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Palliativmedizin
Manuskript: Leben vor dem Tod

Die Palliativmedizin hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen großen Aufschwung erlebt. Im Gegensatz zur kurativen Medizin hat sie nicht die Verlängerung des Lebens im Blick. Aber auf welchen Grundlagen wird entschieden, wann das Ziel einer Behandlung nicht mehr die Heilung ist?

Von Lydia Heller |
    "Ich bin Hannelore Denk. Ich bin 67. Ich bin hier, weil ich Krebs im Endstadium hab."
    Hamburg-Altona, Hospiz im Helenenstift. Freitag. Später Nachmittag.
    "Tag, Frau Denk!"
    "Tag!"
    "Ich wollte einfach von Ihnen hören: ‚Wie geht’s Ihnen?"
    "Ja…"
    Hannelore Denk: "Ich war ja jetzt im Krankenhaus, eine Woche auf der Intensivstation. Ich versteh‘ das immer noch nicht. Warum wollten die meinen Lungenkrebs punktieren? .Ich hab ja auch Lungenkrebs. Aber der lässt mich in Ruhe. Dann wollten die da punktieren! Ja, warum? Dann hab ich gefragt, ob sie nicht wissen, woher ich komme? Aus einem Hospiz! Ich bin da, weil ich unheilbar krank bin und sterbe!"
    Hannelore Denk:"Die Männer haben mich doof angeguckt. Weil ich gesagt habe: 'Sie operieren an meinem Körper nicht mehr rum!' Was Sie da richtig spüren, ist, dass die Kenntnisse darüber, was steht für einen Patienten mit einer so fortgeschrittenen Erkrankung im Mittelpunkt - diese Kenntnisse sind noch immer sehr wenig verbreitet."
    Hannelore Denk: "Ich habe Krebs im Endstadium, aber wo der Hauptherd sitzt, wissen sie nicht. Deshalb ist das so schwierig diesen Krebs zu behandeln. Ich habe 21 Chemos über mich ergehen lassen. Und ich sollte wieder mit einer neuen Chemo anfangen. Und dann hab ich gesagt, ich will das nicht mehr. Schmerzen, Übelkeit, die Haare fallen aus – nee. Ich werde ja nicht geheilt! Dann möchte ich die Zeit, die ich hab, in Ruhe verbringen."
    "Wir können nichts mehr für Sie tun." -- Wie ungeheuerlich scheint dieser Satz in einer Zeit, in der alles machbar scheint: Haben wir uns etwa nicht gesund ernährt? Nicht geraucht? Waren bei Hautscreening, Darmspiegelung und Vorsorgeuntersuchungen von Brust und Prostata? Gibt es nicht hochspezialisierte Operationen, Chemo- und Gentherapien, Organtransplantationen? Lässt sich nicht immer irgendetwas machen? Doch. Wenn anerkannt wird, dass es Krankheiten gibt, die auch die moderne Medizin nicht heilen kann – und Krankheitsverläufe, die sie nicht aufhalten kann. Dann können Mediziner noch eine Menge tun. Sie können palliativ behandeln.
    Anfangs belächelt
    Es sind vor allem Mediziner und Pflegekräfte in Großbritannien, Kanada und Skandinavien, die etwa ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt beginnen, schwerkranken Menschen – meist Krebspatienten – palliativmedizinische Versorgung anzubieten. Zunächst oft ehrenamtlich in Hospizen, später auch in Krankenhäusern.
    "Als die Palliativmedizin Mitte der 80er Jahre in Deutschland begann, wurde das sehr belächelt: ‘Ach, Ihr haltet ja nur Händchen und das ist überhaupt keine medizinische Betreuung, was Ihr zur Verfügung stellt.'"
    Claudia Bausewein, Professorin für Palliativmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, gehört Anfang der 1990er Jahre zur ersten Generation von Medizinern in Deutschland, die die Situation unheilbar kranker Menschen systematisch erforschen. Inzwischen gibt es mehrere Hundert Palliativstationen und Hospize, mehr als 7000 Ärzte haben sich zum Palliativmediziner qualifiziert. Das Fach entwickelt sich rasant – und es verändert sich.
