Michael Köhler: Wir gedenken am Palmsonntag des Einzugs Jesu nach Jerusalem. Er reitet auf einem Esel ein, der über Palmzweige geht. Jutta Person, wie tut Jesus das? Er fährt nicht in einer Kutsche mit Geläut und Pomp oder festlich geschmückt von zwölf Pferden gezogen, sondern eher das Gegenteil, nicht wahr?
Jutta Person: So ist es. Jesus wählt eben, und das ist das tatsächlich ursprünglich Revolutionäre auch am Christentum. Jesus wählt ein Nichtkriegstier. Also er reitet auf einem Esel in Jerusalem ein, was eben auch signalisieren soll, er braucht kein waffenstrotzendes Kriegstier wie etwa Alexander der Große. Das ist tatsächlich so gesetzt, dass das Pferd eben für diese Waffengewalt steht und der Esel natürlich für das Demütige und für das Schwache und für das Nichtkriegerische. Also insofern könnte man sagen, ist Jesus da im Bildprogramm des Christentums schon ganz früh eben auf Abrüstung umgestiegen. Also er nutzt ein Tier, das den Frieden verkörpert.
Einzug auf einem Esel ist "so prophezeit im Alten Testament"
Köhler: Lassen Sie uns noch eine Sekunde dabei bleiben, bevor wir uns von der christlichen Ikonografie entfernen. Aber es ist sehr ergiebig. Wer wird im Alltag schon gern ein Esel genannt? Nun, der gilt dann als dümmlich oder als störrisch, vielleicht auch ein bisschen als duldsam, als schicksalsergeben. Warum sucht sich dieser Friedensfürst, der da nach Jerusalem einzieht, um seinem Tod entgegenzugehen, warum sucht der sich einen Esel aus, ein langsames Tier, eines, das sich noch bedankt, wenn man es schlägt? Das ist doch alles kein Zufall.
Person: Das ist natürlich kein Zufall, es ist ja auch schon so prophezeit im Alten Testament. Also schon Secharja spricht eben davon, dass der Friedensfürst, der künftige Friedensfürst auf einem Esel reiten wird, dass er demütig sein wird und dass eben dieses ganze "Juble laut Tochter Zion, jauchze Tochter Jerusalem, siehe dein König kommt zu dir, er ist gerecht und hilft" - das sind eben alles schon Weissagungen des Alten Testaments, die dann im Neuen Testament umgesetzt werden. Man kann eben sagen, dass alle Evangelien, dass sie das durchprozessieren, dass Jesus eben nicht der Kriegsgott ist, sondern der friedliche, der versöhnende und somit eben einer, der auch ein entsprechendes Tier sich aussucht. Und das ist perfekt gewählt.
"In der Antike war der Esel ein ganz mächtiges, potentes Tier"
Köhler: Aus dem Grund, weil das eben auch sehr störrisch sein kann, hat man seit dem Mittelalter versucht, die Pfarrer auf einem Esel in die Kirche einreiten zu lassen. Das hat dann oft nicht geklappt, weil die Biester stehen geblieben sind. Dann hat man sich entschlossen, das irgendwie aus Holz zu schnitzen. Frau Person, Ihrem Buch entnehme ich, Ihrem wunderschönen kleinen Buch in der Reihe "Naturkunden", dass nicht nur die Christen Gefallen am Esel gefunden haben. Die Bildgeschichte ist voll davon, die Nazarener, Rembrandt. Wir finden von Giotto um 1303, 1305 viele Zeugnisse, aber auch bei Shakespeare finden wir das im Sommernachtstraum: "Mir schien, ein Esel hielt mein Herz gefangen." Bis Cervantes. Das heißt, Kunst und Literaturgeschichte sind voll von Eselgeschichten. Aber die interessiert irgendwie noch was anderes am Esel. Was ist das?
Person: Das ist richtig. Meine These wäre, dass der Esel eben eines der ambivalentesten Tiere überhaupt ist und dass er deshalb so ergiebig ist in den Künsten. Man muss sagen, dass das Christentum den Esel in einer ganz relevanten Weise umgeschrieben hat. Also eigentlich war das eine freundliche Übernahme aus der Antike. In der Antike war der Esel eben ein ganz mächtiges, potentes Tier, also auch ein im erotischen Sinne potentes Tier. Im Christentum wird er dann aber zu diesem demütigen Lastenträger. Und diese Gegensätze sind eben beide immer drin beim Esel. Und so kann dann zum Beispiel nur… Also es gibt unendlich viele Beispiele. Shakespeare kann eben dieses Metamorphose-Potenzial nutzen, was im Esel steckt, also die Verwandlungskraft. Und immer schimmert eben diese Verwandlungskraft.
