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Pandemie und Digitalisierung
„Demokratie braucht Begegnung“

Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung in vielen Bereichen vorangetrieben. Doch für die Demokratie könne das Fehlen von körperlicher Nähe auch problematisch werden, sagte der Soziologe Rainald Manthe im Dlf. Meinungsbildung brauche unbeschwerte Begegnung – im Café, der Kneipe, auf dem Sportplatz.

Rainald Manthe im Gespräch mit Pascal Fischer |
Das Bild zeigt mehrere Menschen, die draußen an Tischen eines Restaurants sitzen
Unmittelbare Gespräche mit anderen Menschen fördern die Meinungsbildung, sagt Manthe (picture alliance / Bildagentur-online/Joko )
Die Pandemie hat unserer Gesellschaft einen Digitalisierungsschub verpasst. Viele haben gelernt, an Videokonferenzen teilzunehmen. Doch diese grenzenlose Kommunikation und Möglichkeit zur Diskussion müsse nicht unbedingt zu mehr Demokratie führen, so der Soziologe Rainald Manthe im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Manthe, geboren 1987, hat in Duisburg, Essen, Bielefeld und St. Petersburg Soziologie und Politikwissenschaft studiert. Er hat in Luzern zu den Treffen transnationaler sozialer Bewegungen promoviert und arbeitet aktuell in Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Zentrum Liberale Moderne, einem jungen, unabhängigen und gemeinnützigen Thinktank.
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Rainald Manthe vertritt die These, dass die Demokratie unmittelbare, körperliche Begegnung braucht. Nur dann fände Kommunikation gleichzeitig, ohne technische Verzögerungen, statt, sei bindender und fördere Vertrauen: "Wenn wir einander in die Augen schauen, so würde der Volksmund sagen, ist es einfacher, dem anderen zu vertrauen, weil wir sehen: Aha, der schaut mir auch direkt in die Augen und ich kann ihm trauen oder auch nicht trauen."
Für die Meinungsbildung seien zudem reale Begegnungen mit Unbekannten wichtig, sagte Manthe. Aktuell "treffen wir vor allem Menschen, die uns nah sind, die wir kennen, aber weniger Menschen in einem Café, zufällig in der Bahn oder Ähnliches, mit denen wir vielleicht ins Gespräch kommen oder die wir nur beobachten." Gerade diese Begegnungen könnten zu Perspektivwechseln verhelfen und verhärtete Meinungen aufbrechen.

Das Interview in voller Länge:

Pascal Fischer: Was haben Sie denn eigentlich persönlich vermisst in den letzten zwölf Monaten, wenn es um die Demokratie im Kleinen geht, um die Demokratie im nahen Umfeld?
Rainald Manthe: Mir fehlt sehr stark, im Café zu sitzen und andere Menschen, die ich nicht kenne, zu beobachten und an ihrem Leben teilzunehmen, ohne wirklich Teil davon zu sein. Und was mir auch fehlt, ist die Unbeschwertheit von Begegnungen.
Fischer: Würden Sie daran schon festmachen, dass das etwas ist, was Demokratie unbedingt braucht, an diesem Gefühl, das Sie jetzt verspüren, dieses Gefühl des Mangels?
Manthe: Ich glaube, Demokratie braucht tatsächlich ein Stück weit Unbeschwertheit in der Begegnung mit Unbekannten, denn wenn wir Menschen begegnen, die wir kennen, dann stellt sich dieses Gefühl sehr schnell ein, aber in einer Demokratie leben wir eben mit sehr viel Menschen zusammen, die wir nicht kennen, mit denen wir aber trotzdem uns irgendwie einigen müssen.

"Interaktion entwickelt eine Eigendynamik"