    "Wir haben einen steigenden Bedarf an palliativmedizinischer Betreuung, weil Menschen werden immer älter, sie werden immer kränker, also komorbider. Sie werden länger mit Erkrankungen leben. Also, längeres Leben heißt ja in der Regel mit Krankheit länger leben."
    Palliativmediziner haben heute auch Patienten mit Herzerkrankungen im Blick, mit chronischen Lungenleiden oder neurologischen Störungen. Und es geht ihnen um mehr, als Menschen in den Tod zu begleiten.
    Bausewein: "Da gibt es eine ganze Reihe von Menschen, wo keiner daran denkt, dass die daran sterben werden. Aus der klinischen Erfahrung wissen wir, dass palliativmedizinische Betreuung auch bei diesen Nicht-Tumorpatienten sinnvoll ist. Aber wir müssen auch den Nachweis dazu liefern."
    "...bezüglich der Schmerzen hatte ich auch mit ihr gesprochen…"
    Hamburg-Altona, Hospiz im Helenenstift. Freitag. Nachmittag. Palliativmedizinerin Maja Falckenberg spricht mit einer Pflegerin über Hannelore Denk. Was wünscht sie? Wie können sie helfen?
    "Ja, sie hatte zweimal 200 Mikrogramm Abstral bekommen."
    "Hm."
    Maja Falckenberg: "Das ist ein Opiat, ein stark wirksames Schmerzmittel. Das setzen wir bei Schmerzspitzen ein, bei Tumorpatienten. Schmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden, etwa 90 Prozent der Patienten haben Schmerzen."
    Hannelore Denk: "Schmerzen sind das Schlimmste. Und hier weiß ich, ich werde schmerzfrei gehalten. Also – geht mir das gut!"
    Maja Falckenberg: "Es ist wirklich so für die Patienten: Wenn die die Angst vor körperlicher Qual verlieren, dann entwickeln sich Hoffnungen: Noch einmal wieder etwas essen zu können, was einem geschmeckt hat, das Enkelkind noch einige Wochen länger zu sehen – das sind so die Hoffnungen."
    Schmerzen sind der häufigste Grund, aus dem lebensbedrohlich erkrankte Menschen – meist Krebspatienten – in Hospizen und auf Palliativstationen aufgenommen werden. Um sie zu lindern, sind in den letzten Jahrzehnten Opiate immer bedeutender geworden, vor allem Morphin und Morphin-Derivate. Schmerzen am Lebensende ließen sich damit soweit reduzieren, dass "ein Sterben mit Schmerzen eigentlich nicht befürchtet werden muss", schreibt der deutsche Palliativmediziner Hans-Christof Müller-Busch in seinem Buch "Palliativmedizin und die Ethik des Sterbens." Die Wirklichkeit jedoch sieht oft anders aus.
    WHO-Empfehlungen nicht überall umgesetzt
    Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits Ende der 1980er Jahre Empfehlungen zur Schmerztherapie mit Morphin veröffentlicht. Danach werden – je nach Art und Intensität der Schmerzen – vier Stufen unterschieden; für jede Stufe werden bestimmte Schmerzmittel zur Behandlung vorgeschlagen. Wirken sie nicht mehr ausreichend, werden die stärker wirksamen Mittel der nächsten Stufe empfohlen. Obwohl das WHO-Stufenschema sich vielfach bewährt hat, wird es nicht überall anerkannt.
    Stein Kaasa: "Viele Kliniker wenden die bestmöglichen Methoden gar nicht an. In einigen europäischen Ländern gibt es strikte Grenzen für den Einsatz von Opiaten bei der Schmerzbehandlung. Zum Beispiel, wie viele Opiate ein Patient verschrieben bekommen darf und für wie lange. Es gibt eine Art Opioid-Angst – im Gesundheitswesen, bei Patienten und deren Familien und in der Gesellschaft allgemein. Viele fürchten, dass Patienten davon süchtig werden könnten. Aber das ist falsch."
