Stefan Heinlein: Der Online-Handel boomt. Eine wachsende Zahl der Verbraucher scheut den Weg in die Geschäfte und bestellt Waren bequem per Mausklick im Netz. Die Paketdienste sind deshalb mittlerweile am Limit und suchen händeringend nach Arbeitskräften, um die Flut der Bestellungen ausliefern zu können. Hier schlägt die Gewerkschaft Verdi jetzt Alarm: Es gäbe bei den Paketdiensten mafiöse Strukturen - Subunternehmer vor allem aus Osteuropa, die ihre Fahrer mit Dumpinglöhnen abspeisen. Dieser Vorwurf von Verdi-Chef Bsirske sorgte am Wochenende für einen heftigen Aufschrei der Branche. Es gehe alles mit rechten Dingen zu, so hieß es in erbosten Stellungnahmen – ein Streit, der durchaus Zündstoff bietet für arbeits- und sozialpolitische Debatten. Darüber möchte ich jetzt reden mit dem Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup, Sprecher der Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik. Guten Morgen, Herr Professor!
Heinz-Josef Bontrup: Guten Morgen.
Heinlein: Hat Frank Bsirske recht? Gibt es Mafia-Strukturen bei manchen Paketdiensten?
Bontrup: Das kann ich als Wissenschaftler jetzt aus der Ferne nicht beurteilen. Aber ich möchte es mal grundsätzlich sagen: Wir haben hier eine Gesellschaft bekommen, die immer mehr in den Dienstleistungssektor hineingelaufen ist, vor allen Dingen auch in personenbezogene Dienstleistungen, und da ist das eigentliche Problem. Die gesellschaftliche Transformation ist hier nicht gelungen. Die Dienstleistungen sind in Deutschland nach wie vor vom Preis weit unterbewertet. Das gilt auch nicht nur für die Paketdienste; das gilt für die Pizzaboten, das gilt für Bewachungsdienste. Da hatten wir vor kurzem ja auch einen größeren Konflikt. Das ist das eigentliche Problem.
In der Ökonomie ist es nun mal so, dass eine Branche oder auch Arbeit, die ja bezahlt werden muss, aus der Wertschöpfung zu bezahlen ist. Wenn die Wertschöpfung gering ist, weil wir alle letztlich nicht bereit sind, Dienstleistung adäquat zu bezahlen, dann ist der Verteilungsspielraum natürlich eng. Dann will natürlich das Kapital sich als erstes bedienen mit Gewinnen, die man in dieser Branche natürlich auch generieren will wie in anderen Bereichen auch. Dann wird der Lohn, dann wird das Arbeitsentgelt für die Menschen, die dort die Arbeit zu verrichten haben, zu einer Restgröße und dann sind wir, was wir beobachten können, bei diesen niedrigsten Löhnen, die in diesen Bereichen bezahlt werden. Deshalb hat es ja auch den gesetzlichen Mindestlohn gegeben. Der war notwendig. Der ist aber nach wie vor völlig unterbewertet. Zwölf Euro wäre sicherlich hier die richtige Orientierung. Da gibt es insgesamt noch viel zu tun.
Heinlein: Da gibt es in der Tat, Sie sagen es, in Deutschland eigentlich ganz klare Regeln, strenge Vorschriften, Mindestlohn und feste Arbeitszeiten. Wie kann es sein, dass bei Paketdiensten und anderen Dienstleistern, wie Sie sagen, diese Regeln möglicherweise offenbar nicht eingehalten werden?
Bontrup: Das ist auch die Not der Branche, wie ich schon sagte. Die Wertschöpfung ist gering, die Preise sind klein. Dann kann ich natürlich auch nur noch wenig verteilen. In der Ökonomie ist es nun mal so: Die Ökonomie ist immer eine Gleichung, und wenn hier diese Gleichung nicht mehr aufgeht, wenn die Wertschöpfung gering ist, die hier generiert werden kann an den Märkten, über die Preise, die dort zu holen sind – keiner will ja Dienstleistung in Deutschland bezahlen. Wir haben nach wie vor das Motto Geiz ist geil. Da können wir viele Bereiche nennen. Da will man nach wie vor für 29,50 Euro von Düsseldorf nach Mallorca fliegen. Da fragt sich keiner, wie dieser Preis zustande kommt. Das deckt ja nicht mal annähernd die Produktionskosten. Da muss es dann Menschen geben, die das gegenfinanzieren müssen, die dafür bitter bezahlen müssen, und das sind die Beschäftigten in diesen gesamten personenbezogenen Dienstleistungen. Das heißt, die gesellschaftliche Transformation ist in Deutschland überhaupt nicht gelungen.
"Arbeitsbedingungen sind in diesen Bereichen eine Katastrophe"
Heinlein: Wenn Verdi jetzt schimpft auf die Paketdienste, dann muss eigentlich der Verbraucher auch mit der anderen Hand auf sich selber zeigen, denn wir als Verbraucher haben auch eine Teilschuld, wenn wir im Netz bestellen, wenn wir die Pizza nicht mehr bei der Pizzeria essen, sondern sie bestellen, wenn wir Pakete bestellen. Wir kaufen diese Bequemlichkeit letztendlich auf dem Rücken der Paket- und Pizzaboten.