!Fischer: Lassen Sie uns einsteigen in Ihre Forschungen, die Sie unternommen haben. Sie haben untersucht, wie Demokratie konkret funktioniert, alles publiziert im transcript‑Verlag. ‚Warum treffen sich soziale Bewegungen‘ heißt Ihr Buch, und natürlich geht es auch darum, wie sich diese sozialen Bewegungen treffen. Sie waren auf dem Weltsozialforum in Tunis und in Montreal, auch an einer Attac‑Sommeruni, alles natürlich vor Corona. Und da kann man ja eigentlich wie im Brennglas beobachten, wie Demokratie funktioniert, denn diese Akteure dort, die kennen sich ja erst mal nicht, müssen aber irgendwie zusammen reden, etwas diskutieren und beschließen. Warum ist das da so wichtig, dass die sich überhaupt erst mal begegnen, und wie machen die das?
Manthe: Man muss vielleicht einen Schritt weiter hinten anfangen und sich fragen, was ist Begegnung eigentlich? Wir Soziologen nennen das Interaktion oder Face‑to‑Face‑Interaktion, und Soziologen sagen, dass Interaktion sich eben unterscheidet von anderen Sozialformen, beispielsweise von digitaler Kommunikation, die wir jetzt fast alltäglich erleben, aber auch von Organisationen.
Die Interaktion hat für uns Soziologen eine eigene Realität, sie entwickelt eine Eigendynamik. Man kann nicht sagen: Was kommt aus dem Treffen heraus? Interaktion entsteht, wenn zwei Menschen zusammenkommen in Wahrnehmungsreichweite, in Face-to-Face-Reichweite, sich also gegenseitig wahrnehmen und dann miteinander kommunizieren. Das hat bestimmte Folgen für die Art, wie man miteinander kommunizieren kann, denn die Kommunikation findet gleichzeitig statt, also man sieht einander, man hört einander, und das sofort und das sogar noch schneller als bei Videokonferenzen, auch ein bisschen schneller als am Telefon, es gibt keinerlei technische Verzögerungen.
Man sitzt im gleichen Raum, - also es findet gleichräumlich statt, - und nimmt mit allen Sinnen, gleichsinnlich, diese Umgebung wahr. Wenn es beispielsweise donnert, muss man nur einmal kurz hinzeigen auf den Himmel, und es ist schon klar, was gemeint ist. Wenn es stinkt, muss man einmal vorm Gesicht wedeln, und es ist sofort klar, was man meint. Und dass es gleichräumlich und gleichsinnlich stattfindet, hat auch viele Vorteile, weil man sich viel besser abstimmen kann. Man sieht, wenn der andere das Gesicht verzieht, man sieht, wenn jemand nicht aufmerksam ist, man kann in die Augen gucken und bemerkt, aha, der Mensch nimmt wirklich mit, was ich sage.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Fischer: Man kann auch nicht weglaufen.
Manthe: Man kann nicht so schnell weglaufen …
Fischer: Oder sich wegklicken.
Manthe: Genau, oder das Video ausmachen und sonst was nebenbei machen, und das hat eben bestimmte Folgen dafür, wie bindend die Kommunikationssituation ist. Erving Goffman, ein großer Interaktionssoziologe, spricht davon, dass es einen Arbeitskonsens gibt, wenn man in Interaktion ist. Ich würde sagen, es schafft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wir arbeiten hier gemeinsam an dieser Situation und wir müssen alle etwas beitragen. Das hat auch Folgen für etwas, was für Demokratie wichtig ist, nämlich die Möglichkeit, einander zu vertrauen. Wenn wir einander in die Augen schauen, so würde der Volksmund sagen, ist es einfacher, dem anderen zu vertrauen, weil wir sehen, aha, der schaut mir auch direkt in die Augen und ich kann ihm trauen oder auch nicht trauen.

"Das schafft ein kleines Element von Zusammengehörigkeit"

Fischer::!! Welche Rolle spielen denn ganz konkret gemeinsame Jutetaschen, die da vielleicht verteilt werden, oder so was, ganz elementare materielle Dinge, die man vielleicht teilt, über die man auch eine Identität zusammen schaffen kann auf so einem Sozialforum?
Manthe: Die Weltsozialforen sind natürlich sehr spezielle Veranstaltungen in dem Sinne, dass da Aktivistinnen und Aktivisten von sozialen Bewegungen, von größeren Nichtregierungsorganisationen von der ganzen Welt zusammenkommen und die eint eine Sache, nämlich ihr gemeinsames Engagement für eine bessere oder andere Welt. Wenn man sieht, dass jemand anders sich auch für das Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser einsetzt von irgendwo anders auf der Welt, dann verbindet das natürlich, ganz einfach, weil man das sieht – durch einen Beutel, durch einen Button, durch ein getragenes Transparent auf einer Demonstration.
Das schafft auch so ein kleines Element von Zusammengehörigkeit, wenn man an anderen Leuten etwas entdeckt, was man vielleicht mag oder was einem ähnlich ist, und das lässt sich in digitaler Kommunikation nur schwerer herstellen. Es lässt sich schon auch herstellen, aber eben nicht so leicht, weil das auch eine andere Situation ist, wenn man vorm Bildschirm sitzt, als wenn man – ich sprach eben davon – Menschen gegenübersteht und sie wirklich leibhaftig erlebt.
Fischer: Wie war das mit Übersetzungen, das muss ja auch relativ spontan geschehen auf so einem Weltsozialforum. Die Leute kommen zusammen, sprechen unterschiedliche Sprachen, man muss offensichtlich selber Simultandolmetscher spielen.
Manthe: Sprache ist tatsächlich ein großes Thema auf den Weltsozialforen, weil die Menschen eben aus der ganzen Welt kommen. Es gibt so ein bisschen institutionalisierte Übersetzungen mit einer Kabine und Menschen, die das gelernt haben oder lernen oder zumindest übersetzen können, dolmetschen können, aber viel wird einfach spontan organisiert. Man schaut am Anfang eines Workshops, einer Veranstaltung, welche Übersetzung braucht das, und dann sucht man unter den Teilnehmenden Menschen, die das übersetzen können, und bittet sie dann, das für eine Zeit zu übernehmen und zu machen.
Fischer: Das heißt, da ist eine Spontaneität, die diese Nähe, diese Körperlichkeit, diese Räumlichkeit einfach braucht.
Manthe: Genau, das ginge ja ohne Räumlichkeit nicht. Man könnte nicht das ganze Internet absuchen nach jemandem, der zu einem bestimmten Zeitpunkt plötzlich Englisch, Französisch übersetzen könnte.

