Tausende Raketen fliegen vom Gazastreifen aus auf israelisches Kerngebiet. Das israelische Militär führt Luftschläge gegen Ziele im Gazastreifen aus. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat sich bisher zufrieden mit dem Verlauf der Militäroperation in Gaza gezeigt. Er erklärte, man habe die Gegner um Jahre zurückgeworfen. Die Operation gehe so lange weiter, um Israels Bürgern Sicherheit zurückzubringen, sagte Netanjahu. Beobachter gehen aber von einem baldigen Ende der Kämpfe im Rahmen einer inoffiziellen Waffenruhe aus. Der internationale Druck auf die Konfliktparteien hatte zuletzt stark zugenommen. Im Gazastreifen sind knapp 50.000 Menschen vor den Bombardements in Schulen der Vereinten Nationen geflüchtet, wie ein Sprecher der UNO erklärte. Nach Angaben palästinensischer Behörden forderten die israelischen Angriffe bisher mehr als 200 Todesopfer, in Israel gab es seit Beginn der Kämpfe 12 Tote.
Khouloud Daibes ist Leiterin der Palästinensischen Mission in Deutschland. Im Deutschlandfunkt sagte sie, dass nicht nur eine Seite die Schuld für die Auseinansetzungen trage. "Ich möchte aber daran erinnern, dass dies seit 2008 der vierte Krieg auf Gaza ist", so Daibes, die den Rang einer Botschafterin bekleidet. Kinder in Gaza seien traumatisiert, es gebe tote Zivilisten zu beklagen, "und wir müssen jetzt die Spirale der Gewalt beenden".
Zugleich wies sie auf eine gravierende politische, wirtschaftliche und militärische Asymmetrie zwischen den Konfliktparteien hin." Es gebe ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse. "Das zeigt auch der Verlust der Menschenleben und bei der Infrastruktur." Kernprobleme seien die Besatzung und die mangelnde Umsetzung einer politischen Lösung. "Der Siedlungsbau ist völkerrechtswidrig, aber die Besiedlung wurde fortgesetzt", betonte Daibes. Der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden. Die strukturelle Gewalt der Besatzungsmacht Israels müsse aber von der internationalen Gemeinschaft als Problem erkannt werden.
Angesichts antisemitischer Parolen auf antiisraelischen Demonstrationen und von Übergriffen auf Synagogen in Deutschland sagte Daibes: "Wir sind gegen jede Art von Antisemitismus und Rassismus."
Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Jahrelang war es ruhig geblieben im Nahen Osten. Doch das ist seit gut einer Woche vorbei. Seitdem fliegen tausende Raketen vom Gazastreifen aus auf israelisches Kerngebiet. Das israelische Militär führt Luftschläge gegen Ziele im Gazastreifen aus. Auf beiden Seiten steigt die Zahl auch der zivilen Opfer und beide Seiten machen die jeweils andere für die Eskalation der Lage verantwortlich.
Gestern hatten wir an dieser Stelle Ayre Sharuz-Shalicar, einen Sprecher der israelischen Armee, hier im Programm. Wir im Deutschlandfunk legen natürlich Wert auf Ausgewogenheit und deswegen freue ich mich, die Gelegenheit zu haben, zu sprechen mit Dr. Khouloud Daibes. Sie ist ehemals Ministerin für Tourismus und Altertümer sowie Ministerin für Frauenangelegenheiten in der palästinensischen Autonomiebehörde gewesen. Seit 2013 ist sie die Leiterin der palästinensischen Mission in Deutschland im Rang einer Botschafterin.
Heckmann: Frau Daibes, ist an einem Konflikt immer eine Seite Schuld, also Israel?
Daibes: Auf keinen Fall, und das nutzt der einen Seite oder der anderen. Man muss auf beide Seiten gucken. Aber ich möchte gerne erinnern, das ist nicht die erste kriegerische Auseinandersetzung und Krieg aus Gaza. Seit 2008 ist das der vierte Krieg. Stellen Sie sich vor: Ein 13-jähriges Mädchen musste viermal Krieg erleiden. Die ist vor der Blockade auf Gaza geboren. Das heißt, sie kennt das Leben nur in dem abgeriegelten Gazastreifen. Die ist wie alle Kinder traumatisiert. Jetzt ist erste Priorität, die Gewaltspirale zu beenden.
Aber man muss auch die Asymmetrie nicht in den Hintergrund geraten lassen. Das heißt, es sind nicht zwei souveräne Staaten, die hier auf beiden Seiten beschrieben werden können. Es herrscht eine gravierende politische, wirtschaftliche und militärische Asymmetrie. Es gibt ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen. Das zeigen die Verluste auf beiden Seiten, sowohl bei Menschenleben als auch in der Infrastruktur. Und der Kontext, der große Zusammenhang darf auch nicht ignoriert werden. Das ist das Kernproblem und das ist die Besatzung. Das ist die mangelnde Umsetzung einer politischen Lösung. Das ist, dass wir nach jedem Krieg wieder zum Alltag zurückkehren, ohne die Wurzeln dieses Konfliktes zu lösen.
