Historikerin und Publizistin Franziska Augstein hält nichts von den Vorstößen zu mehr Autoritarismus in der Krise und den Zweifeln daran, ob die Demokratie das richtige Mittel sei, um einer solchen Epidemie Pandemie Herr zu werden: Die Demokratie sei kein Mittel, die Demokratie sei die Form, in der man lebe.
So sei der Ruf nach mehr Autokratie eigentlich der Ruf nach einer "Herrschaft von Technokraten, also Leuten, die sich auskennen, die uns sagen, wo es lang geht." Doch Technokraten würden nicht unbedingt das öffentliche Gespräch fördern. "Und das brauchen wir in dem großen Gemeinwesen, in dem so hoffe ich, wir alle leben wollen." Augstein warnt: "Technokraten sind auch nicht schlauer als andere. Und dieser Ruf nach dem starken Führer, das haben wir in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts sehr laut zu spüren bekommen mit den entsprechenden Folgen in Deutschland, Italien und Spanien."
Insellösung ist keine für Deutschland
Die These, dass die einzigen Demokratien, die die Pandemie wirksam bekämpft haben, Inselstaaten oder quasi Inselstaaten seien, sei richtig, aber nicht auf Deutschland übertragbar, sagte Augstein. "Neuseeland hat unendlich viel weniger Bevölkerung als die Bundesrepublik Deutschland und ist eine Insel. Die Frage ist: Wie weit wollen wir gehen, wie lange soll das gehen, betrifft das dann auch den Handelsverkehr? Davon abgesehen ist das sowieso illusorisch, weil dieses Virus bekanntlich weltweit unterwegs ist. Entweder wir sagen, wir sind jetzt autark wie Nordkorea und wir wollen niemand Ausländisches mehr bei uns haben - und das auf unabsehbare Zeit - oder wir lernen mit diesem Virus zu leben."
Freiheits- und Grundrechte nicht über Bord werfen
Dass autokratische Staaten das Pandemiegeschehen scheinbar gut in den Griff bekommen haben, sei kein Grund dafür, ihnen nachzueifern. "Singapur ist keine Insel, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie und ich in Singapur würden leben wollen, wo man eingesperrt wird, wenn man auf die Straße spuckt." Man müsse die gewachsene Vorstellung von Freiheitsrechten und Grundrechten bedenken. "Und das alles über Bord zu werfen, weil es ein Virus gibt, das finde ich ehrlich gesagt, ist aus der Puppenkiste gegriffen."
Dennoch hätte sich Augstein ein bisschen mehr kluges Augenmaß in Deutschland gewünscht - vor allem in Bezug auf die Situation in den Pflegeheimen. Nicht bloß Isolation der Menschen, sondern "dass da Tests ausgeführt werden, dass das Personal mit ordentlichen Schutzmasken ausgerüstet wird, dass sie die Alten nicht anstecken können, dass gleichzeitig aber die Verwandten kommen können, sodass wirklich alte Menschen dann nicht in der vereinsamten, angsterfüllten Isolation dahin gesiecht sind bis zum Tode - das hätte man alles machen sollen. Stattdessen, um sicherzugehen, hat man uns allen einen Lockdown verschrieben. Das war einfach nicht vernünftig."
"So kann man mit einem Parlament nicht umgehen"
Dass momentan exekutiv, also vom Bundeskanzleramt aus, bzw. von den Regierungen der Länder aus regiert werde, hält Augstein für problematisch. "Parlamente werden nicht gefragt. Das ist in Ordnung in einer Krisensituation." Doch die Krise dauere bereits ein Jahr. "Das geht ein bisschen weit an der Demokratie vorbei und behindert eben bedauerlicherweise auch die vernünftige Entscheidungsfindung in den Regierungsstellen."
Augstein nannte ein Beispiel eines SPD-Parlamentariers, der eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet hat, auf welcher Basis einzelne Entscheidungen in der Coronakrise getroffen wurden und kritisierte die ausweichende und unbefriedigende Antwort: "So kann man mit einem Parlament nicht umgehen. Man darf nicht vergessen: Das Parlament, das sind unsere Leute, das sind die Leute, die wir, die Bürger, ins Parlament gewählt haben. Und wenn dann da einer mal aufsteht und sagt: Entschuldigung, ich hätte gerne Erklärungen und er bekommt keine, dann ist das eine Geringschätzung des Souveräns. Und der Souverän, das ist das Volk."
Augstein wies angesichts der Einschränkungen von Grundrechten auch auf die Geschichte der Bundesrepublik hin. "In den 70er-Jahren wurden die radikalen Gesetze erlassen gegen die RAF. Diese hat selbst Otto Schily als Innenminister von 1998 an nicht revidiert. Die sind jetzt ausgesetzt, sie werden nicht mehr angewendet, aber sie sind immer noch gültig. Stattdessen hat Otto Schily nach den schrecklichen Attentaten am 11. September 2001 die Informationsfreiheit eingeschränkt, Lauschangriffe sind erlaubt, um Terroristen zu finden. Das heißt, wenn einmal irgendetwas beschlossen wird dann hat dieses Beschlossene die Neigung dazu, zu bleiben. Es wieder abzuschaffen, wäre sehr schwierig."
Medien, Parlamente und Bürger müssten die Regierung daran erinnern, "dass dies immer noch eine Demokratie ist und keine Technokratie."