Jasper Barenberg: Eine Woche nach den Durchsuchungen ist aus dem Fall Edathy eine veritable Regierungskrise geworden mit gegenseitigen Vorwürfen, einem Rücktritt und weiteren Rücktrittsforderungen. Die Union sieht jetzt die SPD am Zug, doch Parteichef Sigmar Gabriel sieht keinerlei Anlass für Konsequenzen. Der Nachfolger des gestürzten CSU-Agrarministers Friedrich ist inzwischen gefunden, beendet sind die Turbulenzen damit aber noch lange nicht.
Viele werden schockiert gewesen sein über die Art von Fotos und Filmen, die sich Sebastian Edathy in Kanada bestellt haben soll. Filme von Jungen, die nackt miteinander raufen oder im Wasser spielen, schockiert und möglicherweise auch verwundert darüber, wie genau Kriminalbeamte und Ermittler unterscheiden und unterscheiden müssen, was von dem Material pornografisch ist und was nicht.
"Ich war und ich bin nicht im Besitz von kinderpornografischem Material“, sagt Sebastian Edathy, und zwar vehement, während die Staatsanwaltschaft Hannover von Material im Grenzbereich spricht. Gibt es eine klare, eindeutig definierte Grenze, wann ein Bild harmlos ist und wann es sich um Pornografie handelt? Das hat mein Kollege Gerd Breker Michael Osterheider gefragt, Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg.
Michael Osterheider: Die Grenze ist da, wo Genitalien zu sehen sind, und auf der anderen Seite ist die Grenze dort, wo keine Genitalien zu sehen sind und die Kinder noch bekleidet sind.
Gerd Breker: Ist diese Grenze ein für alle Mal festgelegt, oder verändert sie sich auch mit dem Zeitgeist?
Osterheider: Das verändert sich alles mit dem Zeitgeist, wie wir ja erfahren haben in der letzten Zeit durch die Diskussion, die man auch nach der Post-68er-Generation hatte. Es ist so, dass man es heute auch zurecht deutlich strenger sieht. Es gibt einen fließenden Übergang und natürlich muss man annehmen, dass jemand, der sich in einem bestimmten Umfang Bildmaterial beschafft, wo die Kinder nicht bekleidet sind und in bestimmten Situation sich ausgezogen darstellen, natürlich ein gewisses Interesse hat, dieses Material zu bekommen.
Man könnte zusammenfassend auch sagen: Wenn jemand so etwas hat, dann ist nach unserer Erfahrung auch im Bereich der Projekte, die wir durchführen, es relativ sicher, dass ein Großteil derer, die solches nicht strafbewehrtes Material haben, auch in einem hohen Maße, ich schätze 70 bis 80 Prozent, auch anderes Material haben, also auch kinderpornografisches Material.
Breker: Was ist eigentlich das Besondere an der Darstellung von Kindern und Jugendlichen, jetzt im Vergleich zur Darstellung von Erwachsenen? Worin besteht dieser Reiz?
Osterheider: Wir unterscheiden da natürlich auch nach bestimmten Diagnosegruppen. Jemand, der eine pädophile Störung hat, der pädophil ist, ist jemand, der vorpubertäre Kinder sexuell attraktiv empfindet. Wir haben Erfahrungen aus den Therapieangeboten, die wir in den letzten Jahren auch bundesweit gemacht haben in dem Netzwerk "Kein Täter werden", und da sehen wir sehr deutlich, dass diejenigen Männer, die sich zu vorpubertären Kindern sexuell hingezogen fühlen, auch entsprechendes Material sammeln, also ins Internet gehen und sich solche Bilder auch beschaffen und anschauen.
Breker: Das heißt, man kann durchaus dann schon etwas Krankhaftes bei diesen Männern vermuten?
Osterheider: Das haben sich die Männer nicht freiwillig ausgesucht. Die merken dann irgendwann mal: Hoppla, ich bin jetzt nicht wie andere meiner Freunde auf gleichgeschlechtliche und altersadäquate oder nicht gleichgeschlechtliche Personen fokussiert, sondern ich fokussiere mich in meinem sexuellen Erleben im wesentlichen auf vorpubertäre Kinder. Und dann haben wir eine Situation, wo man davon ausgehen muss, dass das zum Beispiel Männer sind, die vornehmlich auch dadurch einen sexuellen Reiz empfinden.
Kaum pädophile Frauen
Frauen gibt es in diesem Kontext kaum. Das ist offensichtlich ein Problem von Männern, das postpubertär auftritt. In der Folge ist es natürlich wichtig, ob diese Männer Straftaten begehen oder nicht. Es ist eine besondere Form der Sexualität, bei denen diejenigen, die ihre Sexualität ausleben wollen, sich natürlich zwangsläufig strafbar machen.
Breker: Herr Osterheide, Sie haben die Initiative "Kein Täter werden" erwähnt. Das ist eine Anlaufstelle für Pädophile. Kann es also gelingen, präventiv tätig zu werden, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Osterheider: Wir wollen mit unserem Angebot deutlich machen, dass wir Männer, die spüren, dass sie eine pädophile Neigung haben, aufnehmen in ein Behandlungsprojekt, anonym und freiwillig, und diese Männer begleiten: mit Therapie, mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, möglicherweise auch mit triebhemmenden Medikamenten. Und wir haben in den letzten Jahren – wir haben mittlerweile sieben, acht Standorte in Deutschland – in diesem Netzwerk "Kein Täter werden" in der Bundesrepublik sehr gute Fortschritte gemacht, dass diese Männer, die behandlungsmotiviert sind, auch letztendlich dann ihre Neigung kontrollieren können.
Pädophile Störung bleibt ein Leben lang bestehen
Man kann aber das nicht therapieren in dem Sinne, dass die Therapie zum Ziel hat, dass diese Männer jetzt altersadäquate Frauen als attraktiv empfinden. Diese Störung bleibt das Leben lang so bestehen. Das ist das Erste, was wir den Männern in der Therapie mitteilen. Und wir können ihnen in der Therapie nur Handlungsalternativen anbieten, damit sie sozusagen keine strafbaren Handlungen begehen.
Breker: Herr Osterheider, gibt es Zahlen oder Schätzungen über die Dimension dieses Problems? Wie viele Männer sind betroffen?
Osterheider: Es gibt insofern Zahlen, sogenannte Prävalenz-Zahlen in dem Sinne, wie häufig ist so eine Störung, die relativ valide sind, also gut erfasst sind. Das heißt, ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, der männlichen Bevölkerung haben pädophile Neigungen. Das ist relativ viel. Darüber hinaus gibt es natürlich auch noch Männer, die nicht ausschließlich eine pädophile Neigung haben, und wenn man dann diese Mischgruppe sich anschaut, hat man auch mit denjenigen, die kinderpornografische Abbildungen benutzen, eine Gruppe von ungefähr zwei bis drei Prozent in der Bundesrepublik, die in diesem Kontext entsprechende Neigungen zeigen.
Barenberg: Der Psychiater Michael Osterheider im Gespräch mit meinem Kollegen Gerd Breker.
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