"Der Esel ist eben auch der geile Bock"
Köhler: Nennen Sie es beim Namen. Er ist der geile Bock?!
Person: So ist es. Der Esel ist eben auch der geile Bock. Das lässt sich wunderbar durchspielen. Also es gibt unendlich in der Antike - eben gibt's den goldenen Esel von Apuleius. Das ist eben einer, der dann auch mit einer gönnerhaften zoophilen Dame schläft. Zum Beispiel. Und das sind natürlich Dinge, die im Christentum wiederum höchst verpönt waren. Aber es war eben nie so ganz wegzuradieren, und deshalb ist der Esel immer ein Kulttier auch in vielerlei Hinsicht geblieben. Also, man könnte da unendlich weitermachen mit den Beispielen. Es gibt großartige Eselgeschichten auch zum Beispiel im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert.
Köhler: Ja, das ist wichtig, das ist jetzt ein ganz wichtiger Punkt, weil da jetzt etwas hinzukommt, was, glaube ich, für unsere Wahrnehmung wichtig ist. Entschuldigung, wenn ich Sie da unterbreche. Mir fallen spontan Kupferstiche ein. Ich sehe Friedrich Schiller mit überschlagenen Beinen und langer Pfeife auf einem Esel sitzen. Ich sehe Bilder von Tischbein, dem berühmten Goethe-Porträtisten. Wie kommt es? Oder denken wir auch an Füssli, den Katastrophenmaler, der sozusagen auch das Dämonische aus den Shakespeare-Geschichten gemalt hat? Aber wie kommt es, dass gerade das empfindsame achtzehnte Jahrhundert sich dieses Tieres plötzlich so annimmt?
Person: Also, da wäre Tischbein ein wunderbares Stichwort. Tischbein eben der Maler, der Goethe in der Campagna gemalt hat. Er war auch ein richtiger Esel-Fan. Der hat sogar eine Eselsgeschichte geschrieben, die leider niemand veröffentlichen wollte, zusammen mit Henriette Hermes. Gleichzeitig hat er diese Eselsgeschichte bebildert, mit ganz wunderbaren, schrulligen Eselsbildern. In seiner Geschichte gibt es einen Helden namens Schwachmatikus, der eben auch durch die Campagna reitet wie er selbst mit Goethe zusammen zehn Jahre früher.
"In der Philosophie gibt es unendlich viele Eselslobe"
Köhler: Ist das die Begeisterung für den geistig etwas Beengten? Kann das sein? Wer wird schon gern Esel genannt? Aber noch weniger möchte man ja Schwachmatikus genannt werden.
Person: Das ist richtig. Im achtzehnten Jahrhundert gibt es dieses große Interesse für ein Konzept namens Blödigkeit. Oder es gibt gleichzeitig auch diesen Versuch, den Adel abzuwehren, also die Verstellungskunst des Adels abzuwehren, indem man diesem Programm so eine authentische Aufrichtigkeit gegenübersetzt. Also der Bürger des 18. Jahrhunderts ist eben aufrichtig. Er bemüht sich darum, sich nicht wie der Adlige in windigen Verstellungskünsten zu ergehen. Und das sind ebenso die, sagen wir mal, die philosophischen Programme, die dahinter stehen. Der Esel hat dadurch ein bisschen auch Konjunktur, wäre meine These, weil er einfach ein Tier ist, das mit dieser vermeintlichen Dummheit punkten kann. Auch da kippt wieder alles ins Gegenteil. Also dieses aus der Antike überlieferte Klischee, dass der Esel dumm sei, das gereicht ihm immer wieder auch zum Vorteil oder zum Glück. Also es gibt in der Philosophie unendlich viele Eselslobe und Eselselogen, weil man das damit immer drehen kann. Also das, was vermeintlich dumm ist, ist dann letztlich wieder klug. Und eben gerade in dieser Aggression gegen den Adel oder in diesem bürgerlichen Bemühen, sich vom Adel abzugrenzen, hat dann diese Aufrichtigkeit, diese Authentizität Konjunktur. Und das wiederum kann sich der Esel zunutze machen.