    Richtig ist: Nicht allen Patienten helfen Opiate gleich gut. Bestimmte Präparate können etwa bei Frauen anders wirken als bei Männern, jeder Patient kann andere Toleranzen entwickeln. Professor Stein Kaasa, Chef des Europäischen Forschungszentrums für Palliativmedizin am Universitätshospital Trondheim, sucht seit rund zehn Jahren nach den zugrunde liegenden Mechanismen:
    "Wir haben herausgefunden, dass ein Mix aus verschiedenen genetischen Voraussetzungen die unterschiedliche Wirkung von Opioiden erklären kann, individuelle, genetische Variationen. Aber die Daten, die wir haben, sind bisher nicht so klar, dass wir daraus Empfehlungen für klinische Anwendungen ableiten könnten. Deshalb suchen wir weiter. Wir müssen verstehen, welche Patienten es sind, die besser auf Behandlungen ansprechen als andere."
    Schmerzspezialisten wie Professor Lukas Radbruch vom Zentrum für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn-Rhein-Sieg weisen zudem darauf hin, dass oft keineswegs eindeutig ist, ob Schmerzen von Patienten tatsächlich durch deren Krankheit verursacht werden – oder durch die Behandlung.
    "Typisches Beispiel ist, dass wir Patienten haben, die von ihrem Tumor Schmerzen haben, aber gleichzeitig sind vielleicht durch die Chemotherapie Nervenschäden entstanden. Und die Frage ist jetzt, die Schmerzen, liegt das daran, weil der Tumor auf den Nerv drückt? Oder sind das Schäden durch die Chemotherapie?"
    Am Universitätsklinikum Bonn arbeiten Mediziner derzeit an präziseren Methoden zur Schmerzmessung. Tests, in denen etwa Hitze- und Druckempfindlichkeit geprüft werden und der Hauptort der Schmerzentstehung bestimmt werden soll: Ist es ein krankes Organ? Ist die Übertragung der Schmerzreize gestört? Oder sind Mechanismen der Schmerzhemmung im Gehirn beschädigt?
    "Dann kann man ein Profil erstellen, wo man sagt: Hier sind Nervenfasern geschädigt, das ist typisch für Chemotherapie und dann müsste man dafür die Behandlung einstellen. Das erlaubt eventuell dann auch, dass man die Therapie gezielter auf die Schmerzursache abstimmen kann. Aber dafür fehlen noch eine Reihe von Untersuchungen."
    Schmerztherapie oft ein Kommunikationsproblem
    Eine gute Kontrolle von Schmerzen hängt letztlich immer auch vom Verhältnis zwischen Arzt und Patienten ab. Das aber ist oft verbesserungswürdig: Stein Kaasa hat Krebspatienten mehrerer europäischer Länder gefragt, ob sie meinen, dass Ärzte ihre Schmerzen ausreichend lindern. Die Hälfte der Befragten fühlte sich ungenügend behandelt.
    "Wir haben die Daten mit Studien verglichen, in denen geprüft wurde, wie oft Patienten mit der als optimal geltenden Methode gegen ihren Schmerz behandelt wurden. Danach erhalten angeblich 90 Prozent die bestmögliche Schmerztherapie. Wir haben also eine Lücke von rund 40 Prozent zwischen der Wirklichkeit nach Studienlage und der Wirklichkeit im Alltag der Patienten! Das ist auch ein Kommunikationsproblem! Viele Ärzte unterschätzen die Symptome ihrer Patienten. Und viele Patienten berichten nicht von Beschwerden, wenn der Arzt nicht danach fragt."
    Schmerzen sind ein komplexes Geschehen. Jeder empfindet Schmerzen anders, bewertet, beschreibt, erträgt sie anders. Cicely Saunders, die Begründerin der modernen Palliativmedizin, prägt 1963 den Begriff "Total Pain". Schmerz ist danach mehr als zu spüren, dass der Körper nicht mehr problemlos funktioniert. Mehr als unter Begleiterscheinungen von Krankheiten und Nebenwirkungen von Therapien zu leiden. An Atemnot und Übelkeit, an Schwäche und Auszehrung. Auch die Angst vor Leiden, Sterben und Tod kann schmerzen.
    Hamburg-Altona, Hospiz im Helenenstift. Freitag. Vormittag. Hannelore Denk liegt in ihrem Zimmer, spielt Online-Spiele, schaut aus dem Fenster. Im Hintergrund läuft der Fernseher.
