Am 26. Februar verkündet das Bundesverfassungsgericht, ob die aktuelle Regelung zur Sterbehilfe mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es geht konkret um Paragraf 217. Darin wird Ärzten mit Gefängnisstrafen gedroht, wenn sie möglicherweise wiederholt Schwerstkranken indirekt beim Suizid helfen. "Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ist der juristische Fachbegriff.
Eine aktuelle Umfrage von Infratest dimap im Auftrag von "Report Mainz" hat ergeben, dass eine deutliche Mehrheit der Bürger das Gesetz ablehnt,
wie Ulrich Neumann berichtet (01:18)
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Matthias Thöns, Palliativarzt aus Witten in Nordrhein-Westfalen und Autor des Buches "Patient ohne Verfügung: Das Geschäft mit dem Lebensende", gehört zu den Personen, die Verfassungsbeschwerde gegen Paragraf 217 eingelegt haben.
Christine Heuer: Warum haben Sie Verfassungsbeschwerde eingelegt, was ist Ihr wichtigstes Argument gegen das Gesetz?
Matthias Thöns: Na ja, man hat mit diesem neuen Strafgesetz der Bevölkerung versucht mitzuteilen, man wolle nur diese Sterbehilfeorganisationen verbieten, im Endeffekt ist aber durch dieses unglückliche Wort "geschäftsmäßig" dafür gesorgt, dass es ein Totalverbot der Suizidhilfe gegeben hat und auch meine ganz normale palliativärztliche Tätigkeit kriminalisiert wird.
Ich sag Ihnen mal ein Beispiel: Ich betreue jedes Jahr 400 Patienten am Lebensende mit meinem Team hier in Witten, und der Wunsch, dann tatsächlich Suizid durchzuführen und die vollendete Tat, sag ich mal, das ist nur bei einem Patienten von 400 der Fall. Das ist also eine extreme Rarität.
Aber jeder Vierte meiner Patienten, also ungefähr hundert im Jahr, sprechen mich doch irgendwann mal darauf an, dass sie des Lebens überdrüssig sind, dass es nicht mehr geht, dass sie einfach keine Lust mehr haben. Und auch diese Patienten haben schwere Beschwerden, haben Atemnot, haben Schmerzen, und mit dem neuen Paragraf dürfte ich denen ja praktisch gar keine Schmerzmittel mehr aufschreiben, in der Angst, dass hinterher jemand behauptet, ich hab dem tödlich wirkende Medikamente verschrieben, und der hat sich damit dann das Leben genommen. Und so ein Ermittlungsverfahren hatte ich eben auch.
Einerseits betrifft das Gesetz absolute Ausnahmefälle, und andererseits kriminalisiert es meine ganz normale ärztliche Tätigkeit. Das geht gar nicht.
Heuer: Ja, und es macht es Ihnen schwerer, Patienten zu helfen.
Thöns: Es macht es mir unmöglich, Patienten in gruseligen Situation zu helfen, denn das, was viele Patienten wollen, also nicht nur diese minimalen Einzelfälle, ist, dieses Sicherheitsgefühl zu haben, dass ich ein Arzt bin, der ihnen auch dann hilft, wenn ich mit üblicher Leidenslinderung nicht zurechtkomme.
Natürlich schaffen wir es bei den meisten Patienten, Schmerzen und Atemnot und so was zu lindern, aber wir schaffen es nicht bei allen. Und wenn es Experten gibt von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, die behaupten, wir könnten als Palliativmediziner alles Leid lindern, dann zeigt das für mich nur, dass diese Experten lange keinen Patienten mehr gesehen haben.
"Ich finde es mehr als menschlich, dem Patienten Alternativen sagen zu dürfen"
Heuer: Herr Thöns, lassen Sie es uns noch ein bisschen konkreter machen: Sie haben ja gesagt, es wurde gegen Sie ermittelt, bei Ihnen stand die Polizei vor der Tür – sagen Sie uns doch mal, um welchen Patienten es damals ging, dem sie geholfen haben.