Der Esel "ist eben auch ein heimlicher Anarchist"
Köhler: Er hat lange Ohren, und er ist beileibe kein Schönling. Er kann seine Ohren auch noch asymmetrisch drehen. Und das wirkt dann doch auch komisch, ja letztlich sogar auch ein bisschen idiotisch. Würden Sie mitgehen: Es steckt auch eine kleine Begeisterung oder Umdeutung des Idioten darin? Also wir machen einen Parforceritt durch die Bild- und Ideengeschichte gerade. Wir haben mit dem Christentum angefangen, das ja auch intime Beziehungen zu den geistig Minderbemittelten hält, also eine Umwertung, eine Aufwertung sozusagen des Laien, des Idioten, der ja bis ins achtzehnte Jahrhundert nicht dämlich war, sondern nur einfach ein Sonderling, einer, der außerhalb stand.
Person: Das ist völlig richtig. Also man kann genau, wie Sie sagen, an dieser Umkehrung des Idioten auch sehen, wie das sich wieder mit dem Esel verbindet, weil es eben zeigt, dass sozusagen dieses christliche Interesse, dann auch wieder den Sonderling durchaus aufzuwerten oder zu schützen, dass das wieder dem Esel in die Karten spielt. Und man hat da wiederum die Möglichkeit, diese Linien zusammenzubringen. Die antike Verachtung des Idioten, die wird eben in dem Mitleidsprogramm wieder eingeholt sozusagen. Und was da auch noch dazu kommt, das hatten Sie schon angedeutet, dieses klassische Bildprogramm, was sich ja wiederum auf die Antike zurückbezieht, also der Goldene Schnitt, die idealen Formen, die Symmetrien – das sind alles Modelle, die so anarchisch vom Esel aufgelöst werden. Er ist eben auch ein heimlicher Anarchist.
Köhler: Er hat 'ne hängende Unterlippe.
Person: Er hat 'ne hängende Unterlippe, und er kann diese Ohren asymmetrisch bewegen. Und in der Asymmetrie steckt eben auch die Groteske und steckt die Komik. Und darin steckt eben auch dieses Anarchopotenzial, die gesetzten, edlen, klaren Formen durcheinanderzubringen würde ich behaupten.
"Das perfekte Tier der Achtsamkeit"
Köhler: Frau Person, ich würde zum Ende unseres Gesprächs gerne noch einen Aspekt stark machen wollen. Wir haben über den stummen Zeugen gesprochen, der sich in sein Schicksal fügt, der als Stillsteher sozusagen dabei ist, wenn Jesus Christus seine letzten Stunden entgegengeht. Wir haben über den dummen Zeugen gesprochen, über den Idioten, der vielleicht ein heimlicher Revoluzzer, Anarchist ist, haben Sie gesagt. Ich würde den Zeitzeugen gerne zum Schluss noch einmal starkmachen. Es gibt ja so therapeutisches Wandern inzwischen, Eselwandern. Ich habe neulich in der "Süddeutschen Zeitung" mal so was gelesen, wie jemand aus Trauer oder was auch immer sich auf einen langen Weg macht und das mit einem Esel tut, weil der nämlich uns ein anderes Zeitregiment aufzwingt, ein anderes Tempo und andere Aufmerksamkeit. Eine andere Zeit. Steht der quasi - wir reden am Palmsonntag darüber - auch für eine andere Zeiterfahrung?
Person: Unbedingt! Der Esel ist nicht nur ein Friedensfürst, er ist heutzutage auch ein Entschleuniger. Also er gibt dieser Langsamkeit und auch dieser Passivität ein neues Gewicht. Passivität war früher auch eher schlecht angesehen, erhält mit dem Esel durchaus Kredite. Also eben dieses Nichthandeln wird positiver gesetzt. Und gerade das Eselwandern, das therapeutische Tier, Sie haben das angesprochen, ist ja sehr populär, und man könnte da auch wieder sagen, eigentlich ist der Esel das perfekte Tier der Achtsamkeit. Also Achtsamkeit ist das Stichwort, was jetzt en vogue ist. Kein Tier kann das besser eben in Langsamkeit umsetzen als der Esel.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.!!