Friedbert Meurer: Über 140 Menschen sind getötet worden gestern bei der Terrorattacke im pakistanischen Peschawar. Die radikal-islamistischen Taliban haben sich zu dem Massaker in einer Schule auch schon bekannt. Das Entsetzen, dass Kinder in einer Schule gezielt angegriffen und umgebracht werden, das ist weltweit nicht nur in Pakistan riesengroß. Gibt es in diesem Land keine Handhabe gegen die islamistischen Terroristen? - Mein Kollege Dirk Müller hat gestern Abend darüber mit Guido Steinberg gesprochen, dem Terrorexperten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Dirk Müller: Über 130 Tote, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Gibt es für die Taliban keine Gewalttabus?
Guido Steinberg: Nein. Es gibt kaum Gewalttabus für die Taliban und man darf ja auch nicht vergessen, dass sie in diesem Ringen unter den terroristischen Organisationen um weltweite Aufmerksamkeit in Konkurrenz stehen zu anderen Organisationen wie zum Beispiel dem IS im Irak und Syrien, und da merkt man in den letzten Monaten, dass die Gewaltschraube enorm gedreht wurde. Wer also tatsächlich unsere Aufmerksamkeit haben will, der muss ganz, ganz große, ganz, ganz fürchterliche Anschläge verüben, und diese Lektion, die haben die pakistanischen Taliban schon lange gelernt.
Müller: Funktioniert Terror nur, wenn ich Sie richtig verstanden habe, mit internationaler Resonanz?
Steinberg: Terror funktioniert auch mit lokaler Resonanz. Das hängt davon ab, was die jeweiligen Kämpfer vor Ort wollen. Aber die pakistanischen Taliban haben in den letzten Jahren doch sehr deutlich gemacht, dass es ihnen nicht nur um die Resonanz in Pakistan geht, sondern dass es ihnen um weltweite Resonanz geht. Das letzte große Beispiel war der dann doch gescheiterte Angriff auf den Flughafen von Karachi, der großes Erschrecken bewirkt hat, der ja auch tatsächlich gezeigt hat, wie groß die Gefahr in Pakistan ist und der dieses Ziel erreicht hat. Nur mit solchen großen, sehr, sehr fürchterlichen oder Anschlägen auf die Transportinfrastruktur gewinnt man noch das Interesse in den USA, in der westlichen Welt.
Müller: Herr Steinberg, Sie sprechen hier vom Konkurrenzkampf zwischen den Organisationen. IS-Terroristen und Taliban-Terroristen befinden sich im Wettbewerb?
Steinberg: Ja, in gewisser Weise, zumindest insofern, als es um die Aufmerksamkeit in der westlichen Welt geht. Das ist bei IS sicherlich etwas ausgeprägter. Sie operieren näher an Europa. Aber auch die pakistanischen Taliban wollen der gesamten Welt zeigen, dass sie in der Lage sind, den pakistanischen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Sie haben auch darüber hinaus eine internationale Agenda und deswegen ist diese Aufmerksamkeit vor allem der Medien in der westlichen Welt, BBC, CNN, sehr, sehr wichtig.
Müller: Und wie ist es mit dem Wettbewerb innerhalb der islamischen Welt?
Steinberg: Nun, die pakistanischen Taliban spielen in gewisser Weise immer noch in der zweiten Liga, weil sie doch eine Organisation sind, die vor allem oder eigentlich nur in Pakistan aktiv ist, so ab und zu mal Aktivitäten in Afghanistan aufweisen kann, und das ist offensichtlich eine Situation, mit der die Führung der Organisation nicht ganz zufrieden ist. Es sind immer noch die arabischen Organisationen, also die Al-Kaida oder der IS im Irak und in Syrien, die in dieser internationalen Szene dominieren, und die pakistanischen Taliban haben immer mal wieder mit kleineren Anschlägen klar gemacht, dass sie das korrigieren wollen, dass auch sie eine Agenda haben, die über Pakistan hinausgeht.
Müller: Könnte denn diese Formel gelten, könnte diese Formel stimmen, dass wer am erfolgreichsten Terror macht die größte Anziehungskraft hat für diejenigen, die sich beteiligen wollen?
Steinberg: Nun ja, es hat sich sehr, sehr lange gezeigt, dass diejenigen besonders viel Anziehungskraft haben, die eine möglichst breite Agenda haben, die einerseits in der Lage sind, die USA und die westliche Welt zu gefährden, andererseits aber auch in den Heimatländern eine Kraft darstellen. Das Musterbeispiel dafür war Al-Kaida mit den Anschlägen in New York und Washington 2001, während doch gleichzeitig klar war, dass das immer noch eine arabische Organisation war, die in den Heimatländern operieren wollte und dann ja auch operiert hat. Die pakistanischen Taliban sind nun in gewisser Weise am anderen Ende des Kontinuums. Sie sind eher eine pakistanische Organisation, die noch nachweisen muss, dass sie tatsächlich in der Lage ist, ihren eigenen ideologischen Anspruch, über Pakistan hinaus aktiv zu werden, dem auch gerecht zu werden.
Müller: Blicken wir noch einmal nach Pakistan, Guido Steinberg, beziehungsweise auf Armee und Regierung. Wie wehrhaft sind die Sicherheitsbehörden in Pakistan?
Steinberg: Es ist eigentlich erstaunlich, dass die pakistanische Armee nun doch seit 2007, seit die pakistanischen Taliban zum ersten Mal in größerem Maßstab aufgetreten sind, nicht in der Lage ist, dieses Problem zumindest einzudämmen, und das liegt vor allem an der Politik der Pakistanis in den letzten Jahren. Sie haben nämlich die afghanischen Taliban seit 2001 und auch vorher gefördert. Sie haben geduldet, dass nach der amerikanischen Intervention 2001 die Afghanen in die Paschtunen-Gebiete an der pakistanisch-afghanischen Grenze sich zurückgezogen haben, und das hat zu einem Prozess geführt, den man Talibanisierung nennt, und das führte dazu, dass auch eine pakistanische Taliban-Bewegung entstanden ist, die jetzt aber nicht mehr ein willfähriges Instrument der Armeeführung ist, wie das die afghanischen Taliban immer noch sind, sondern die seit 2007 diesen pakistanischen Staat angreift. Hier ernten die pakistanischen Militärs, was sie gesät haben. Durch die Unterstützung der afghanischen Taliban haben sie ein enormes innenpolitisches Problem geschaffen und, wie wir jetzt sehen, eines, das durchaus in der Lage ist, die Stabilität des Gesamtstaates zu erschüttern.
Meurer: Guido Steinberg war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Terroranschlag gestern in Peschawar. Die Fragen hat Dirk Müller gestellt.
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