Thöns: Na ja, es ging um einen Patienten, der hatte diese Muskelerkrankung ALS, und er hat sehr stark unter Atemnot gelitten. Das kann man relativ gut mit Morphiumpräparaten lindern, das funktioniert auch bei den meisten Patienten, nur hatte er das Pech, dass er relativ starke Nebenwirkungen darunter hatte. Er fand das alles halt unerträglich und hat mir dann mehr oder weniger deutlich gesagt, wenn ich ihm nicht helfe, dann nimmt er die Pistole, die er hat, und erschießt sich.
Das ist ja der klassische Gewissenskonflikt, wie kann ich als Arzt hinnehmen, dass mein Patient sich erschießt. Da finde ich es mehr als menschlich, ihm Alternativen sagen zu dürfen, und dafür ist eben dann ein Ermittlungsverfahren gegen mich eröffnet worden.
Heuer: Das ist auch noch nicht abgeschlossen, wenn ich es richtig gelesen habe?
Thöns: Ja, tatsächlich ist das formal nicht abgeschlossen. Ich habe einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss bekommen, die Polizei stand vor der Tür, und bis heute habe ich keinen Brief bekommen, dass das Verfahren gegen mich eingestellt wurde. Ich gehe aber davon aus, das ist jetzt jahrelang her, dass da nichts mehr kommt.
Heuer: Haben Sie danach noch einmal jemandem geholfen, der Sie gebeten hat, ihm eben indirekt beim Suizid zu helfen?
Thöns: Nein, das hab ich natürlich nicht, weil ich bin ja treuer Staatsbürger und mach keine Straftaten. Das wäre ja eine Straftat gewesen.
"Ich verschreibe stark wirksame Schmerzmittel und riskiere damit Strafverfolgung"
Heuer: Was sagen Sie denn heute Patienten, die Sie um diese Hilfe bitten?
Thöns: Tja, ich spreche mit denen ganz offen an, dass ich einer derjenigen Ärzte bin, die massiv gegen dieses Gesetz vorgehen, die sogar Verfassungsbeschwerde eingelegt haben, dass mir da leider im Moment die Hände gebunden sind und ich einfach nur auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin zurückgreifen kann.
Trotzdem verschreibe ich natürlich allen meinen Patienten nach wie vor stark wirksame Schmerzmittel und riskiere damit natürlich Strafverfolgung, die auf mich zukommen wird, wenn das Gesetz sicherlich jetzt scharfgestellt durch das Bundesverfassungsgericht, wenn es also schlecht ausgeht morgen.
"In erster Linie Arzt für die Selbstbestimmung des Patienten"
Heuer: Nun sagen viele, auch viele Ärzte – Sie haben das schon angesprochen –, Mediziner sind dazu da, Leben zu schützen und zu bewahren. Gilt das für Sie nicht so grundsätzlich und hundertprozentig wie für andere Ärzte?
Thöns: Das suggeriert ja zunächst einmal, dass ich ein Exot bin mit meiner Meinung, und das stimmt ja schon mal gar nicht, denn die große Mehrheit der Ärzte, der Palliativärzte, der Krebsmediziner, der Hausärzte ist durchaus meiner Meinung. Das heißt, wir Ärzte sind der Meinung, dass wir natürlich grundsätzlich immer für das Leben da sind, dass es aber diese seltenen Ausnahmesituationen gibt, wo wir unsere Patienten nicht in so einen brutalen Suizid schicken müssen.
Wenn man mich so auf das ärztliche Ethos anspricht, dann möchte ich sagen, dieses ärztliche Ethos ist zumindest nicht mehr allgemein verbindlich. Klar, ich bin Arzt für das Leben, aber in erster Linie ist man heute Arzt für die Selbstbestimmung des Patienten. Also wenn ein Patient eine dringend notwendige Operation braucht, eine Blinddarmoperation, und sagt mir als Arzt, ich will die nicht, dann muss ich das als Arzt hinnehmen und darf eben Leben nicht retten. Der Wille steht über der Lebensrettung, das ist unser Recht.