"Wir treffen vor allem Menschen, die uns nah sind"

Fischer: Was würden Sie denn sagen, was ist übertragbar insgesamt von so einem Weltsozialforum auf eine ganz allgemeine Situation der Demokratie der Nähe überall. Was können wir davon lernen, von so einem Weltsozialforum?
Manthe: Auf den Weltsozialforen kommen ja viele Menschen zusammen, die sich nicht kennen, und das ist in unseren Leben ja auch so. Es gibt immer eine bestimmte Anzahl von Menschen, die wir kennen, und einen bestimmten Anteil von Unbekannten. Das ist jetzt während Corona auch relativ stark runtergefahren. Wir treffen vor allem Menschen, die uns nah sind, die wir kennen, Kolleginnen und Kollegen, Familie, Freunde, aber weniger Menschen in einem Café, zufällig in der Bahn oder Ähnliches, mit denen wir vielleicht ins Gespräch kommen oder die wir nur beobachten.
Dieses Treffen von Unbekannten auf den Weltsozialforen findet eben statt, und die Menschen schaffen es, diesen Austausch zwischen Unbekannten zu organisieren. Sie schaffen es, ins Gespräch zu kommen, meistens über Themen, die sie Engagement-mäßig interessieren, und sie schaffen es, diese Interaktionssituation eben aufrechtzuerhalten und wirklich in einen Austausch zu kommen.
Bernhard Pörksen beim Medienpolitischen Kongress der Landesregierung Baden-Württemberg 2019.
Medienwissenschaftler Pörksen - Produktives Nichteinverständnis als Idealvorstellung
Wie könnte Dialog aussehen in einer Welt, in der fast alle eine Stimme haben? Zwischen Hass auf der einen Seite und Hypersensibilität auf der anderen sieht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine dritte Kommunikationswelt.
Dann wird eben gemeinsames Verstehen möglich dadurch, dass Leute sich gegenseitig übersetzen, aber eben auch noch mehr, nämlich ein gemeinsames Gefühl von: Aha, wir gehören zusammen auf den Weltsozialforen, aha, wir sind nicht alleine mit unserem Kampf in der Welt, sondern es gibt noch andere, mit denen man nie im Leben gerechnet hätte, die man eben zufällig dort trifft. Und was auch noch möglich ist in Interaktion, ist, dass man vorherige Strukturen aufbrechen kann. Man kommt vielleicht mit einer Idee dahin, wie die Welt aussieht und was man von der Welt möchte auf den Weltsozialforen, welches Engagement wichtig und richtig ist, und dann trifft man plötzlich auf Menschen, die einem ganz neue Perspektiven mitgeben und die man dann gerne mitnimmt.
Das unterscheidet sich vielleicht auch von dem, was man so im Internet an Informationen konsumiert. Man könnte ja sagen, das kann ich auch alles nachlesen, all diese Informationen, die sind da in der Welt, fünf Klicks und ich bin da, aber man würde sie wahrscheinlich nie so ernsthaft aufnehmen und verarbeiten, wenn da nicht Menschen wären, die einem gegenüberstehen und als Person einem eine neue Perspektive vermitteln.

"Demokratie findet überall statt"

Fischer: Jetzt gehen wir mal vom Globalen ins sehr Lokale in Deutschland: Sie haben sich lange engagiert in der politischen Bildung im ländlichen Brandenburg. Würden Sie sagen, da findet Demokratie ähnlich im Kleinen statt?
Manthe: Demokratie findet überall statt. Demokratie findet statt, wenn ich abends in die Dorfkneipe gehe und mit meinem Nachbarn, den ich nur so halb mag, weil er immer die Hecke über den Zaun wuchern lässt, über die neuesten Corona-Beschlüsse diskutieren würde. Haha, das findet gerade nicht statt!
Demokratie findet auch statt am Arbeitsplatz, Demokratie findet statt, wenn man sich austauscht in der Freiwilligen Feuerwehr oder aber, wenn man explizit politische Veranstaltungen besucht, auf denen draufsteht, okay, wir verhandeln hier. Und so findet Demokratie eben auch im ländlichen Raum statt, und da hab' ich spannende Erfahrungen gemacht, nämlich dass Menschen sich durchaus sehr stark interessieren, auch in Regionen, auch in Schichten, von denen es heißt, sie seien politikverdrossen, wo die Wahlergebnisse so sind, dass entweder viele Menschen nicht wählen gehen oder populistische Parteien wählen, und doch interessieren sich die Menschen für ihr Zusammenleben.
Was aber oft fehlt, sind Möglichkeiten, sich auszutauschen, und das merkt man natürlich in der politischen Bildung dann ganz geballt. Da kommen Menschen, die haben Lust, sich auszutauschen oder erst mal nur zu meckern, aber das ist ja auch eine Form von politischer Willensäußerung, und kommen dann mit einer bestimmten, manchmal verhärteten Meinung rein und gehen dann aber doch offener raus, weil sie mit anderen Menschen in Kontakt getreten sind.
Fischer: Aber mit Möglichkeiten, sich auszutauschen, meinen Sie da bestimmte Räume wie sozusagen die Dorfkneipe, das Feuerwehrhaus, ein Klubhaus, einen Sportverein?
Manthe: Räume, sich auszutauschen, können sehr unterschiedlich sein. Klassisch sind es eben Vereine in Dörfern oder Dorfkneipen. Und wenn man nach Brandenburg geht, wo ich unter anderem politische Bildung gemacht habe, stellt man fest, da ist nicht viel, zumindest wenn man aus dem Speckgürtel von Berlin rausgeht, und das ist in anderen Regionen auch so. In Regionen, die wir strukturschwach nennen, da ist einfach das Geld nicht da, um eine Dorfkneipe aufrechtzuerhalten oder nicht das Engagement von jungen Leuten, bei der Freiwilligen Feuerwehr mitzumachen, weil die wegziehen, wenn sie eine Ausbildung machen oder studieren.
Fischer: Ist das ein generelles Problem oder wird das jetzt gerade in der Pandemie noch mal ein schlimmeres Problem?
Manthe: Es ist ein generelles Problem, wenn Strukturen fehlen, und das war auch schon vor der Pandemie so – sicherlich sehr unterschiedlich in unterschiedlichen Regionen, je nach Finanzausstattung. Es hat sich aber natürlich verschlechtert, weil all das, was freiwilliges Engagement ist, freiwilliges Treffen, wo Menschen zusammenkommen, das fällt weg, selbst Dorffeste fallen weg, aber auch Stadtteilfeste, wenn man eher auf Städte guckt. Engagement in Sportvereinen, all das findet jetzt kaum noch statt. Und wenn, dann eben immer mit dem Verdacht, okay, Nähe ist ein Problem, man könnte sich oder jemand anders anstecken.