"Die Besiedlung wurde fortgesetzt"
Heckmann: Da schauen wir immer wieder intensiv drauf, Frau Botschafterin, in der Tat hier im Deutschlandfunk auch, auch mit Ihrer Hilfe natürlich. Sie haben gerade gesagt, man muss auf beide Seiten schauen. Welche Fehler macht die palästinensische Seite?
Daibes: Die palästinensische Seite – und ich vertrete ja hier die politische Führung – hat sich immer für die diplomatische, für die politische Arbeit eingesetzt, basierend auf Völkerrecht, auf die UN-Resolutionen, nicht zuletzt 2016 die Resolution 2334 (*), nach dem letzten Krieg in Gaza 2014, wo sehr klar entschieden wurde, dass zum Beispiel der Siedlungsbau völkerrechtswidrig ist, dass man den Status quo in Jerusalem aufrechterhalten soll.
Was ist passiert seit 2014? Die Besiedlung wurde fortgesetzt. – Was ist jetzt passiert im letzten Ramadan? Die Zwangsräumungen, die Veränderung der Struktur, der ökonomischen, wirtschaftlichen, kulturellen, historischen Zusammensetzung der Stadt Jerusalem. Guckt man auf die Westbank: Wir reagieren auf Aktionen wie zum Beispiel jetzt in Gaza in den letzten zehn Tagen, wobei wir auch vernachlässigen, dass es in der Westbank auch Auseinandersetzungen gibt mit der israelischen Armee, mit den Siedlern.
Heckmann: Darüber berichten wir hier im Deutschlandfunk auch. Das haben wir in unserer Berichterstattung drin.
Daibes: Dann muss man das auch nicht immer als Reaktion zeigen. Man muss auf die Aktionen der israelischen Besatzungsmacht schauen. Man darf nicht vergessen, hier geht es um eine Besatzungsmacht und ein besetztes Volk, ein Volk, das eigentlich für Unabhängigkeit, für Freiheit, für Gleichberechtigung steht. Sie sehen ja die Jugend, die mehrheitlich friedlich wochenlang demonstriert hat.
"Auch in kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es Rechtsnormen"
Heckmann: Pardon, Frau Daibes, wenn ich da einhaken muss, aber ich hatte Sie nach den Fehlern der palästinensischen Seite gefragt. Die ganzen Argumente, die Sie jetzt aufführen, kann das denn eine Rechtfertigung dafür sein, tausende Raketen loszuschießen, die bewusst Zivilisten treffen sollen und auch Zivilisten getroffen haben? Können Sie das rechtfertigen?
Daibes: Ich kann das nicht rechtfertigen. Auch in kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es Rechtsnormen im humanitären Völkerrecht, das besagt, dass die zivile Bevölkerung geschützt werden müsste. Und das sehe ich nicht in Gaza mit der exzessiven, absichtlichen, destruktiven Zerstörung in Gaza – die ganze Infrastruktur, die ja sowieso sehr minderwertig ist. Die Lebensqualität in Gaza ist ja bekannt für Sie als Journalisten und jetzt wird noch mehr zerstört. Ich kann es nicht rechtfertigen, dass so viele Kinder hier ihr Leben dafür geben. Und wie Ihr Sprecher gestern sagte, 70, 80 Prozent sind Hamas und Dschihad. Das stimmt nicht! Wir reden über, Stand von gestern, 61 Kinder, 36 Frauen, 16 ältere Menschen, Ärzte, mindestens zwei Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten. Wie kann man mir erklären, dass das nicht zivile Bevölkerung ist, die auch keinen Schutz hat.
Wenn Sie nach Fehlern fragen – ich kann Ihnen nur sagen, alle Instrumentarien, die uns zur Verfügung stehen, im Völkerrecht, haben wir versucht auszuschöpfen, bis zum Gerichtshof.
Heckmann: Das heißt, jetzt kann man Raketen abschießen?
Daibes: Nein! Dadurch haben wir auch nichts erreicht und dadurch hat die internationale Gemeinschaft, durch die Untätigkeit und nicht die Willigkeit bis jetzt. Warum kommen wir nicht zum Waffenstillstand? Warum tagt der Sicherheitsrat viermal und ist nicht in der Lage, wie bei anderen Konflikten ernsthaft zu handeln und erst mal einen Waffenstillstand zu erreichen oder diese Gewaltspirale zu unterbrechen, wie bei anderen Konflikten.
"Dieser Konflikt ist nicht militärisch zu lösen"
Heckmann: Das heißt, Sie distanzieren sich nicht von dem Raketenbeschuss durch die Hamas aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet?
Daibes: Das sollten Sie mich nicht fragen. Die Frage habe ich nicht gehört, wenn Sie israelische Vertreter hier fragen.
Heckmann: Doch, doch! Wir haben gestern ein Interview dazu gehabt und da wurden genau diese Fragen gestellt, und diese Fragen stellen wir natürlich auch der anderen Seite.
