Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton, trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß.
"Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig."
Sie töpfert einen Becher aus der Jungsteinzeit, aus dem dritten Jahrtausend vor Christus. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der Tongeschirr viel schneller fertig ist. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist aber Spezialistin für Gefäße aus früheren Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen "Glockenbecher", der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird.
"Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform."
Der "Glockenbecher" ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In Epochen, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten lebten? Haben Einwanderer neues Gedankengut mitgebracht oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende und Händler?
"Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen."
Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die man auf den Kopf gestellt hat: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der in eine weite Öffnung mündet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert und wurde im dritten Jahrtausend vor Christus wohl als Trinkbecher verwendet: Forscher haben in steinzeitlichen Glockenbechern minimale Rückstände von alkoholischen Getränken entdeckt. Vor allem aber dienten die Gefäße als repräsentative Beigabe für einen Toten. Archäologen finden sie in zahllosen Gräbern in ganz Europa: Es gibt kleine Abweichungen, aber imgrunde ist es immer eine eigene, charakteristische Art der Bestattung, zu der meist die gleichen Beigaben gehörten.
Glockenbecher dienten als Trinkgefäß und als Grabbeigabe
"In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt."
Viel weiß man nicht über diese Gemeinschaften aus der Jungsteinzeit, berichtet Philipp Stockhammer, Archäologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Krieger waren Bogenschützen, Lebensgrundlage war die Landwirtschaft: Die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Entscheidend für die Entwicklung der Glockenbecher-Kulturen war der Einfluss der Steppenhirten aus Osteuropa:
"Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männern waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden."
Es muss ein endloses, furchtbares Massaker an den eingesessenen Männern gegeben haben. Archäologische Belege dafür sind bisher nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich jedoch nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten.
Genetische Vermischung und kulturelle Weiterentwicklung
"Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten. "
Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich Gräber mit Glockenbechern rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit ins Grab. Offen war bisher aber, ob die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhängig von den Steppenhirten praktiziert wurde.
Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und Zähne von 400 Menschen aus Glockenbecher-Gräbern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht. Archäologen aus ganz Europa stellten dafür Skelettreste aus Magazinen der Bodendenkmalämter und Museen zur Verfügung. Die Analyse gehört zu den umfangreichsten Untersuchungen prähistorischer DNA überhaupt.
"Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann über Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein."
Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die Veränderungen im Genom der Europäer. Zugleich illustriert es die großen Fortschritte der Genforschung, erläutert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, der bei der Analyse mit Spezialisten für "Alte DNA" aus der halben Welt zusammengearbeitet hat. Solche Großprojekte sind möglich geworden, weil Millionen von Erbgut-Proben jetzt parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können, während Forscher früher aus einer DNA-Probe einzelne Abschnitte auswählen mussten.
"Das hat natürlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prähistorische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen."
Auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts fährt ein Roboter hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige Kanäle in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei wichtigsten neuen Verfahren: die "Library Preparation", der Aufbau einer DNA -Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt:
"Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. In diesen 'Adaptern', wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafür verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfältigen kann, dass ich sie später aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode."
Dank dieses "Strichcodes" sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar – und können im nächsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen untersucht werden. Die "Massive Parallele Sequenzierung", der zweite große Fortschritt, beruht auf einer eindrucksvollen technischen Verbesserung der Sequenziermaschinen: Statt eines DNA-Abschnitts können sie nun Millionen Sequenzen gleichzeitig bearbeiten. Das erleichtert gerade die Analyse alten Erbguts: Weil nun eine Fülle von Daten erzeugt wird, wirkt es sich nicht mehr dramatisch aus, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die Paläogenetik erlebt daher einen mächtigen, produktiven Boom.
Dank neuester Technik erlebt die Paläogenetik einen Boom
Die neue Technik wäre nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik: Für die Auswertung der gigantischen Menge Daten, die beim Parallelen Sequenzieren anfällt, mussten neue Programme erarbeitet und leistungsstärkere Rechner angeschafft werden.
"Es wird dann über bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst."
Den Wissenschaftlern haben sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten eröffnet: Weil sie nicht mehr vorab einen Abschnitt aus dem Erbgut für die Analyse auswählen müssen, können sie die komplette DNA mehrerer Individuen rekonstruieren und danach prüfen, wo die viel versprechenden Sequenzen liegen.