Corona könnte zu mehr Politikverdrossenheit führen

Fischer: Würden Sie sagen, da geht einfach nur so ein Sinn für das Umfeld verloren, also in dem Sinne, dass man nicht mehr in der Dorfkneipe diskutiert? Oder wirkt das sozusagen noch auf andere Politikbereiche, strahlt das sozusagen aus, dass irgendwann die Haltung generiert wird, die da oben machen, was sie wollen, ich kann mich nicht einbringen. Man könnte ja auch einfach sagen, da ziehen Leute dann vom Dorf weg, engagieren sich in der Stadt.
Manthe: Wie sich genau die Engagement-Landschaft in ländlichen Räumen verändert nach Corona, wird sich zeigen müssen. Ich glaube, es gibt dann wieder eine große Lust, wenn wir uns irgendwann wieder treffen dürfen, sich eben einzubringen jenseits des Politischen, weil wir jetzt gemerkt haben, alles ist politisch, was wir gerade tun, selbst das Treffen mit unseren Nachbarn ist eben politisch, wenn wir dabei zum Beispiel keine Maske benutzen. Ich glaube, Corona hat das Potenzial, zu mehr Politikverdrossenheit zu führen, muss aber nicht unbedingt. Es kommt ein bisschen darauf an, was jetzt noch so passiert und auch, wie man ländliche Räume unterstützt, aber wie man auch Begegnungsorte anderswo unterstützt.
Fischer: Sie haben sich ja auch beschäftigt mit dem sogenannten partizipativen Budgeting, könnte man auch als Bürgerhaushalt übersetzen: Wenn Bürger auf dem Dorf, in der Gemeinde oder im Stadtteil darüber entscheiden, wofür Geld ausgegeben wird. Ist so was jetzt in Gefahr in der Pandemie, in der man eben nicht mehr von Angesicht zu Angesicht diskutieren kann, wofür 1.000, 2.000, 3.000 Euro ausgegeben werden vor Ort?
Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen, Belgien
Bürgerdialog in Ostbelgien - Per Los in die Politik
Das deutschsprachige Parlament in Belgien beteiligt seine Bürger an der Regionalpolitik: In einem Bürgerdialog dürfen Menschen ihrer Regierung Themen und mögliche Umsetzungen vorschlagen.
Manthe: Bürgerhaushalte sind tatsächlich ein weit verbreitetes Format, was es auch schon länger gibt. Beispielsweise in Berlin gibt es das in einigen Bezirken, und soweit ich das mitbekommen habe, funktioniert das jetzt eben digital. Ich vermute, dass die Aushandlungen sehr getrieben sind von dem Thema Corona und nicht so wahnsinnig konfliktiv sind.
Gerade aber meine Vermutung ist gleichwohl, dass wenn man die Aushandlungen über diese Bürgerbudgets komplett digitalisieren würde, dass sie nicht so gut funktionieren würden, wie wenn man sich gegenübersitzt, weil natürlich die Sozialform Interaktion Konflikte kleiner hält, weil man nicht so schnell fliehen kann, weil man auch ein bisschen Angst davor hat, dass der Konflikt die Interaktionssituation übernimmt und sprengt. Deshalb ist Interaktion ein gutes Format, um auch konfliktivere Themen auszuhandeln.
Fischer: Es gibt auch die sogenannten Bürgerräte. Es hat von Deutschland und von der EU ausgehend Experimente zu diesen Bürgerräten gegeben, vor der Pandemie zum Beispiel. Die Idee ist auch da: Oben soll ankommen, was die Menschen an der Basis bewegt. Man bildet dann Gesprächskreise, die zum Teil sehr allgemeine Fragen diskutieren, die dann zu Ergebnissen kommen. Also zum Beispiel so Fragen wie, was sind die drängendsten Probleme, wie lösen wir die? Da ist alles denkbar von Klima bis Rassismus, das wird dann von Ebene zu Ebene weiterdiskutiert. Geht so etwas überhaupt noch gerade?
Manthe: Bürgerräte sind ein spannendes Format, die es auch schon in anderen Ländern viel länger gibt als in Deutschland. Jetzt ist gerade in den Medien gewesen, dass es zwei Bürgerräte gab, glaube ich, die an den Bundestag angedockt waren, auf Initiative von Wolfgang Schäuble, die sich beschäftigt haben mit Europa und mit Deutschlands Rolle in der Welt.
Ich finde das Format spannend, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, weil Menschen da die Möglichkeit haben, ihre Lebensumstände, die sie tatsächlich angehen, mitzubestimmen und nicht nur die große Politik zu beraten, wo natürlich ihre Vorschläge stärker noch mal durch die Mühlen des Politikbetriebs sind.
An Bürgerräten ist spannend, dass dort eben auch unbekannte Menschen zusammenkommen. Alles zeigt genau das: Menschen kommen mit einer Haltung rein, ich bin vielleicht neugierig, aber habe doch meine politischen Positionen, und dann sind da andere mir Unbekannte und regen mich zum Nachdenken an, und vielleicht gehe ich am Ende mit einer bisschen anderen Position wieder raus.