Daibes: Ich kann Ihnen meine Position erklären. Ich glaube fest daran, dass dieser Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann. Ich glaube fest daran, dass dieser Konflikt, die Besatzung nur durch eine politische ernsthafte Initiative, Friedensinitiative gelöst werden kann.
Heckmann: Aber distanzieren tun Sie sich nicht?
Daibes: Ich setze mich nicht dafür ein. Aber solange Menschen sterben, meine Leute sterben und ich da trauere, glaube ich, dass das nicht die richtige Frage heute ist.
Heckmann: Es ist schon die Frage, wie Sie zu dem Raketenbeschuss durch die Hamas stehen, Frau Botschafterin, ob Sie sich davon distanzieren oder nicht. Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie sich nicht distanzieren, oder verstehe ich Sie falsch?
Daibes: Ich möchte jetzt dieses Interview nicht nur auf diese Frage stellen. Ich möchte jetzt Ihnen sagen: Distanziert sich die israelische Regierung von diesen Angriffen in Gaza? Netanjahu protzt damit und hört niemandem zu, nicht mal auf die US-Administration, das zu stoppen, und er kriegt grünes Licht, um weiter zu töten und dass weiter Kinder ihr Leben verlieren. Ich finde, wir müssen jetzt ernst darüber reden. Erste Priorität: Wie können wir weitere Menschenleben schützen? Wie ist das mit der kollektiven Verpflichtung zum Frieden? Wie sieht es damit aus? Warum sind immer wir Palästinenser hier angefragt, dass wir uns rechtfertigen müssen? Wir sind diejenigen, die unter Besatzung sind.
Gucken Sie mal: Was passiert in Jerusalem, mit den Palästinensern in Jerusalem? Sie werden regelrecht diskriminiert, vertrieben, von Siedlern und Nationalisten bedroht. In der Westbank haben wir über 23 Tote und fast 6000 Verletzte in den zwölf Tagen. In Israel selbst demonstrieren Palästinenser gegen die systematische Diskriminierung. Ich distanziere mich von jeder Gewalt, aber ich will auch darauf hinweisen, die strukturelle Gewalt der Besatzungsmacht Israel, das darf auch nicht mehr toleriert werden. Das braucht sehr aktives Handeln seitens der internationalen Gemeinschaft.
"Wir sind gegen jede Art von Antisemitismus und Rassismus"
Heckmann: Lassen Sie mich noch eine Frage stellen, Frau Daibes. In Deutschland kam es in den vergangenen Tagen zu propalästinensischen und antiisraelischen Demonstrationen, wo auch antisemitische Parolen gerufen wurden. Da wurde gefordert, Palästina zu befreien, vom Fluss bis zum Meer. Das Existenzrecht Israels wurde negiert. Was ist Ihre Botschaft an Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Demonstrationen?
Daibes: Die Solidarität jetzt nicht nur in Deutschland – gestern sind sogar in den USA Zehntausende auf die Straße gegangen -, das ist mehrheitlich die Jugend, die palästinensische Jugend, aber auch die Jugend der Welt, die für Menschenrechte sich einsetzen. Palästina soll keine Ausnahme sein. Wenn es eine systematische Entrechtung der Palästinenser gibt, muss man in der Lage sein, …
Heckmann: Es wurden Synagogen angegriffen in Deutschland, Frau Botschafterin.
Daibes: Ich sage Ihnen, wir sind gegen jede Art von Antisemitismus und Rassismus, und wir setzen uns dafür ein. Aber ich lehne es ab, antiisraelische Proteste zu sagen. Es geht hier um eine Besatzungsmacht, die ein anderes Volk mit Gewalt besetzt und völkerrechtswidrige Maßnahmen systematisch über Jahrzehnte gegen die Palästinenser einsetzt, und dagegen protestieren die Menschen. Vorfälle, wenn es antisemitische Parolen gibt, das lehnen wir ab und wir arbeiten mit unserer Jugend, auch zu differenzieren, wie sie ihre Wut, ihre Parolen verfassen, dass sie nicht gegen Juden ausgerechnet sind, sondern gegen die israelische Politik, gegen die menschenrechtswidrige Politik der Besatzungsmacht und nicht gegen Juden. Im Übrigen sind auch viele Juden auf den Straßen, die mit uns sehr eng arbeiten. Deswegen ist es auch unsere Verpflichtung, das nicht zuzulassen. Aber die Demonstrationen als antisemitisch abzustempeln, ist auch eine Verharmlosung dieser großen Solidarität der Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, egal wo, und ich denke, wir müssen auch unsere Terminologie ändern, dass wir die Sachen beim Namen nennen und – auch das gilt für Israel – alles mit allem Respekt in Einklang bringen, mit Respekt der Menschenrechte.
(*) Die Interviewpartnerin hat in der Audio-Fassung dieses Gesprächs versehentlich eine falsche Resolution genannt. Wir haben den Fehler im Online-Text korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.