In Skelettresten aus Glockenbecher-Gräbern konnten sie das Erbgut der Steppenhirten fast immer nachweisen – allerdings nur bei der Bevölkerung aus Mittel- und Westeuropa. In den ältesten Gräbern, die um 2800 vor Christus in Spanien angelegt wurden, fand sich keine DNA der Einwanderer. Die Glockenbecher-Kulturen haben sich also nicht nur durch die Migranten aus dem Osten verbreitet, sondern zuvor schon von Mund zu Mund, als Ideentransfer, resümiert der Archäologe Stockhammer:
"Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-Phänomen an sich ist dann nicht durch großräumige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste großräumige Phänomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist."
Das Ergebnis liefert neuen Stoff für einen alten Streit. Lange schlossen Altertumswissenschaftler aus einem einheitlichen Fundensemble auf eine einheitliche Menschengruppe, ein "Volk". So sprach man von einem Glockenbecher-Volk. Oder man glaubte, überall wo eiserne Bratspieße und so genannte "Antennendolche" ausgegraben wurden, hätten einst Kelten gelebt. In den sechziger Jahren kamen aber Zweifel auf: Kann man tatsächlich aus gleichen Objekten schließen, das ein Volk sie hervorgebracht hat, Menschen mit der gleichen Signatur im Erbgut? Die Glockenbecher-Studie spricht dagegen, betont Stockhammer. Doch nicht alle Fachleute stimmen dem Archäologen zu. Der Genetiker Wolfgang Haak hebt hervor: Nur die ältesten, um 2800 vor Christus entstandenen Glockenbecher-Gräber in Spanien fallen nicht mit der großen Einwanderungswelle zusammen.
Verbreitung der Glockenbecherkultur als Zeichen eines Ideentransfers
"Wenn es jetzt nur um die Glockenbecher geht, die materielle Kultur, dann könnte man davon ausgehen, dass es ein Ideentransfer ist. Wenn man dann aber ab 2500 vor Christus betrachtet, wo es wirklich eine Ost-West-Bewegung ist, also auch innerhalb dieser Glockenbecher, da geht es wirklich einher. Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann später geht es wirklich 1:1 zusammen. Was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archäologische Sachkultur, das geht Hand in Hand."
Wurden die spanischen Funde, die 300 Jahre älter sind, wirklich zuverlässig datiert? Und, fragt Haak weiter: Lassen sich diese Gräber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren europäischen Forschungsprojekten zum dritten vorchristlichen Jahrtausend arbeitet, will das Phänomen nun in noch größerem Zusammenhang untersuchen: mit neuen archäologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen.
Weitere Forschungen bieten sich an, weil das Auftreten der Glockenbecher auch weitere Fragen auf wirft. Hinter der neuen Bestattungssitte stand mehr als nur eine andere Grabbeigabe: Eines Tages begannen die Menschen, ihren Toten die auffälligen Becher mit ins Grab zu geben, weil sie für sie eine Bedeutung hatten: Sie waren Ausdruck einer bestimmten Überzeugung, eines Glaubens. Welche Hoffnungen und Wünsche sich damit verbanden, lässt sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg: Sie verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen offensichtlich über weite Entfernungen mit einander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk.
"Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwärts, vorwärts, das ist ein Modell, das man mal prüfen müsste."
Glockenbecherkulturen standen in regem Austausch miteinander
Dieses Netzwerk bereitete einer Epoche machenden Innovation den Boden: der Herstellung von Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts hatten Menschen schon Kupfer verarbeitet, doch kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich. Legiert man Kupfer aber mit etwas Zinn, wird das Material härter, lässt sich gut bearbeiten und glänzt obendrein wie Gold: Das sind die Vorzüge der Bronze. Bronze ist allerdings nicht leicht herzustellen, denn Zinnvorkommen sind in Europa rar: Größere Lagerstätten finden sich nur im äußersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort ließen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele Archäologen vermuten, dass sie das Wissen über die Herstellung von Zinnbronze über den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer:
"Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die Zinnlagerstätten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-Phänomen eigentlich die entscheidende Triebfeder für die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frühe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-Phänomen fassen."
Die Frage, wie sich vor rund 5000 Jahren glockenförmige Tongefäße verbreiteten, wird der Forschung noch keine Ruhe lassen, denn sie liefert den Schlüssel zu einer neuen Epoche.