"Der Patient bestimmt, was unerträglich ist"
Heuer: Sie sagen, es gibt Ausnahmefälle, die sind selten. Was begründet denn den Ausnahmefall, ab wann sagen Sie in Ihrer ärztlichen Praxis, da muss ich helfen, das kann ich so nicht weiterlaufen lassen?
Thöns: Na ja, der Patient bestimmt ja das, was unerträglich ist, nicht der Arzt, aber ich finde schon, dass man es als Arzt zumindest nachvollziehen können muss. Wenn jemand da einfach nur kommt und sagt, jetzt bin ich 90, hab mein Leben gelebt und so will ich nicht mehr weiter, verschreib mir mal ne Pille, der könnte sich nicht an mich wenden, da würde ich nicht mitmachen.
Aber ein Patient, der eine Beschwerde hat, ich sag mal einen Tumor, der aus dem Hals wächst, da kann man die Schmerzen und die Atemnot gut lindern, aber die Entstellung und die Gerüche kann man eben nicht lindern. Und wenn ein Mensch das unwürdig findet, ja, dann muss ich das als Arzt akzeptieren.
"Schwerkranke werden geradezu zum Leben genötigt"
Heuer: Die Kritiker dieser Praxis, die Sie beschreiben und mit der Sie täglich umgehen müssen und verantwortungsvoll versuchen umzugehen, die sagen, wenn man diese Ausnahmen zulässt, wenn man das nicht grundsätzlich verbietet, dann würde das Tür und Tor öffnen, dass möglicherweise andere Menschen – Verwandte, Angehörige und so weiter –, dass die Einfluss nehmen und dass Menschen sich drängen lassen zum Suizid. Was entgegen Sie denen?
Thöns: Das ist ja nun mal der größte Quatsch, der immer erzählt wird – als ob es eine Nötigung zum Suizid von Pflegeheimbewohnern gibt. Es ist ja geradezu andersrum. Das heißt, Schwerkranke werden in unseren Pflegeheimen, auf Intensivstationen und Kliniken geradezu zum Leben genötigt. Es wird Intensivmedizin gemacht, teils gegen den Willen der Patienten. Man muss wissen, dass in Deutschland Beatmung so gut bezahlt wird wie nichts anderes.
Wir haben mittlerweile 1.500 Menschen zwischen 90 und 100 Jahren, die werden zu Hause in Kellerräumen zum Teil langzeitbeatmet und am Sterben gehindert. Das sind doch die Ängste, die die Menschen haben. Das ist zum Fremdschämen, was da manche Kollegen machen. Und jetzt wird unterstellt, wenn dieses Gesetz nicht mehr da wäre, würden die alle zum Suizid gedrängt werden. Das ist doch völliger Quatsch. Wir hatten die Rechtslage vor 2015 seit 1871, und wir hatten keine Dammbrüche. Und wir erleben solche Dammbrüche auch in Gesellschaften, wo das erlaubt ist – in Oregon oder in Kalifornien, da erleben wir das nicht. Das ist einfach hochstilisiert, und das gibt es nicht.
Heuer: Noch gilt das Gesetz, wir sind gespannt, wie das morgen ausgeht. Nach Ihrer Einschätzung: Wie oft wird in Kliniken oder am Sterbebett von Patienten zu Hause durch ärztliches Personal ein Suizid assistiert, also wie üblich ist der assistierte Selbstmord längst sowieso bei uns, und auch nach wie vor, obwohl das Gesetz gilt?
Thöns: Dazu gibt es natürlich keine Zahlen, weil es eine Straftat ist, da kann ich Ihnen gar nichts zu sagen. Aber ich weiß, dass viele Hausärzte, die hinterher nach Fortbildungen auf ein Glas Wein mit mir zusammensitzen, sagen, natürlich helfe ich meinen Patienten. Aber Zahlen gibt’s dazu nicht.
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