Dirk-Oliver Heckmann: Ein Spitzenkandidat, dem eine Woche vor der Bundestagswahl unangenehme Dokumente nachgewiesen werden – Jürgen Trittin und seine Grünen stecken in der Tat in einer unangenehmen Situation. Der Hintergrund: Trittin hatte in den 80er-Jahren ein Wahlprogramm einer Göttinger Gruppierung presserechtlich verantwortet, in dem unter anderem und zu bestimmten Bedingungen die Straflosigkeit von Sex mit Kindern gefordert wurde – ein Ergebnis einer Studie, die die Grünen selbst in Auftrag gegeben haben. Jürgen Trittin am Montag in der ARD:
"An den eigenen Maßstäben gemessen: Wir haben Fehler gemacht, wir klären diese Fehler rückhaltlos auf und wir erklären, dass es Fehler sind. Und ich finde, das ist der richtige Umgang mit den eigenen Fehlern, die man gemacht hat. Ich stehe dafür, dass ich diesen Fehler begangen habe!"
Heckmann: Soweit Jürgen Trittin am Montag in der ARD. Mein Kollege Martin Zagatta hat mit dem Politikwissenschaftler und Mitbegründer der Grünen, Hubert Kleinert, gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob er damals auch der Meinung gewesen sei, Sex mit Kindern sei in Ordnung.
Hubert Kleinert: Nein! Der Meinung bin ich in meinem Leben noch nie gewesen. Ich habe noch eine Erinnerung, eine eigene Erinnerung an das Auftreten dieser Indianerkommune da auf Grünen-Parteitagen. Ich fand das immer furchtbar. Als ich dann 1985, war das, glaube ich, mitbekommen habe, dass es denen gelungen war, ins Wahlprogramm der NRW-Grünen etwas reingestimmt zu bekommen, habe ich mich sehr aufgeregt. Nein! Ich habe mich auch furchtbar aufgeregt, als in der "taz", wie ich meine mich zu erinnern, mal so ein Pro-Päderasten-Artikel abgedruckt worden ist. Das muss auch um 1980 herum gewesen sein. Fand ich schrecklich!
Martin Zagatta: Lässt sich das noch erklären, warum Leute wie Joschka Fischer oder wie Sie, die ja zu den Realpolitikern gehört haben, warum sie sich daran nicht gestört haben?
Kleinert: Wir haben uns natürlich daran gestört. Was glauben Sie - ich habe es ja schon gesagt-, was ich mich daran gestört habe, als ich mal dieses Treiben der Indianerkommune auf einem Parteitag erlebt habe. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man die Polizei gerufen. Aber der damalige Bundesgeschäftsführer der Grünen war dazu nicht bereit. Die haben das Podium besetzt und eine ganze Weile ging gar nichts mehr auf dem Parteitag. Aber so war eben die Stimmung bei vielen, keine Repression, keine Polizei, und so ist das eben passiert.
Zagatta: Jetzt ist ja der Missbrauch von Kindern schon lange ein Thema, seit Monaten mindestens auch bei den Grünen. Wie glaubhaft ist denn auch für Sie da ein Spitzenkandidat wie Jürgen Trittin, wenn er sich, was da seine eigene Rolle angeht, jetzt auf Erinnerungslücken beruft?
Kleinert: Ich bin ja immer dafür, dass man die kritischen Maßstäbe, die die Grünen immer an andere anlegen, auch an die Grünen selber anlegt. Von daher will ich da überhaupt nichts kleiner reden, als es tatsächlich notwendig ist. Aber auf der anderen Seite würde ich auch sagen: Trittin ist wahrscheinlich – ich bin nicht in Göttingen dabei gewesen damals – in der Situation gewesen, in der nicht wenige bei den Grünen damals waren: Es gab einen unheimlichen Druck, alles Mögliche aufzunehmen in die Programme, was von irgendwelchen vermeintlich verfolgten oder wirklich politisch diskriminierten oder im Abseits stehenden Gruppen an Wünschen angemeldet worden ist. Und da hat man wohl, nehme ich an, in Göttingen jedenfalls eine viel zu große Nachgiebigkeit gezeigt. Und das muss sich Trittin sicher zurechnen lassen. Das hätte er so nicht machen dürfen. Ich glaube, Trittin hat dann einfach vermutlich irgendwie gedacht: Ich kann das nicht alles abwehren, dann lassen wir es halt durchgehen.
