Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt Salah Abdel-Shafi. Er war palästinensischer Botschafter in Berlin und leitet jetzt die Vertretungen Palästinas in Wien und in Slowenien. Schönen guten Morgen, Herr Abdel-Shafi!
Salah Abdel-Shafi: Guten Morgen!
Armbrüster: Wollen die Palästinenser noch Frieden mit Israel?
Abdel-Shafi: Wir wollen seit langem Frieden, denn Palästinenser wollen am meisten Frieden, damit wir endlich in unserem eigenen Staat in Freiheit und Würde leben können.
Armbrüster: Warum dann diese Gewalt an der Grenze zu Israel?
Abdel-Shafi: Gewalt, weil Gaza das größte Gefängnis der Welt ist, wo zwei Millionen Menschen eingeschlossen sind, wo Israel alles kontrolliert. Übrigens hat die UNO in einem Bericht gesagt, in zwei Jahren, in 2020, wird der Gazastreifen unbewohnbar sein. Und deswegen protestieren die Menschen für die Freiheit, aber auch für Menschenrechte, und dass sie ein normales Leben führen können.
"Deswegen spricht man von Kriegsverbrechen"
Armbrüster: Und sind Molotowcocktails und Sprengsätze legitime Formen des Protests?
Abdel-Shafi: Erstens: Widerstand gegen Besatzung ist legitim nach internationalem Recht, nach Völkerrecht. Zweitens: Ich glaube nicht, dass das Leben der israelischen Soldaten je in Gefahr stand. Und deswegen glaube ich, dass das Schießen auf Demonstranten von israelischer Seite unverhältnismäßig ist. Und zweitens, wie gesagt, das Leben der Soldaten war nie in Gefahr. Und deswegen spricht man von Kriegsverbrechen.
"Die Menschen haben das Recht, zu demonstrieren"
Armbrüster: Entschuldigen Sie ganz kurz, Herr Abdel-Shafi, aber ein explodierender Molotowcocktail ist keine Gefahr für das Leben?
Abdel-Shafi: Schauen Sie mal, Sie kennen die Situation vor Ort nicht. Ich glaube, die Demonstranten sind mindestens 200 Meter entfernt von den Soldaten. Und deswegen, ich glaube nicht - es geht nicht um Kugelstoßen hier. Ich glaube nicht, dass hier ein Demonstrant in der Lage ist, einen Molotowcocktail über eine Entfernung von mindestens 200 Metern zu werfen. Ich glaube, die Menschen haben das Recht, zu demonstrieren. Das ist legal, wie gesagt, nach Völkerrecht. Aber Scharfschützen aufzustellen, die gezielt auf Demonstranten schießen, das ist ein Kriegsverbrechen. Ich glaube, es gibt im Netz genug Video-Images, die zeigen, wie die Scharfschützen gezielt auf Kinder - das hat die ganze Welt gesehen. Und deswegen, das hat heftige Reaktionen weltweit hervorgerufen, einschließlich von Deutschland, das sie aufgerufen hat, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu achten.
"Geht nicht darum, dass man Kinder zu den Grenzen schickt"
Armbrüster: Aber warum schicken die Palästinenser denn überhaupt Kinder zu diesen Protesten? Es ist ja zu erwarten, dass es dabei zu einer Eskalation kommt.
Abdel-Shafi: Nein, das ist nicht zu erwarten. Ein Staat, der von sich selbst behauptet, zivilisiert und demokratisch zu sein, darf zulassen, dass die Menschen demonstrieren. Das ist ein Volksaufstand, das ist ein Schrei nach Freiheit. Und es geht nicht darum, dass man Kinder zu den Grenzen schickt. Alle haben das Recht, zu demonstrieren, friedlich zu demonstrieren. Und wenn das Leben der Soldaten nicht in Gefahr steht - das ist ein Grundprinzip -, wenn das Leben nicht in Gefahr steht, dann dürfen auch Soldaten nicht auf Demonstranten schießen. Das ist nicht nur eine palästinensische Position, das ist inzwischen eine europäische Position. Gestern gab es ein Statement von Federica Mogherini, die auch Israel aufgerufen hat, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu achten. Das sagt Deutschland, Belgien hat den israelischen Botschafter einbestellt, Irland hat den israelischen Botschafter einbestellt. Ich glaube, das sind alles Zeichen dafür, dass die Welt gesehen hat, dass Israel dieses Prinzip missachtet hat.
"Es geht hier nicht um die Hamas"
Armbrüster: Das heißt, Herr Abdel-Shafi, Sie sind da komplett mit der Hamas, die ja im Gazastreifen regiert, komplett mit dieser Organisation auf einer Linie.