    "Was für mich ganz schlimm war: Wie sag ich‘s meinen Kindern? Wie sagt man seinen Kindern, dass man unheilbar an Krebs erkrankt ist? Das war das Schwerste. Besonders schlimm: meiner Enkeltochters Geburtstag. Das war das erste Mal, wo ich nicht dabei war. Und das ist das letzte Mal. Das hat mich umgehauen….Im Sommer, da ist einer nach dem anderen gestorben. Das bedrückt einen, man fragt sich dann: Bin ich die nächste?"
    Es ist in der Medizin heute selbstverständlich, bei Patienten regelmäßig Körpertemperatur und Blutdruck zu messen. Es ist nicht selbstverständlich, beobachtet Claudia Bausewein, sie nach ihrem Befinden zu fragen.
    "Ein Beispiel: Eine Patientin, da wurde der palliativmedizinische Beratungsdienst geholt, zur Schmerztherapie, weil sie so starke Schmerzen hatte. Und die Kollegen haben ihr einen Fragebogen gegeben. Und bei der Frage, was sind Ihre Hauptprobleme, da stand: mein Ehemann. Schmerzen waren überhaupt nicht das Problem! Da stellte sich heraus, diese Patientin, die eine Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung hatte, hat einen demenzkranken Mann zuhause, wo sie die Hauptversorgerin war. Dann müssen wir natürlich dieses Problem angehen, weil ein körperlich empfundener Schmerz kann durch eine psychische Belastung viel stärker werden, als es der körperlichen Situation entspricht."
    Aber wie erfasst man möglichst viele Dimensionen der Leiden schwerkranker Menschen? Palliativmedizinern und Mitarbeitern in Hospizen fällt die Antwort leicht: Man nimmt sich Zeit, fragt nach, hört zu. Akzeptiert, dass einem Patienten Hilfe bei der Versorgung seiner Familie wichtiger sein kann als die Krebstherapie. Lukas Radbruch erlebt jedoch häufig, dass diese Haltung keineswegs von allen Kollegen geteilt wird. Die meisten Mediziner wollen ausreizen, was es an Therapien gegen Krebs oder andere schwere Erkrankungen gibt. Sie wollen heilen und Leben retten.
    "Wenn ich als Onkologe arbeite und sehe, dass die Chemotherapie gar nicht funktioniert, eine Heilung wirklich gar nicht mehr möglich ist, dann kann das sein, dass der Onkologe dann hilflos davorsteht. Nicht alle. Aber viele Onkologen hatten dann auch das Problem, dass sie sagten, sie wissen gar nicht, wie sie mit diesen Menschen umgehen sollen."
    Fragebogen hilft
    In vielen Krankenhäusern – in denen es noch vor 20 Jahren durchaus üblich war, Patienten zum Sterben ins Bad zu schieben – fehlt nicht nur die Erfahrung im Umgang mit unheilbar Kranken. Es fehlt oft auch an Personal und Zeit, um Patienten mit ihren Nöten und Wünschen über die eigentliche Erkrankung hinaus im Blick zu haben. Um ihren Zustand schnell und trotzdem umfassend zu erkennen, sind systematische Fragebögen zu einem wichtigen Werkzeug geworden. Zu den bekanntesten zählt der Palliative Care Outcome Scale, der am Cicely-Saunders-Institute in London entwickelt wurde, einer der größten Forschungseinrichtungen für Palliativmedizin weltweit. Professor Irene Higginson ist die Direktorin des Instituts.
    "Der Palliative Care Outcome Scale besteht aus zwei Teilen. Einmal wird ein Patient offen gefragt, was ihm in seiner Situation die größten Sorgen bereitet und worum sich Ärzte, Pfleger und andere Dienste zuerst kümmern sollten. Der andere Bereich sind zehn Fragen, in denen körperliche Symptome, soziale und emotionale Belastungen bewertet werden."
    Studien des Cicely-Saunders-Instituts zeigen, dass Ärzte, die die Skala benutzten, besser in der Lage waren, Depressionen bei Patienten zu erkennen – und früher palliativmedizinische Unterstützung hinzuzogen. In einigen Fällen zeigte der Outcome Scale sogar an, dass sich der Zustand eines Patienten demnächst verschlechtern würde.
    Higginson: "Das ist sehr interessant: Wenn Patienten fühlen, dass es ihnen schlechter geht – dann kann das ein frühes Zeichen dafür sein, dass sich demnächst tatsächlich die Werte von Bluttests ändern, die dann auch eine Verschlechterung anzeigen."