Bontrup: Absolut richtig. Das ist die Ausbeutung, die hier läuft. Wir müssen uns hier alle an die eigene Nase packen. Das geht so nicht weiter. Dienstleistungen sind anständig zu bezahlen und wenn diese nicht anständig bezahlt werden, dann muss jemand auf der anderen Seite dafür bezahlen, und das sind die Beschäftigten in dieser Branche, das schwächste Glied mit ihren Arbeitsbedingungen. Es ist ja auch nicht nur der Lohn, der hier niedrigst ist, sondern auch die Arbeitszeiten, die Arbeitsbedingungen sind in allen diesen Bereichen eine absolute Katastrophe. Jeder sollte darüber nachdenken, wenn er um 22 Uhr abends auf dem Sofa liegt und sich die Pizza ins Haus bringen lässt für 4,50 Euro, dass das jemand bezahlen muss. Und ich weiß, wer das ist, der das bezahlt: Das sind die Beschäftigten in diesen gesamten Bereichen.
Heinlein: Aber die Entwicklung ist ja noch nicht zu Ende, Herr Bontrup. Wenn der Verkehrsminister jetzt plant, den Fahrdienstmarkt, den Taximarkt zu liberalisieren, Uber zulassen wird, ist da schon absehbar, dass diese Branche auch künftig zu den prekär Beschäftigten gehört?
Bontrup: Absolut, und dieser Verkehrsminister versteht von Ökonomie überhaupt nichts. Er ist einseitig interessenorientiert, einseitig nur fürs Kapital. Das ist unerträglich. So kann man keine Politik machen. Wenn Politik so weitermacht - und die Vorboten sind ja im Land politisch da, wo wir angekommen sind -, dann befürchte ich weiter das Schlimmste. Wir müssen endlich zur Besinnung kommen, und wir, das sind die Menschen in diesem Land, in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist in Summe eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt. Da erwarte ich auch, dass die Menschen für harte Arbeit, die in diesem Land verrichtet wird, anständig bezahlt werden. Das ist leider nicht der Fall und ich kann mich nur wiederholen: Die Transformation von einem mehr industriellen Bereich - das beobachten wir in allen kapitalistischen Ländern - hin zu Dienstleistungsbereichen, zum tertiären Bereich, diese Transformation, die hängt ja auch mit Preisen zusammen, die hängt mit Produktivitäten zusammen, und diese Transformation ist gesellschaftlich nicht gelungen. Hier ist unbedingt politisch nachzuhelfen, hier ist massiver Nachholbedarf vorhanden. Sonst läuft uns das Ganze immer mehr aus dem Ruder.
"Von Leben kann man hier nicht reden"
Heinlein: Nach Ihren Beobachtungen, Herr Professor Bontrup, verabschiedet sich Deutschland immer weiter vom Ideal der sozialen Marktwirtschaft? Entsteht eine Art Schattenwelt, ein prekärer Arbeitsmarkt? Ist das letztendlich der Preis der Globalisierung?
Bontrup: Dieser prekäre Arbeitsmarkt ist längst da. Wir haben einen gigantischen Niedriglohnsektor. Jeder fünfte abhängig Beschäftigte, der harte Arbeit leistet in diesem Land, muss in diesem Niedriglohnsektor mittlerweile sein Leben fristen. Von Leben kann man hier nicht reden. Das ist unerträglich. Da müssen wir endlich zur Besinnung kommen. Das was wir an Zuwächsen haben an den Arbeitsmärkten – die Beschäftigung ist ja gestiegen, die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen -, das ist ein rein quantitatives Denken. Das blendet die Qualität der Arbeit völlig aus. Wenn wir die mit ins Boot holen, dann sind wir bei einem riesigen prekären Bereich in unserer Gesellschaft angekommen. Wer heute – das kommt ja noch obendrauf – nichts verdient, wer heute nur ein bescheidenes Einkommen hat und eigentlich arm ist trotz Arbeit, da weiß ich, dass der auch im Alter arm ist. Wir laufen in eine gigantische Altersarmut. Alle wissenschaftlichen Studien belegen das. Hier muss Politik endlich zur Besinnung kommen. Wir müssen nachhaltig das Ruder endlich herumreißen. Sonst bricht uns diese Gesellschaft in Deutschland, aber das ist auch nicht nur ein deutsches Problem, sondern sie bricht uns insgesamt in Europa völlig auseinander.
Heinlein: Haben Sie denn eine Alternative, Herr Professor? Wenn wir zu strenge Vorschriften haben, zu hohe Grundlöhne haben, dann wandern ja manche Branchen einfach weiter ins Ausland, ins benachbarte Ausland, wo dann weniger Geld gezahlt wird für die Arbeit.
Bontrup: Ja! Auch hier muss Europa entsprechend endlich Regularien einführen. Europa, die EU kann nicht neoliberal ausgerichtet sein. Sie kann nicht rein den Marktgesetzen gehorchen, so wie das ja der Fall ist. Sonst brauchen wir die EU nicht. Die EU ist dafür da, um Regeln zu schaffen, damit dieses gegeneinander ausspielen aufhört, dass ganze Nationen heute erpressbar geworden sind durch das Kapital, so nach dem Motto, wenn Du mir nicht niedrigste Löhne bietest, niedrigste Steuern bietest, dann wandere ich in ein anderes Land ab und dieses andere Land bietet das. Wenn Europa dies nicht endlich kapiert, die europäische Politik nicht endlich kapiert, dass dieser Markt-Wildwest im Grunde genommen zu beenden ist, durch Steuerdumping, durch Lohndumping, dann werden wir Europa auch nicht mehr in den Griff bekommen. Die Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik, wir werden jetzt in Kürze unser 44. Gegengutachten zum Sachverständigenrat vorlegen, der auch rein neoliberal denkt. Da haben wir dieses noch einmal aufgeschrieben. Wir schreiben uns seit Jahren, seit Jahrzehnten, hätte ich fast gesagt, die Finger wund, dass diese Marktradikalität, diese Marktradikalen, die immer noch in der Regierung sind, und nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, dass das endlich beendet werden muss.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Heinz-Josef Bontrup, Sprecher der Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Bontrup: Bitte sehr.
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