"Nähe ist gerade gefährlich"

Fischer:: Unser Thema lautet "Pandemie, Digitalisierung und Demokratie – Verhandlung und Nähe" – passend übrigens zum Thema der Deutschlandfunk-Denkfabrik 2021: "Auf der Suche nach dem Wir". In Sendungen wie dieser schauen wir in diesem Jahr, was uns alle wie zusammenhält, und da möchte ich gleich anbinden: Herr Manthe, man hat ja das Gefühl, unser Thema, das wir gerade diskutieren hier in dieser Sendung, das fällt in der Corona-Zeit so ein bisschen unter den Tisch. Es geht ja in den Medien gerade eher um die Ministerpräsidentenkonferenz, um Lockdowns und Verordnungen, die dann durchgepeitscht werden, die Ebene, die wir ja hier besprechen, kommt eigentlich kaum vor. Warum eigentlich?
Manthe: Die Ebene, die wir besprechen, kommt kaum vor, weil Nähe eben gefährlich ist gerade, weil das Virus durch Nähe übertragen wird, durch Nähe können wir andere und uns selber gefährden. Deshalb ist der Fokus gerade – auch zu Recht, finde ich – auf der Frage, wie kann man eben diese Pandemie beenden.
Denkfabrik: Auf der Suche nach dem "Wir". Viele Hände umfassen gemeinsam ein Seil.
Auf der Suche nach dem "Wir" (Deutschlandradio)
Gleichwohl ist es wichtig, auch sich jetzt schon Gedanken zu machen, wie kann man Begegnung eben wieder anleiten, wieder fördern. Ich glaube, in ein paar Wochen oder Monaten, ich hoffe, in ein paar Wochen, werden wir uns erst mal wieder daran gewöhnen müssen, einander zu begegnen, also die Mimik eines Menschen zu sehen jenseits der Maske, Menschen zu riechen, ihnen nahe zu sein und ganz viele Eindrücke mitzunehmen, weil das eben jetzt kaum stattfindet oder wenn, dann nur unter sehr pandemisch eingeschränkten Bedingungen.
Fischer: Ist schon seltsam, denn wenn wir jetzt den ganz großen Bogen spannen, hat unsere Demokratie auch gewissermaßen auf dem Marktplatz, auf der Agora angefangen mit Menschen, die sich gesehen haben, die miteinander diskutiert haben.
Manthe: Und ich finde, in der Corona-Pandemie funktioniert es ja auch wieder ähnlich. Normalerweise funktioniert unsere relativ alte Demokratie ja mit sehr vielen Routinen, und jetzt sind es eben Ministerpräsidentenkonferenzen, wo 16 oder vielleicht ein paar mehr Menschen zusammenkommen und entscheiden. Und da zeigen sich auch die Tücken, aber auch die Vorteile von Interaktionen. Vor ein paar Wochen war das Thema Osterruhe ein ganz großes, und wenn es stimmt, was kolportiert wurde, kam diese Idee erst während einer Mammutverhandlung plötzlich auf. Darüber hatte vorher niemand nachgedacht, man kam verhandlungsmäßig nicht mehr weiter, brauchte eine neue Idee, und dann kam eben diese Osterruhe, die ganz schnell wieder kassiert wurde, weil sie dann doch nicht mehr so gut war.
Aber das zeigt auch, solche spontanen Elemente können in Interaktionen aufkommen, die vielleicht nicht aufgekommen wären, wenn man das Ministerium auf dem Dienstweg hätte verhandeln lassen.
Fischer: Das ist sehr interessant, denn was wir hier besprechen, heißt ja eigentlich auch, denke ich zumindest, diese digitalen Heilsversprechen sind eigentlich erst mal nicht wahr geworden. Wenn ich mir anschaue, wie die Leute immer noch hapernde Verbindungen haben, wie Leute immer noch nicht klarkommen mit den Videocalls, die sie machen müssen – verstehen Sie noch, was an Lösungen wie Liquid Democracy oder Consul so bestechend klang? Glaubte man eigentlich wirklich, jegliche Abstimmung irgendwann digitalisieren zu können?