Zagatta: Das hat er ja mittlerweile auch eingeräumt, hat sich dafür entschuldigt, hat das als einen großen Fehler bezeichnet. Aber geht das denn, dass sich da ein Spitzenkandidat einer Partei jetzt auf Erinnerungslücken beruft?
Kleinert: Na ja, soweit ich das sehen kann, beziehen sich die Erinnerungslücken ja nur auf die Programmdetails. Und man darf jetzt auch nicht den Fehler machen zu denken, das sei damals eines der wichtigsten Themen bei den Grünen gewesen. Das war aus meiner Rückerinnerung eine höchst ärgerliche Randerscheinung.
Zagatta: Herr Kleinert, ganz, ganz klar. Aber wenn ich der Spitzenkandidat der Grünen bin, wenn diese pädophilen Strömungen schon ein solches Thema sind, dann muss ich doch mal nachgucken, ob ich da in der Vergangenheit etwas gemacht habe, das mich angreifbar macht. Das hätte Trittin doch in den zurückliegenden Wochen und Monaten tun müssen, oder nicht?
Kleinert: Das kann man sagen. Ja, das kann man ihm vielleicht auch vorhalten. Mindestens seitdem das ein Thema geworden ist, seit dem Frühjahr, haben ja viele, denke ich mal, angefangen, in ihren Erinnerungen zu kramen, ob da vielleicht mal irgendwas war, mit dem sie selber zu tun hatten. Das mag man ihm vorwerfen. Aber er hat sich entschuldigt. Der ganze Vorgang liegt Jahrzehnte zurück. Ich meine, dass das ausreichend sein muss.
Zagatta: Wie groß wird dann der Schaden sein, wenn er jetzt nicht zurücktritt? Danach sieht es ja auch aus. Wie sehr wird das den Grünen jetzt schaden bei der Bundestagswahl am Sonntag?
Kleinert: Nutzen wird es ihnen sicher nicht. Wie sehr es ihnen schadet jetzt in letzter Minute, vermag ich nicht genau abzuschätzen. Es hat natürlich auch ein bisschen ein Geschmäckle, wenn jetzt so in den allerletzten Tagen das dann zum Wahlkampfthema wird. Die Union haut da natürlich jetzt kräftig drauf. Die Grünen müssen schon damit rechnen, dass das eine gewisse Rolle spielt und dass das Ergebnis doch deutlich unter den Erwartungen bleibt.
Heckmann: Der Politikwissenschaftler und Mitbegründer der Grünen, Hubert Kleinert, war das im Gespräch mit Martin Zagatta. Die beiden haben gesprochen über die Pädophilie-Vorwürfe gegen Bündnis 90/Die Grünen und gegen Jürgen Trittin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"An den eigenen Maßstäben gemessen: Wir haben Fehler gemacht, wir klären diese Fehler rückhaltlos auf und wir erklären, dass es Fehler sind. Und ich finde, das ist der richtige Umgang mit den eigenen Fehlern, die man gemacht hat. Ich stehe dafür, dass ich diesen Fehler begangen habe!"
Heckmann: Soweit Jürgen Trittin am Montag in der ARD. Mein Kollege Martin Zagatta hat mit dem Politikwissenschaftler und Mitbegründer der Grünen, Hubert Kleinert, gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob er damals auch der Meinung gewesen sei, Sex mit Kindern sei in Ordnung.
Hubert Kleinert: Nein! Der Meinung bin ich in meinem Leben noch nie gewesen. Ich habe noch eine Erinnerung, eine eigene Erinnerung an das Auftreten dieser Indianerkommune da auf Grünen-Parteitagen. Ich fand das immer furchtbar. Als ich dann 1985, war das, glaube ich, mitbekommen habe, dass es denen gelungen war, ins Wahlprogramm der NRW-Grünen etwas reingestimmt zu bekommen, habe ich mich sehr aufgeregt. Nein! Ich habe mich auch furchtbar aufgeregt, als in der "taz", wie ich meine mich zu erinnern, mal so ein Pro-Päderasten-Artikel abgedruckt worden ist. Das muss auch um 1980 herum gewesen sein. Fand ich schrecklich!
Martin Zagatta: Lässt sich das noch erklären, warum Leute wie Joschka Fischer oder wie Sie, die ja zu den Realpolitikern gehört haben, warum sie sich daran nicht gestört haben?