    Umgekehrt vertrauen Patienten und deren Familien ihren Ärzten mehr, wenn sie vor einer Behandlung nach palliativmedizinischen Kriterien befragt werden: Wie wollen die Patienten behandelt werden, sollte sich ihr Zustand plötzlich verschlechtern? Wer soll Entscheidungen treffen, wenn sie nicht selbst antworten können? Braucht jemand in der Familie besondere Hilfe? Müssen religiöse Bedürfnisse berücksichtigt werden?
    Higginson: "Interessanterweise berichteten die Familien dann auch, die Symptome der Patienten seien besser behandelt worden. Diesen Mechanismus verstehen wir noch nicht ganz. Entweder hatten sie diesen Eindruck, weil sie sich insgesamt besser unterstützt fühlten. Oder die Patienten wurden wirklich gezielter behandelt, weil sich die Angehörigen eher trauten, Ärzte und Pfleger auf Symptome aufmerksam zu machen. Weil sie sich ernst genommen fühlten."
    Aus systematischer Befragung weiß man heute auch: Unheilbar kranke Menschen wollen über ihre Situation so viele Informationen wie möglich haben. Rund drei Viertel von ihnen wollen über ihre Behandlung mitentscheiden, Frauen öfter als Männer, jüngere eher als ältere. Und: Zwischen 60 und 80 Prozent der Menschen wollen zuhause sterben – oder in einer Umgebung, die dem Zuhause ähnlich ist.
    "Hier sind wir jetzt im ersten Stock, hier sind acht Gäste untergebracht."
    Hamburg-Altona, Hospiz im Helenenstift. Freitagvormittag. Leiter Kai Puhlmann macht einen Rundgang durchs Haus. Zwei Etagen, jeweils acht Einzelzimmer. Ein Wohnzimmer für alle, eine Küche mit WG-Atmosphäre. Freundlich. Undramatisch. Im ersten Stock richten Pfleger ein Zimmer her, ein neuer Gast wird erwartet.
    "Das Bett wird bezogen und so weiter. Dann können die Gäste ihre Zimmer individuell gestalten. Bilder mitbringen oder den Lieblingssessel."
    Hannelore Denk: "Ich hab immer gesagt: Wenn es soweit ist, möchte ich ins Hospiz. Das erste Mal, als mein Sohn hier reinkam – das war für ihn schlimm, mich zu sehen und zu wissen: in diesem Bett stirbt sie, in diesem Zimmer. Aber wir versuchen, die Zeit, die wir haben, nicht darüber zu reden. Meine Tochter und mein Sohn, sie verwöhnen mich, wir machen etwas zusammen. Ich lebe zwar im Hospiz. Aber ich bin noch nicht tot!"
    "Wir haben das mal verglichen, indem wir Deutsche befragt haben nach den Dimensionen, die ihnen Sinn geben im Leben, im weitesten Sinne Lebensqualität. Und haben das mit Palliativpatienten verglichen. Und Quintessenz ist: Beziehungen gewinnen an Bedeutung, Partnerschaft, der familiäre Rückhalt, Religion und Spiritualität. Die materiellen Dinge, Arbeit, Finanzen, das verliert an Bedeutung. Spannend auch: Gesundheit ist Palliativpatienten weniger wichtig als Gesunden. Man nennt das response shift in der Krankheitsbewältigungsforschung, dass der Bereich, wo es mir immer schlechter geht, ich dem auch weniger Bedeutung zuschreibe."
    Martin Fegg, Psychologe in der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum München-Großhadern, forscht seit rund 15 Jahren zu psychischen Symptomen todkranker Menschen: Ängsten und Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Sinnverlust. Fast jeder, bei dem eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird, erlebt das als Schock. Und fast jeder, der Hoffnung in eine Heilbehandlung gesetzt hat und hören muss, dass sie nicht – oder nicht mehr – wirkt. Palliativ-Psychologen wollen Menschen in diesen Situationen vor allem helfen, mit Angst und Unsicherheit umzugehen. Techniken trainieren, um die individuellen Ressourcen zu mobilisieren, die einem Menschen die Kraft geben, zu sterben.