Manthe: Liquid Democracy und Consul waren spannende Versuche, und die gibt es ja immer noch, nur nicht mehr in der großen Politik, nämlich Versuche, dass man Demokratie zwischen den Treffen – also Parteitagen, Parteiveranstaltungen und Ähnlichem – für alle Menschen zugänglich machen kann, denn die Hürde, zu Parteiveranstaltungen zu gehen, war und ist nach wie vor hoch.
Liquid Democracy hat zumindest bei der Piratenpartei nicht so wahnsinnig gut funktioniert, ich glaube aus zwei Gründen: Zum einen weil eben die Sozialform Interaktion unterschätzt wurde in ihrem Potenzial und Menschen dann online aufeinander losgegangen sind, wo es sehr stark um Sachthemen ging. Und zum Zweiten, weil die Piratenpartei, wie viele neue Parteien auch, ein großes Protestpotenzial von Menschen angezogen hat, die wenig auf Kompromiss aus waren und sich dann, auf gut Deutsch, online die Köpfe eingehauen haben.
Gleichwohl gibt es diese Softwarelösung noch. Liquid Democracy selber wird jetzt beispielsweise an Schulen für Projekte eingesetzt und scheint da, nach allem, was ich weiß, ganz gut zu funktionieren. Also ich würde diese Lösung nicht ganz abschreiben, ich würde aber dieses Heilsversprechen, von dem Sie sprachen, nicht kaufen und auch nicht nach der Corona-Pandemie kaufen, obwohl wir jetzt alle drei oder vier Videokonferenzsysteme beherrschen, denn dieses "wir alle" ist immer noch sehr eingeschränkt.
Menschen, die im Berufsleben stehen oder in die Schule gehen, können wahrscheinlich jetzt Videokonferenzen – auch nicht alle, es gibt Berufsgruppen, die wir immer als systemrelevant bezeichnet haben, die damit wenig zu tun haben, weil es nicht zu ihrem Arbeitsalltag gehört. Aber Menschen, die älter sind, oder Menschen, die bestimmte Beeinträchtigungen haben, können daran natürlich nicht teilnehmen. An Interaktion kann immer noch ein größerer Bestandteil unserer Gesellschaft teilnehmen, weil das die Sozialform ist, die wir von klein auf lernen.
Fischer: Es gibt ja einen Hype um die App Clubhouse, da heißt es, man kann relativ seriös diskutieren mit hochrangigen Meinungsführern. Meinen Sie, so etwas taugt jetzt in der Pandemie zur digitalen Demokratie, die nicht mit Nähe, aber eben digital vermittelt stattfindet?
Manthe: Clubhouse ist ein spannender Versuch, über den man Nähe herstellen kann zwischen Politik und Volk. Ich glaube, es funktioniert auch gut, weil es vor allem Menschen bisher nutzen, die Digital Natives sind, also die mit digitalen Medien gut umgehen und die auch sich gut zügeln können in der Diskussion, sich gut zurückhalten können, weil es hat natürlich das Potenzial, dass alle am Ende aufeinander einreden und man nicht mehr miteinander redet.
Das Logo der neuen Social-Network-App Clubhouse auf einem Smartphone.
Clubhouse-App - Themengenerator für Popkultur?
Die Live-Podcast-App Clubhouse erlebt einen Boom - ist sie ein künstlicher Hype-Generator oder ein informatives Tool? Dlf-Redakteur Raphael Smarzoch hat es ausprobiert und eine Diskussionsrunde über den "Shanty-Hype" eröffnet.
Was bei Clubhouse natürlich fehlt, ist, dass man neben den Promis, die da quasi Panel bilden, auch miteinander sich in kleine Gespräche vertiefen kann. Das sind so Möglichkeiten, die man in Interaktion ja hat, so ein bisschen flüstern miteinander, sich Blicke zuwerfen, sich Zettelchen schreiben wie in der Schule. Diese Möglichkeiten sind bei Clubhouse und ähnlichen Versuchen nicht gegeben, aber ich würde diesen Versuch einfach weiter beobachten, die Technik schreitet natürlich voran.
Wir haben es ja im letzten Jahr bei der Entwicklung von Zoom gesehen, dass man jetzt wie kleine Küchen, Partyküchen bauen kann und sich da austauschen kann. Das sind spannende Entwicklungen, gleichwohl ist es eben nicht dasselbe wie Interaktion.