Abdel-Shafi: Nein. Wer hat gesagt, dass wir mit der Hamas auf einer Linie sind? Erstens, diese Demonstrationen waren und sind eine Initiative der zivilen Gesellschaft in Gaza. Israel versucht, das der Hamas anzuhängen, um ihre Gräueltaten zu rechtfertigen. Es geht hier nicht um die Hamas. Es geht wie gesagt um zwei Millionen Menschen, die eingeschlossen sind durch Israel. Sie dürfen sich nicht bewegen. Es gibt keine genügende Gesundheitsversorgung, die Wasserqualität ist sehr schlecht. Wie gesagt, die UNO sagt, dieser Platz, der Gazastreifen heißt, wird in zwei Jahren unbewohnbar sein. Und deswegen, das Recht der Menschen, dagegen zu protestieren, muss gewahrt werden. Das hat mit der Hamas nichts zu tun.
"Dass Hamas das unterstützt, ist normal"
Armbrüster: Das heißt, die Hamas hat hier überhaupt keine Funktion bei diesen Protesten? Das war ein spontaner Ausbruch von Demonstration?
Abdel-Shafi: Das war nicht ein spontaner Ausbruch, das war eine organisierte Initiative der zivilen Gesellschaft in Gaza. Dass Hamas das unterstützt, das ist normal. Wir unterstützen das auch. Wir müssen auch das Recht der Menschen auf Demonstrationen unterstützen.
Armbrüster: Herr Abdel-Shafi, es gibt jetzt viele Kritiker, die sagen, da stand sehr wohl die Hamas dahinter, da gibt es doch deutliche Anzeichen dafür, deutliche Belege, und vor allen Dingen, dass die Hamas auch mit sehr unlauteren Mitteln operiert. Unter anderem mit menschlichen Schutzschilden. Sie haben es angesprochen. Auch mit Frauen und Kindern, die dort mit in diese Proteste reingebracht werden.
Abdel-Shafi: Menschliche Schutzschilder - wovor?
"Menschen demonstrieren auf palästinensischem Boden"
Armbrüster: Da ist nichts dran?
Abdel-Shafi: Nein. Menschliche Schutzschilde, wovor zu schützen? Die Menschen demonstrieren auf palästinensischem Boden. Das ist die Frage. Menschen als Schutzschilde? Wovor? Und israelische Soldaten, von Israel aus, Scharfschützen, schießen auf diese Demonstranten. Es ist doch klar. Dieser Versuch, das Hamas anzuhängen, um zu rechtfertigen, dass Israel ein Massaker anrichtet - ich glaube, das ist wirklich daneben.
"Israel muss zur Rechenschaft gezogen werden"
Armbrüster: Es gibt jetzt viele, die sagen, jedes Land würde auf eine solche Grenzverletzung militärisch reagieren. Jedes Land würde auch mit Soldaten anrücken, wenn an der Grenze Molotowcocktails geschmissen werden, wenn Grenzzäune zur Explosion gebracht werden.
Abdel-Shafi: Ich glaube nicht. Noch mal: Wir haben in Europa gesehen, wie Hunderttausende Flüchtlinge illegal über die Grenze gekommen sind. Wir haben in keinem Land gesehen, dass irgendein europäischer Soldat auf diese Flüchtlinge geschossen hat. Und die haben die Grenze illegal überquert. Noch mal, es geht darum, dass Menschen auf palästinensischem Boden demonstriert haben, dass das Leben der Soldaten nie in Gefahr war, und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit missachtet wurde. Man muss Klartext reden. Israel muss zur Rechenschaft gezogen werden. Die Maßstäbe müssen auch für Israel gelten. Und wenn Israel nicht zur Rechenschaft gezogen wird, dann wird Israel weiterhin Massaker anrichten in den palästinensischen Gebieten.
"Beendigung der israelischen illegalen Besatzung"
Armbrüster: Abgesehen von der Rechenschaft, was können Sie denn anbieten, Herr Abdel-Shafi, wie kann es mit dem Friedensprozess noch weitergehen?
Abdel-Shafi: Wissen Sie, wir müssen nicht das Rad neu erfinden, um zu wissen, wie man diesen Konflikt löst. Die ganze Welt sagt, es muss zwei Staaten geben, einen Staat Palästina neben dem Staat Israel. Das ist unsere Position, das ist die europäische Position, das ist die russische Position, das ist die chinesische Position. Das ist die Position der ganzen Welt. Es geht darum, diese Lösung umzusetzen, und das bedeutet die Beendigung der israelischen illegalen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Nur dann wird es Frieden geben. Das ist, was wir anzubieten haben, und nur dann wird es wieder Ruhe und Ordnung geben. Aber solange Israel darauf behaart, unsere Gebiete, unser Land völkerrechtswidrig zu besetzen, wird es weiterhin Widerstand geben.
Armbrüster: Hier bei uns in den "Informationen am Morgen" war das Salah Abdel-Shafi, der ehemalige Botschafter Palästinas in Berlin. Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.