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Paläoanthropologie
Forscher rekonstruieren Bakteriengemeinschaften anhand von Zahnbelag

Alter Zahnstein kann viel darüber verraten, wie die Menschen früher lebten und welche Krankheiten sie hatten. Auf einer Konferenz der britischen Royal Society in London hat eine US-Wissenschaftlerin nun neue Ergebnisse dazu vorgestellt.

Von Christine Westerhaus |
    Dass es im Mittelalter noch keine Zahnbürsten gab, ist für Christina Warinner ein echter Glücksfall. Bis zu 600 Milligramm Zahnstein findet die Forscherin von der Universität von Oklahoma auf einem prähistorischen Gebiss. Heutzutage sind es nur noch um die 20 Milligramm, denn die oft gelblich verfärbten Ablagerungen gelten als hässlich und werden vom Zahnarzt regelmäßig entfernt. Das ist schade, findet Warinner. Denn die zu Stein gewordenen Plaques verraten, welche Bakterien einst im Mund ihrer Besitzer gelebt haben.
    "Zahnstein ist nichts anderes als mineralisierte Plaques und diese Plaques sind Teil der Bakterienflora im Mund. Diese orale Mikrobiota enthält sehr viele Informationen über den Gesundheitszustand eines Menschen, seine Lebensumstände und Aktivitäten. Als wir vor drei Jahren anfingen, den Zahnstein unserer Vorfahren mit genetischen Tests genauer zu untersuchen, wussten wir aber nicht, ob wir aus ihrem Zahnstein überhaupt irgendetwas würden ablesen können. Doch wir stellten fest, dass er eine unglaubliche Fülle von Informationen über die Bakteriengemeinschaften unserer Vorfahren enthält."
    Ihre bisherigen Untersuchungen haben Warinner und ihre Kollegen vor allem an einer Gruppe von Menschen durchgeführt, die während des Mittelalters in der Nähe des Klosters Dalheim im Kreis Paderborn gelebt haben. In diesem Fall hatten die Forscher Glück: Der Zahnstein dieser Menschen war der deutschen Ordnungsliebe noch nicht zum Opfer gefallen.
    "Sie werden sich wundern, aber als ich nun ein paar archäologische Institute besucht habe, um an Material zu kommen, stellte ich fest, dass dort offenbar standardmäßig der Zahnstein von den Gebissen entfernt und weggeschmissen worden war, weil die Forscher ihn als störend empfanden. Es war deswegen nicht so einfach für mich, an meine Proben zu kommen: Deshalb appelliere ich an alle Archäologen: Bitte, tut das nicht! Denn mit dem Zahnschmelz werden so viele wertvolle Informationen einfach weggeschmissen!"
    Warinner und ihren Kollegen ist es nicht nur gelungen, aus dem prähistorischen Zahnbelag die Erbinformationen der Bakterien zu gewinnen. Sie konnten die Mikroben anhand ihres genetischen Profils auch bestimmten Stämmen zuordnen und damit die einstige bakterielle Lebensgemeinschaft rekonstruieren. Dabei stellten sie auch Unterschiede zwischen Individuen fest, die in der gleichen Region gelebt hatten. Manche Menschen trugen offenbar andere Keime in ihrem Mund, als ihre Nachbarn.
    "Wir haben auch ein paar sehr interessante Bakterien gefunden, die heute unter bestimmten Bedingungen krank machen. Das verfolgen wir nun weiter. Wir wollen herausfinden, was das zu Lebzeiten dieses Menschen bedeutet haben könnte."
    Genaueres möchte die Forscherin bisher nicht verraten, denn die Ergebnisse ihrer Untersuchung sind noch nicht veröffentlicht. Klar ist aber, dass der prähistorische Zahnstein auch etwas darüber verraten kann, wie sich die Bakteriengemeinschaften der Menschen im Laufe der Evolution verändert haben. Beispielsweise, ob vielleicht wichtige Symbionten im Darm oder im Mund verloren gegangen sind, weil sich der Mensch heutzutage anders ernährt und unter völlig anderen hygienischen Bedingungen lebt, als noch im Mittelalter.
    "Bei manchen Bakterienstämmen ist das tatsächlich gezeigt worden. Bestimmte Mikroben sind im Darm von Menschen in der westlichen Welt nicht mehr nachzuweisen. In ländlichen Gebieten Afrikas und Südamerikas kommen sie dagegen noch häufig vor und auch in versteinerten menschlichen Kot-Überresten aus Mexico wurden sie gefunden. Die Frage ist nun: Hatten diese Bakterien eine bestimmte Funktion im Körper, die uns vielleicht heutzutage verlorengegangen ist? Und genau das wollen wir über Bakterien herausfinden, die einst in der Mundflora unserer Vorfahren gelebt haben."
    Gleichzeitig können Bakteriengemeinschaften auch etwas über den Gesundheitszustand eines Menschen verraten. Heute weiß man, dass die Mikrobiota im Darm von Patienten mit Typ II Diabetes verändert ist. Auch bei Patienten mit bestimmten Autoimmunerkrankungen finden Forscher andere Bakterien im Körper als bei Gesunden. Sowohl Diabetes als auch Autoimmunerkrankungen treten erst seit der Neuzeit häufiger auf. Der Vergleich mit den Bakteriengemeinschaften unserer Vorfahren könnte daher zeigen, welchen Einfluss die Mikroben auf die Entstehung solcher Zivilisationskrankheiten haben.
    "Wir hoffen, dass wir genau das zeigen können. Das Problem ist allerdings, dass wir noch nicht genau verstanden haben, was zu den Veränderungen in der Bakteriengemeinschaften führt, die wir heutzutage beobachten. Aber wenn wir erst einmal wissen, wie genau Stoffwechselkrankheiten und Bakteriengemeinschaften zusammenhängen, können wir auch bei unseren Vorfahren nachschauen, ob es diese Veränderungen damals schon gab."