"Begegnung ist eine wichtige Infrastruktur für Demokratie"

Fischer: Wenn Sie für eine Begegnung, für eine Demokratie der Nähe plädieren, dann frage ich mich trotzdem, verteufeln wir dann am Ende nicht das Digitale wiederum etwas zu sehr, wenn wir sagen, ja, das hat seine Grenzen, es kommt vielleicht auch zu Meinungsblasen, wenn wir jetzt an soziale Netzwerke denken. Kommt es nicht auch zu Meinungsblasen in der persönlichen Begegnung, weil ich mich da vielleicht genauso abschotte in der Dorfkneipe, in der ich vielleicht auch nur bestimmte Leute treffe?
Manthe: Ich plädiere für eine differenzierte Sicht auf das Verhältnis von Demokratie und Begegnung und habe ja eben schon ein bisschen erzählt, dass man bestimmte technische Lösungen sich durchaus angucken sollte und schauen sollte, was ist ihr Potenzial, aber sie nicht hypen sollte. Clubhouse wird uns nicht retten, Zoom wird uns nicht retten, aber auch genauso wird uns Begegnung nicht retten. Ich glaube aber, dass Begegnung eben eine wichtige Infrastruktur für Demokratie ist, die man fördern und ja vielleicht auch ein bisschen einfordern sollte. Ich glaube, Menschen brauchen Räume, wo sie sich begegnen, wo sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen können und miteinander vielleicht einfach nur plaudern oder Dinge gemeinsam aushandeln können/müssen.
Fischer: Ich würde gerne noch mal auf die große Politik zu sprechen kommen, wir haben das vorhin schon mal angeschnitten: Wenn wir jetzt diese Demokratie im Kleinen mit der ganz großen Politik vergleichen, dann sehen wir in der Tagesschau fast allabendlich mittlerweile Bilder von Videokonferenzen, vom Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin oder auch EU-Regierungschefs. Kriegen die das hin, kann die große Politik da etwas im Digitalen, was die Demokratie im Kleinen dann noch nicht so gut hinbekommt?
Manthe: Ob sie es hinkriegen, weiß ich nicht. Es gibt ja große Kritik an diesen Digitalformaten. Armin Laschet hat gesagt, wir müssen die Ministerpräsidentenkonferenz jetzt wieder Face-to-Face stattfinden lassen. Ich glaube, die große Politik, wie Sie es nennen, kriegt es ein bisschen besser hin als andere, weil es ein Berufskontext ist, also ein Kontext, wo die Rollen relativ klar sind und man auch weiß, was die Rollen der anderen sind. Da findet dann aber weniger Spontaneität statt als in der Kneipe oder im Fußballverein, und das wollen wir vielleicht auch nicht den ganzen Tag.
Wenn wir den ganzen Tag über gearbeitet haben und abends uns treffen und uns einfach austauschen wollen und vielleicht auch mal ein bisschen politisch diskutieren wollen, wollen wir vielleicht nicht mit dem anderen verhandeln, sondern tatsächlich in einen offenen Austausch gehen, der ebenso wichtig ist für Demokratie wie die Aushandlung von Corona-Beschlüssen am Ende.
Fischer: Sollte es auf lokaler kommunaler Ebene mehr Geld geben, um irgendwie so etwas zu fördern, Digitalkompetenz im Kleinen?
Manthe: Es sollte gezielt Geld geben, zum einen, um Digitalkompetenz zu steigern für diejenigen, die die vielleicht nicht natürlich mitbringen, es sollte aber meines Erachtens auch Geld geben, um eben Begegnungsräume zu fördern. Meine Erfahrung in der politischen Bildung im ländlichen Raum zeigt, die Menschen wissen oft relativ genau, was man in dem Ort machen kann, was es schon gibt, was man aber braucht, und man sollte sie einfach fragen, was sie brauchen.
Da sind viele politische Formate denkbar: die Förderung der Miete für die Dorfkneipe, Vereinsförderung oder Ähnliches, zum Beispiel auch die Restaurierung eines Herrenhauses - in Brandenburg stehen da übrigens sehr viele noch rum, aus denen man gut etwas machen kann – ein soziales Zentrum, wo auch Ärzte sind, wovon die Bevölkerung eben was hat, aber auch ein Ort, wo man sich ganz natürlich begegnet und miteinander austauscht.
Eine ältere Frau hat einen Laptop auf dem Schoss und tippt darauf
Landtagswahl in Pandemiezeiten - Wahlkämpfende Senioren vor dem Bildschirm
Wahlkampf in der Fußgängerzone ist in Coronazeiten wenig erfolgversprechend. Das zwingt viele ältere Wahlkämpfer vor die Bildschirme - oder zurück zur althergebrachten Telefonkette.
Fischer: Schauen wir mal auf die Ebene dazwischen: Wir haben jetzt schon einige Landtagswahlen erlebt, haben Sie da beobachten können, wie das funktioniert? Es gibt ja alles Mögliche an seltsamen Wahlkampfstrategien. Das Klingeln an der Haustür funktioniert vielleicht nicht mehr so gut, der Stand in der Fußgängerzone kann funktionieren oder auch nicht, es wurden Gewinnspiele, Koch-Streams im hessischen Kommunalwahlkampf zum Beispiel organisiert. Funktioniert so was oder eher nicht Ihrer Meinung nach?
Manthe: Momentan funktionieren solche digital unterstützten Formate, glaube ich, ganz gut, weil wir alle zu Hause sitzen und wenig zu tun haben, und da kann man sich abends, anstatt Bier mit den Freunden in der Kneipe zu trinken, auch noch mal einen Koch‑Stream der hessischen Grünen beispielsweise zuschalten. Ich glaube, das führt auch zu Innovationen im Wahlkampf, die es in anderen Ländern, beispielsweise in den USA, die schon sehr lange auf digitale Wahlkampfansprachen setzen, funktionieren. Und gleichwohl wird es nie ersetzen die direkte Ansprache der Menschen vor Ort, die jetzt nur sehr begrenzt, aber doch ein bisschen stattfindet.

