Geschichte.
Ein ganz besonderes Fach: "Wehrerziehung"
Clemens Decker ist außerdem für den Bereich Wehrerziehung zuständig. Der 29-Jährige, der selber nie gedient hat, versichert: "Das ist schon eine sehr fremde Welt und ich bin froh, dass ich das selbst nicht erlebt habe mit der Wehrerziehung, also das wäre mir nichts gewesen."
Trotzdem betrachtet er die Ansätze von damals immer wieder mit einer Mischung aus Staunen und Faszination: "In Sachsen wurde da zum Beispiel ein Modell gebaut mit kleinen Atomraketen, also es war so eine Art Modelleisenbahn und da sind dann so kleine Atomraketen aus unterirdischen Silos hochgefahren und es waren überall Lampen und es hat geleuchtet und kleine Panzer standen rum. Und die Schüler standen daneben und konnten die mit kleinen Elektromotoren fernsteuern..."
Geländeläufe, Orientierungswanderungen, Kochen am Lagerfeuer - das DDR-Regime gab sich große Mühe, die Wehrerziehung in ein gutes Licht zu rücken und den Nachwuchs so auf eine spätere Armeezeit vorzubereiten. Wirklich beliebt sei das Fach aber trotz allem bei so gut wie niemandem gewesen, so Deckers.
Sport sollte für den Staat begeistern
Ein anderes wichtiges Thema im Osten Deutschlands: Der Sport. In der Arbeitsstelle für Pädagogische Lesungen der Rostocker Universität kümmert sich Juliane Lanz um dieses, wie sie meint, "Spezialgebiet der DDR". Sport sollte nach dem Willen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beim Aufbau einer neuen Gesellschaft helfen und die Bevölkerung für den Staat begeistern. Juliane Lanz ist überrascht, wie offen in den pädagogischen Lesungen trotzdem der allgegenwärtige Mangel zum Thema gemacht wurde.
"Einige Bereiche, zum Beispiel kleinere Orte, haben ja keine Schwimmhalle gehabt und eine Lesung ist eine komplette Idee, wie bring ich meinen Kindern trotzdem Schwimmen bei an der Schule. Das heißt, ich besorge mir ein halb zerfallenes Haus an einem See, das bau ich mit Lehrern und Patenbrigade um, um dann dort immer Schwimmlager durchzuführen. Und dieser gesamte Plan, wie das gemacht wurde, war halt die pädagogische Lesung inklusive genau der Tagesplan: Wer war fürs Kochen, wer für den Transport der Kinder zuständig. Und das war ja so nicht vorgesehen im Bildungssystem, dass alles auf Eigeninitiative beruhte. Trotzdem hat es diese Lesung unter die besten geschafft, sonst hätten wir sie heute nicht."
Fachlicher, nicht ideologischer Auswahlprozess
Die "besten" Vorschläge - sie wurden den Kollegen in Weiterbildungskursen präsentiert, gedruckt und konnten in den Bezirkskabinetten ausgeliehen werden. Doch nach welchen Kriterien hat man die Verbesserungsvorschläge damals ausgewählt? War tatsächlich deren Qualität oder vielleicht doch eher die Linientreue der Autoren wichtig? Projektleiterin Katja Koch winkt ab:
"Ja, mit dieser Befürchtung sind wir natürlich auch an die Recherchen gegangen. Und es gibt zu jeder Lesung jeweils Gutachten. Wir haben diese Gutachten recherchiert. Und die, die man findet, da muss man sagen, das war ganz eindeutig ein fachlicher Auswahlprozess. Da finden Sie überhaupt keine Indizien, dass es um irgendetwas ging, was man nicht schreiben durfte. Im Gegenteil, man ist manchmal erstaunt, wie offen und freien Herzens dort geschildert wird, was auch die Schwierigkeiten sind. Also beispielsweise Schwierigkeiten in der Beschaffung von Literatur – nach dem Motto: Das könnte man gut mit einer Klasse lesen, wenn man‘s denn bekäme. Das ist recht offenherzig geschildert, muss man sagen."
Wobei natürlich trotz allem auch die Selbstzensur eine große Rolle gespielt haben dürfte. "Also dass man natürlich auch als gelernter DDR-Bürger ganz gut wusste, was kann man wie schreiben; dafür, dass es dann eben doch noch ein Publikum auch erreicht. Aber als gelernter DDR-Bürger, die wir hier zahlreich vertreten sind, weiß man auch, wie man zwischen den Zeilen liest, und da kann man doch auch noch einiges entdecken."