    "Ein Patient hat mir mal erzählt, für ihn war es etwas unglaublich Kräftigendes, als er auf einem Berg war, es war Abendstimmung, er hat auf das Bergmassiv geblickt, das extrem geleuchtet hat. Und in diesem Moment hat er eine Verbundenheit erlebt, mit der Natur, mit sich selbst. Und man kann über Imagination wieder Bezug nehmen zu den Situationen. Dass ich den Erfahrungsschatz, den ich trage, in mir, wieder herholen kann. Und der kann mir helfen, leidvolle Situationen zu bewältigen."
    2002 entwickelt William S. Breitbart, Chef der Psychiatrischen Abteilung der Memorial-Sloan-Kettering-Krebsklinik in New York, eine spezielle Psychotherapie für Patienten in der letzten Phase ihres Lebens. Kern dieser "sinn-zentrierten" Therapie ist es, Aufmerksamkeit auf die Lebensbereiche zu lenken, die jemand – trotz einer lebensbegrenzenden Krankheit – als erfüllend erachtet. 2012 veröffentlicht der kanadische Palliativmediziner Harvey Chochinov seine "Therapie der Würde". Eine Anleitung für Menschen, im Angesicht des Todes auf Ereignisse, Erfolge und Erfahrungen des Lebens zurückzublicken – und die Ergebnisse als Buch oder Tonaufnahme an die Familie weiterzugeben.
    Nicht jeder, der unheilbar krank ist, braucht oder will in der letzten Phase seines Lebens psychologischen Beistand. Und auch Martin Fegg weiß: Es ist nicht ausreichend belegt, dass Psychotherapien mehr leisten, als das klassische "Sich-Zeit-nehmen Zuhören" – mehr als das "Händchen-halten", das der Palliativmedizin als Klischee anhaftet.
    "Trotzdem braucht man auch die Studien dazu. Wenn jetzt jemand an einer Depression erkrankt ist, was nicht selten ist, bei Palliativpatienten, wird es nicht ausreichen, dass ich mich nur hinsetze und zuhöre. Dann muss man überlegen, welche Maßnahmen leite ich ein. Bei den Medikamenten geht es darum, welche setze ich dann ein, die für einen Menschen mit einer begrenzten Lebenszeit, mit der Wirklatenz, auch sinnvoll ist einzusetzen. Und bei den psychotherapeutischen Maßnahmen geht es darum: Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Therapie – was bringt denn da auch wirklich was. Und das sollte man zur Verfügung stellen."
    Leben mit weniger Beschwerden ermöglichen
    Palliativmediziner wollen unheilbar kranken Menschen ein Leben mit weniger Beschwerden und mehr Lebensqualität ermöglichen. Das gelingt oft und gut. Doch Patienten entscheiden sich heute – in der Hoffnung auf eine umfassendere Betreuung – immer häufiger für Palliativstationen und Hospize; ihre Ansprüche sind hoch, erwartet wird oft mehr als Pfleger und Ärzte leisten können. Gleichzeitig überschütten Forscher die Einrichtungen mit Fragebögen – inzwischen gibt es davon so viele verschiedene, dass die Daten kaum mehr vergleichbar sind. "Wir erleben eine Perversion des Hospizgedankens", kritisierte kürzlich Ernst Engelke, ein Pionier der deutschen Hospizbewegung, in einem Zeitungsartikel. Es solle entweder keine Palliativstationen mehr geben – oder alles sollte Palliativstation werden. Tatsächlich beginnen die Grenzen zu verschwimmen.
    Hannelore Denk: "Wenn man immer über alles spricht, hab ich mal gehört – da war ein Professor, der hatte zwei Patienten, die beide das gleiche hatten. Der eine hat still in sich hinein und der andere hat darüber geredet. Ja, und der Stille ist gestorben. Also, das hat schon was in sich, wenn man versucht, ganz normal weiterzuleben. Dass man doch die Chance hat, ein bisschen länger zu leben. Und das versuche ich."
    2010 veröffentlicht Jennifer Temel, Onkologin am Massachusetts General Hospital in Boston, die Ergebnisse einer Studie mit Lungenkrebspatienten. Kurz nachdem die Krankheit festgestellt worden war, wurde eine Gruppe mit den üblichen Krebstherapien behandelt und erst bei Bedarf palliativ versorgt. Eine zweite Gruppe wurde ebenfalls mit den üblichen Methoden behandelt – bekam aber von Anfang an zusätzlich eine palliativmedizinische Betreuung: Schmerzbehandlung, psychologischen Beistand, Unterstützung der Angehörigen. Ergebnis: den früh palliativ betreuten Patienten ging es insgesamt besser, sie hatten weniger Depressionen, brauchten weniger aggressive Therapien und: sie lebten im Durchschnitt zwei Monate länger als die Vergleichsgruppe.