Kleinert: Wir haben uns natürlich daran gestört. Was glauben Sie - ich habe es ja schon gesagt-, was ich mich daran gestört habe, als ich mal dieses Treiben der Indianerkommune auf einem Parteitag erlebt habe. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man die Polizei gerufen. Aber der damalige Bundesgeschäftsführer der Grünen war dazu nicht bereit. Die haben das Podium besetzt und eine ganze Weile ging gar nichts mehr auf dem Parteitag. Aber so war eben die Stimmung bei vielen, keine Repression, keine Polizei, und so ist das eben passiert.
Zagatta: Jetzt ist ja der Missbrauch von Kindern schon lange ein Thema, seit Monaten mindestens auch bei den Grünen. Wie glaubhaft ist denn auch für Sie da ein Spitzenkandidat wie Jürgen Trittin, wenn er sich, was da seine eigene Rolle angeht, jetzt auf Erinnerungslücken beruft?
Kleinert: Ich bin ja immer dafür, dass man die kritischen Maßstäbe, die die Grünen immer an andere anlegen, auch an die Grünen selber anlegt. Von daher will ich da überhaupt nichts kleiner reden, als es tatsächlich notwendig ist. Aber auf der anderen Seite würde ich auch sagen: Trittin ist wahrscheinlich – ich bin nicht in Göttingen dabei gewesen damals – in der Situation gewesen, in der nicht wenige bei den Grünen damals waren: Es gab einen unheimlichen Druck, alles Mögliche aufzunehmen in die Programme, was von irgendwelchen vermeintlich verfolgten oder wirklich politisch diskriminierten oder im Abseits stehenden Gruppen an Wünschen angemeldet worden ist. Und da hat man wohl, nehme ich an, in Göttingen jedenfalls eine viel zu große Nachgiebigkeit gezeigt. Und das muss sich Trittin sicher zurechnen lassen. Das hätte er so nicht machen dürfen. Ich glaube, Trittin hat dann einfach vermutlich irgendwie gedacht: Ich kann das nicht alles abwehren, dann lassen wir es halt durchgehen.
Zagatta: Das hat er ja mittlerweile auch eingeräumt, hat sich dafür entschuldigt, hat das als einen großen Fehler bezeichnet. Aber geht das denn, dass sich da ein Spitzenkandidat einer Partei jetzt auf Erinnerungslücken beruft?
Kleinert: Na ja, soweit ich das sehen kann, beziehen sich die Erinnerungslücken ja nur auf die Programmdetails. Und man darf jetzt auch nicht den Fehler machen zu denken, das sei damals eines der wichtigsten Themen bei den Grünen gewesen. Das war aus meiner Rückerinnerung eine höchst ärgerliche Randerscheinung.
Zagatta: Herr Kleinert, ganz, ganz klar. Aber wenn ich der Spitzenkandidat der Grünen bin, wenn diese pädophilen Strömungen schon ein solches Thema sind, dann muss ich doch mal nachgucken, ob ich da in der Vergangenheit etwas gemacht habe, das mich angreifbar macht. Das hätte Trittin doch in den zurückliegenden Wochen und Monaten tun müssen, oder nicht?
Kleinert: Das kann man sagen. Ja, das kann man ihm vielleicht auch vorhalten. Mindestens seitdem das ein Thema geworden ist, seit dem Frühjahr, haben ja viele, denke ich mal, angefangen, in ihren Erinnerungen zu kramen, ob da vielleicht mal irgendwas war, mit dem sie selber zu tun hatten. Das mag man ihm vorwerfen. Aber er hat sich entschuldigt. Der ganze Vorgang liegt Jahrzehnte zurück. Ich meine, dass das ausreichend sein muss.
Zagatta: Wie groß wird dann der Schaden sein, wenn er jetzt nicht zurücktritt? Danach sieht es ja auch aus. Wie sehr wird das den Grünen jetzt schaden bei der Bundestagswahl am Sonntag?
Kleinert: Nutzen wird es ihnen sicher nicht. Wie sehr es ihnen schadet jetzt in letzter Minute, vermag ich nicht genau abzuschätzen. Es hat natürlich auch ein bisschen ein Geschmäckle, wenn jetzt so in den allerletzten Tagen das dann zum Wahlkampfthema wird. Die Union haut da natürlich jetzt kräftig drauf. Die Grünen müssen schon damit rechnen, dass das eine gewisse Rolle spielt und dass das Ergebnis doch deutlich unter den Erwartungen bleibt.
Heckmann: Der Politikwissenschaftler und Mitbegründer der Grünen, Hubert Kleinert, war das im Gespräch mit Martin Zagatta. Die beiden haben gesprochen über die Pädophilie-Vorwürfe gegen Bündnis 90/Die Grünen und gegen Jürgen Trittin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.