Interviews mit ehemaligen DDR-Lehrern
Um mehr darüber herauszufinden, wie groß die Spanne zwischen Theorie und Praxis war, haben die Rostocker Wissenschaftler angefangen, über Aufrufe in Zeitungen und Zeitschriften nach ehemaligen DDR-Lehrern zu suchen. 25 Interviews haben sie bisher geführt, sind zu diesem Zweck quer durch die ehemalige DDR gereist. Ein Thema dabei waren immer wieder auch jene Veranstaltungen, bei denen einmal jährlich die besten Vorschläge vor ausgewählten Kollegen präsentiert und in großem Rahmen ausgezeichnet wurden. Für Mitarbeiterin Kristina Koebe sind es diese Gespräche mit den Zeitzeugen, die die Vergangenheit erst richtig greifbar machen.
"Sie haben ganz doll betont, dass es um einen fachlichen Austausch ging und dass man sehr konstruktiv miteinander umgegangen ist. Und sie waren halt wirklich, wirklich beeindruckt, was da für ein Bahnhof veranstaltet wurde. Also da gab‘s einen Riesenempfang am Anfang, da gab‘s ein schickes Buffet. Die eine Lehrerin sagt, ja, ich hab da auch eine Prämie bekommen, aber es gab da diesen richtig tollen Tulpenstrauß. Das waren einfach so auch ganz viele schöne Geschichten, die man über Archivalien nicht eingefangen kriegt."
"Menschen, die ihren Beruf geliebt haben"
Immerhin 500 bis 700 DDR-Mark konnte ein Lehrer für seine Pädagogische Lesung bekommen, was in etwa einem halben Monatsgehalt entsprach. Aber Kristina Koebe ist sicher, dass das Geld für die meisten von ihnen nicht der wichtigste Ansporn war.
"Es sind ja doch sehr viele Vorurteile, Klischees über DDR-Schule auch im Umlauf, haben wir alle schon gehört. Also DDR neigt ja dazu, heute auch auf wenige Bilder und Begriffe reduziert zu werden. Und wenn einem dann jemand gegenübersitzt, der auch mit einer noch sehr überraschend plastischen Erinnerung erzählt, dann wird das eben sehr differenziert. Und was ich so schön fand war: zu spüren, bei all dem, was man jetzt sicher kritisch anmerken kann – auch Unterrichtsstil und so, einiges Zeitgeist, einiges ideologische Überformung – und trotzdem waren das Menschen, die ganz doll und offensichtlich ihren Beruf geliebt haben. Die versucht haben, guten Unterricht zu machen und denen die Kinder ganz doll wichtig waren. Und das finde ich einfach auch noch mal eine Facette, die in anderen Darstellungen wirklich kurz kommt zur Zeit."
25 Seiten, alles ohne Computer
Eine dieser Lehrerinnen von damals ist Ingrid Körner. In ihrem Einfamilienhaus in einem Dorf bei Rostock sitzt sie am Kaffeetisch, vor sich ihre Pädagogische Lesung, die sie in den 80er Jahren verfasst hat. "Also 25 handgeschriebene Seiten. Ja, damals alles noch ohne Computer. Und dann mit Schreibmaschine und dann wurde es eben vervielfältigt."
Eine Lesung, die in ihrem Umfang eher zu den kürzeren gehörte. Als Fachberaterin für den Deutschunterricht hatte sie aufgeschrieben, wie es gelingen könnte, Schülern das Verfassen von Vorträgen oder Aufsätzen beizubringen. Das nämlich sei gar nicht so leicht. In dem vergilbten Papier, das vor ihr auf dem Tisch liegt, formulierte sie es damals so: "In meinem eigenen Unterricht und bei der Hospitationstätigkeit konnte ich feststellen, dass man vorschnell von den Schülern die Komplexleistung abverlangt, ohne sie genügend durch Vorübungen vorbereitet zu haben. So werden besonders zurückhaltende und sprachlich gehemmte Schüler ständig überfordert." Dann beschreibt sie eine Reihe möglicher Übungen für den entspannten Einstieg in die Materie.