Hinterzimmerabsprachen funktionieren jetzt schlechter

Fischer: Wagen Sie eine Prognose, wie das mit der Bundestagswahl werden wird in der Pandemie? Natürlich wissen wir nicht, was für Bedingungen die Infektionszahlen in den kommenden Wochen liefern werden, wie die Impfkampagne vorankommt, aber so eine Aufstellung von Bundestagskandidaten und -kandidatinnen ist ja ein komplexes Verfahren, bei dem viele Leute miteinander reden müssen. Meinen Sie, das wird seinen Gang gehen können?
Manthe: Die Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten für die Landtags- und Bundestagswahlen wird irgendwie ihren Gang gehen, es ist auch ein sehr stark verrechtlichtes Verfahren, allerdings werden wir vielleicht ein paar Überraschungen erleben. Hier in Berlin haben wir gerade gesehen, dass ein paar Kandidatinnen und Kandidaten plötzlich weiter vorne auf der Liste waren, weil so bestimmte Mechanismen, die man natürlich auch kritisch sehen kann, wie Hinterzimmerabsprachen, jetzt schlechter funktionieren, weil diese Hinterzimmer schwerer zugänglich sind. Also ich glaube, es wird spannend. Ich glaube, es wird keine riesig großen Umbrüche bei diesen Kandidaten-Aufstellungen geben, weil es eben sehr stark institutionalisierte Verfahren sind.
Fischer: Meinen Sie, so eine Pandemie verfestigt Machtpositionen parteipolitischer Natur auf Landes- oder vielleicht auch Bundesebene, oder wird das langfristig eher dazu führen, dass der Zorn der Bevölkerung wächst, dass die Verhältnisse fragiler sind?
Manthe: Corona verändert ganz sicher was, weil das Verhältnis Bürger/Staat sich verändert. In den letzten 20, 30 Jahren wollten die Bürgerinnen und Bürger eher in Ruhe gelassen werden, und jetzt gibt es häufig die Forderung nach einem Staat, der sie beschützt, legitimerweise, denn es geht für einige zumindest um Leben und Tod. Ob das parteipolitisch größere Auswirkungen hat, wag ich noch nicht zu sagen. Momentan sieht es danach aus, dass die Union ein bisschen verliert als große Staatspartei, weil sich zeigt, dass das Corona-Management eben doch nicht so einfach ist – ob die Union da was falsch macht oder ob es wirklich nicht so einfach ist, wag ich nicht zu beurteilen. Aber es gibt eben auch noch andere Großtrends, wie den Aufstieg des Themas Ökologie, der den Grünen zuspielt, oder der Niedergang der Sozialdemokratie, den man in verschiedenen Ländern sieht.
Fischer: Ihr Fazit: Knapp ein Jahr von Corona haben wir jetzt hinter uns, je nachdem, wie man’s rechnet, von Lockdown zu Lockdown. Was haben wir gelernt?
Manthe: Viele Menschen haben Digitalkompetenz mitbekommen in diesem einen Jahr, oft gezwungenermaßen und auch gegen innere Widerstände. Ich glaube, viele Leute sind sozial depriviert, weil sie nicht in der Lage waren, die Menschen oder so viele Menschen aus der Nähe zu erleben wie vorher. Und ich glaube, wir haben gelernt, dass Politik einen großen Einfluss auf unser Leben haben kann, eben mit jeder neuen Corona-Verordnung, die sehr tief eingreift in unsere Grundrechte, in unser Sein, in unser alltägliches Leben.
Fischer:: Haben wir auch etwas verlernt, dass wir uns mühsam werden erarbeiten müssen nach der Pandemie?
Manthe: Verlernt haben wir, einander zu begegnen, und müssen diese Eindrucksfülle wieder verarbeiten lernen. Wir haben aber vielleicht auch ein bisschen gelernt, die Positionen von anderen Menschen ernst zu nehmen, denn es fällt uns im Digitalen leichter, eine andere Position zu verdammen, als wenn uns die Person gegenübersitzt, und dieses Aushalten von Andersartigkeit, von Diversität ist hoffentlich etwas, was ganz schnell wiederkommt in diesem Sommer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.