    Warum die Patienten länger lebten, ist unter Fachleuten umstritten. Ziel der Studie war nicht, eine längere Überlebenszeit zu zeigen – vielleicht war diese einfach nur Zufall. Doch es gibt weitere Hinweise darauf, dass sich eine frühzeitige palliative Betreuung positiv auf den Krankheitsverlauf auswirkt – auch bei Nicht-Tumorpatienten. Irene Higginson hat Menschen mit Multipler Sklerose untersucht, die frühen und regelmäßigen Zugang zu ambulanter palliativer Betreuung hatten.
    "Wir haben gesehen, dass diese Patienten danach über weniger Symptome klagten und seltener ins Krankenhaus eingewiesen wurden. Und sie lebten auch geringfügig länger als die Patienten, die nicht auf diese Weise betreut wurden."
    Zwar schließt auch Irene Higginson nicht aus, dass die längere Überlebenszeit andere Ursachen als die Palliativbetreuung hatte. Die verbreitete Sicht, wonach palliativmedizinische Behandlung bedeutet, Bemühungen um Heilung aufzugeben, hält sie aber für widerlegt – wie viele ihrer Kollegen:
    Lukas Radbruch: "Als ich angefangen habe mit Palliativmedizin, war klar, dass ein Patient, der noch eine Chemotherapie bekommt, nicht auf die Palliativstation kommt. Da war immer eine Grenze da. Mittlerweile sehen wir das nicht mehr eng. Ungefähr ein Sechstel der Patienten kriegen auch noch eine Chemotherapie. Und ein guter Teil kriegt auch noch eine Bestrahlung gegen seine Tumorerkrankung. Man kann auch gar nicht immer so genau trennen, ob man eine Bestrahlung macht, zur Schmerzlinderung – oder ob es vielleicht auch mit der Idee ist, damit kann man das Leben noch verlängern. Wir leben eigentlich von einer guten Kooperation."
    Claudia Bausewein: "Ich würde fast denken, dass die Allgemeinmedizin, die Palliativmedizin und die Psychosomatik tatsächlich noch den Menschen hinter dem Patienten im Blick haben, in seinem sozialen Umfeld. Während der Rest der Medizin sich in eine spezialisiertere Richtung entwickelt und die Kollegen einen immer kleineren Fokus haben, in dem sie extrem innovativ sind, aber den Blick für das Ganze verlieren. Und ich glaube, dass da die Palliativmedizin eine ganz wichtige Aufgabe und Rolle hat und dass deswegen auch diese verschiedenen Forschungsansätze so wichtig sind."
    Hannelore Denk: "Mir geht das gut."
    Maja Falckenberg: "Brauchen wenig Bedarfsmedikation, hab ich eben erfragt, essen und trinken?
    Denk: "Ja, schmeckt."
    Hamburg-Altona, Hospiz im Helenenstift. Freitag. Später Nachmittag. Palliativmedizinerin Maja Falckenberg verabschiedet sich.
    "...und dicke Beine haben Sie auch nicht."
    "Streichholzdünn"
    "Gut. Dann sind wir beide zufrieden. Tschüss, Frau Denk! Bis nächste Woche."
    "Tschüss!"
    Hannelore Denk: "Jeder Tag ist ein Geschenk. Ich freu mich jeden Morgen, wenn ich wieder aufwache. Weil man ja nicht weiß, wie lange. Eine Zeit hab ich noch, das weiß ich. Aber ich muss auch realistisch denken. Heute kann das mir noch richtig knackig gehen. Und morgen meint der Krebs denn, er muss mir mal wieder ordentlich eins beigeben. Und dann kann es mir schlecht gehen."
    Hannelore Denk ist am 5. Februar gestorben. In Ruhe, ihre Kinder waren bei ihr. Ein Mittwochvormittag, Hospiz am Helenenstift, Hamburg-Altona.