Die Beatles besprechen war nicht risikolos
Während der Vorschlag von Ingrid Körner ganz und gar unverfänglich war, verbrannte sich ihr Mann Peter, seines Zeichens Musiklehrer, ab und an mal die Finger. "Mir ist es zum Beispiel bei der Analyse der Situation des Musikunterrichts in der Stadt mal passiert, dass ich gesagt habe und auch geschrieben habe, man könnte im Musikunterricht die Schüler mit dem ständigen Absingen von Arbeiterliedern nicht begeistern, damit würde man keinen Hund hinter dem Ofen vorlocken. Das war natürlich wie ein Schlag in den Suppenteller."
Und er traute sich in seinen eigenen Stunden sogar, Lieder von den Beatles vorzuspielen und zu analysieren. "Ja, das war nicht ganz ohne Risiko. Das hab ich 1963 gemacht. Ich hatte von einem Pastor Tonbänder kopiert und hatte die in den Unterricht mitgenommen, weil ich ja ganz genau wusste, welche Rolle diese Musik bei den Jugendlichen spielt. Hab allerdings dann auch gesagt, das bleibt hier unter uns, geht damit nicht hausieren, denn dann darf ich das nicht mehr machen, oder ich fliege ganz raus. Und das haben sie auch dann so gehandhabt."
Bei "Fehltritten" drohte Berufsverbot
Die Gefahr, bei Fehltritten aus dem Schuldienst entfernt zu werden, gehörte damals zum Alltag eines Pädagogen. Sybille Westphal hat noch zu DDR-Zeiten fürs Lehramt studiert, diesen Beruf aber erst zwei Jahrzehnte nach der Wende ausgeübt. Sie erzählt von ihrer Mutter, die ebenfalls Lehrerin war, sich in den letzten Tagen der DDR in einen Mann aus Bremen verliebte, einen Ausreiseantrag stellte und nur durch den Fall der Mauer ungeschoren davonkam. Wäre ihr Antrag früher im Amt gelandet, hätte sie ihren Beruf ganz sicher an den Nagel hängen müssen.
"Freunde von uns haben das auch gemacht, viele Jahre vorher und die sind beide sofort von einem Tag auf den anderen vom Schuldienst entfernt worden und sind in der Materialausgabe gelandet für die Stadt und haben Kunst- und Werksachen übergeben dürfen für die Schulen - ohne dass sie Kinderkontakt hatten."
Lehramtsstudium war wesentlich praxisverbundener
Nicht alles war gut, nicht alles war schlecht im sozialistischen Arbeiter und Bauernstaat. Die Forscher an der Rostocker Universität bringen all die Grautöne zum Vorschein, die es zwischen den einfachen Wahrheiten gegeben hat. Projektleiterin Katja Koch kennt viele Schwächen im System von einst, sie sieht aber auch Dinge, die sie gerne in die heutige Zeit hinüberretten würde. Das Best-Practice-System der Pädagogischen Lesung gehöre unbedingt mit dazu. Es sei eine Methode zum Erfahrungsaustausch und zur Einbeziehung von Praktikern in die Forschung, die in dieser Form einmalig war.
Und auch das Lehramtsstudium sei damals prinzipiell gar nicht schlecht gewesen. "Ja, das war zu DDR-Zeiten wesentlich praxisverbundener. Die Ausbildung war wesentlich kürzer. Die Ausbildung hatte wesentlich mehr Praxisanteile und sie war auch wesentlich besser mit der Praxis während des Studiums verzahnt. Das ist etwas, was ich ganz offenherzig heute vermisse."
Immerhin: Die "Qualitätsoffensive Lehrerbildung", mit der Bund und Länder gerade versuchen, die Aus- und Weiterbildung von Pädagogen zu verbessern, setzt unter anderem darauf, Schulen und Hochschulen wieder enger miteinander zu verzahnen.
An verschiedenen Standorten in Deutschland wird das Bildungssystem der DDR derzeit erforscht. Während die Rostocker vor allem die sogenannten Pädagogischen Lesungen im Blick haben, durchleuchtet die Universität Hildesheim beispielsweise Bilderwelten in Kinderliteratur und Schulbüchern der DDR. Im Mittelpunkt steht dabei besonders das Verhältnis zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern. Die Berliner Humboldt-Universität hat schulische Lehrfilme von damals im Fokus. Und sie widmet sich den Bildungskooperationen der DDR mit Ländern wie Nicaragua, Mosambik und Finnland - Themen, mit denen sich die Wissenschaft bisher nur sehr am Rande befasst hat.