Wer mit dem Coronavirus infiziert ist, scheidet winzige Stückchen von dessen Erbgut aus. Sucht man im Abwasser nach ihnen, kann man sich ein Bild davon machen, ob Sars-CoV2 in einer bestimmten Gegend vorkommt und wie verbreitet es ist. Einige Forschende haben schon im März 2020 mit solchen Untersuchungen begonnen, zum Beispiel Kevin Shafer, der die Abwasserbehörde des Großraums Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin leitet.
"Ich hatte keine Vorstellung davon, was das auslösen würde. Inzwischen sind viele Wasserbetriebe in den USA diesem Vorbild gefolgt. Nur ein Beispiel: An der Universität von Arizona wird regelmäßig das Abwasser der Wohnheime auf dem Campus untersucht. Und überall zeigen sich die gleichen Ergebnisse wie hier in Wisconsin."
Nämlich: Im Abwasser steckt die Information, wie viel Virus gerade zirkuliert und welche Varianten vorherrschen. Und das bereits etwa eine Woche, bevor die Zahlen in den offiziellen Testergebnissen auftauchen. Solche Untersuchungen könnten also ein ideales Frühwarnsystem sein. In einigen Ländern wird Abwasser deshalb laufend und flächendeckend auf das Coronavirus getestet, und diese Informationen stehen sofort für jede und jeden einsehbar im Internet zur Verfügung, demonstriert Bernd Manfred Gawlik von der EU-Kommission.
"Ein sehr schönes System - und daran orientieren wir uns in Europa gerade - ist das katalanische Abwassersystem, wo wir hier das Einzugsgebiet einer Kläranlage erfasst haben: in einem Farbcode, der die virale Last angibt. Und einem zweiten Indikator, der anzeigt, ob die virale Last ansteigt, gleich bleibt oder absinkt. Das ist die Information, die wir auf europäischer Ebene gerne zusammentragen wollen."
Frühwarnsystem soll europaweit kommen
Die Europäische Kommission hat den Mitgliedsländern im März dieses Jahres dringend nahegelegt, das Abwasser auf das Coronavirus zu untersuchen. Sie möchte damit Tests an Menschen nicht ersetzen, sondern eine zusätzliche Möglichkeit zur Überwachung von Covid-19 schaffen. Deshalb fordert sie die Staaten auch auf, die Daten rasch an die europäische Gesundheitsbehörde, das European Centre of Disease Prevention and Control ECDC zu übermitteln. Mehr vermag sie aber nicht zu tun - Abwasser fällt in das nationale Hoheitsrecht. Bernd Gawlik kann deshalb nur auf positive Beispiele verweisen. Die gibt es nicht nur in Spanien.
"Die Niederlande ziehen das hinzu. Finnland ist schon soweit. Das Land Tirol nimmt das sehr stark zur Kenntnis. Was wir in Europa einfach wollen, und deshalb arbeiten wir sehr eng mit dem ECDC zusammen: dass die Daten dorthin auch einfließen sollen. Weil wir eben gesehen haben, dass wir schneller größere Räume abdecken können. Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen den klinischen Daten und dem, was das Abwasser liefern kann, so wichtig."
Bisher konnten Gesundheitsbehörden nur in kleineren Einzugsbereichen reagieren: also nach auffälligen Ergebnissen aus dem Abwasser Tests anstoßen und Menschen isolieren, bevor sie andere anstecken - und das lange, bevor die offizielle Statistik vorlag. Etwa im Kreis Berchtesgadener Land, wo die Werte in einer einzelnen Straße plötzlich anstiegen: Ein illegales Fest war die Ursache.
Auffällige Ergebnisse frühzeitig entdeckt
Auch in Dänemark haben Forschende einzelne Ausbrüche frühzeitig entdeckt. Dort werden nun ab August regelmäßig Proben von 230 repräsentativen Kläranlagen genommen. Momentan zeigen die Abwasserdaten der Pilotprojekte dort allerdings überall viele Fälle - in Dänemark liegt die 7-Tage-Inzidenz zurzeit bei 120, berichtet Sofie Midgley von der dortigen Gesundheitsbehörde.
"Nützlicher wird die Untersuchung, wenn wir wieder eine geringere Verbreitung in der Bevölkerung haben. Dann signalisieren uns die Daten aus dem Abwasser nämlich, ob das Virus sich irgendwo wieder verbreitet. So ein Signal zeigt an: Hier passiert gerade etwas, und dann können die Gesundheitsbehörden entscheiden, ob sie zum Beispiel die Bevölkerung stärker testen sollen."
Und in Deutschland? Auch hier haben Wissenschaftler längst gezeigt, dass sie mit relativ geringem Aufwand aussagekräftige Ergebnisse erhalten könnten. Doch mit der Umsetzung hapert es - hier zu Lande sind die Zuständigkeiten besonders kompliziert. Immerhin ist zu erfahren: Die betreffenden Ministerien sprechen inzwischen miteinander. Das ist noch nicht lange so. Doch von flächendeckenden, laufend gemessenen Daten aus dem Abwasser, die sofort für jedermann verfügbar wären so wie in Katalonien: Davon sind wir hier noch weit entfernt.