In der Öffentlichkeit sei in den vergangenen Wochen und Monaten der Eindruck entstanden, dass die Fachleute aus der Wissenschaft beinahe täglich ihre Meinung änderten – darüber, wie das Coronavirus übertragen wird und auf welchem Wege sich die Pandemie ausbreitet, sagt der Epidemiologe Justin Lessler. "Ich will jetzt nicht behaupten, dass wir bereits alles wüssten und verstünden hinsichtlich der Ausbreitung. Aber wenn wir etwas Neues entdecken, dann wird unser Wissen dadurch bloß vertieft – und nicht komplett umgekrempelt."
Die Motoren, die die Pandemie antreiben
Um diese Fehlwahrnehmung gerade zu rücken, hat er nun zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health eine kurze Übersichtsarbeit veröffentlicht. Im Fachmagazin "Science" erklärt das Team, wie die "Motoren" funktionieren, die die Pandemie antreiben. Eine Schlüsselrolle spiele dabei die Überdispersion, ein statistisches Phänomen. Im Zusammenhang mit COVID-19 beschreibt es die Beobachtung, dass die Menschen, die sich angesteckt haben, das Virus nicht alle im gleichen Maß weitergeben. Bloß zehn Prozent der Infizierten seien verantwortlich für rund achtzig Prozent aller Übertragungen, erläutert Justin Lessler.
"Das hilft uns, einige Phänomene zu erklären, die wir beobachtet haben. Zum Beispiel zu Beginn der Pandemie. Da breitete sich das Virus in China rasend schnell aus. Aber in Europa und den USA gab es noch keine Spur eines Anstiegs. Das liegt daran, dass die Überdispersion dafür sorgt, dass es länger dauert, bis das Virus an einem neuen Ort Fuß fasst. Und Überdispersion erklärt andererseits auch, dass sich das Virus in manchen Regionen dann schlagartig verbreitete, etwa in Italien oder New York."
Infektionsrisiko im Haushalt sechsfach höher
Denn dort sei es durch einige wenige Überträger zu Beginn zu Superspreading-Ereignissen gekommen, die die Ausbreitung der Seuche stark beschleunigt haben. Beschreiben ließe sich dieses Muster auch anhand der Netzwerktheorie. Die Basis des Ansteckungsnetzes besteht aus den persönlichen Kontakten von Mensch zu Mensch. Freundinnen und Freunde, die Menschen am Arbeitsplatz und natürlich die Familie. So sei es nicht verwunderlich, wenn es zu Hause zu den meisten Ansteckungen komme.
"Wenn man mit anderen Menschen in einem Haushalt lebt, ist das Infektionsrisiko sechsfach höher als bei anderen engen Kontakten. Aus der Zahl der Kontakte und dem relativen Ansteckungsrisiko können wir eine grobe Überschlagsrechnung durchführen. Demnach finden die Hälfte bis zwei Drittel aller Übertragungen des Virus im Haushalt statt."
Würde sich das Virus nur im häuslichen Umfeld ausbreiten, käme die Pandemie bald schon zum Erliegen. Aber jeder Mensch steht auch noch mit anderen Netzwerken in Verbindung.
Die Achillesverse der Pandemie
"Die eng geknüpften privaten Netze stehen in Kontakt mit denen innerhalb der Gesellschaft. Und die gesellschaftlichen Netze wiederum mit den globalen Reiseverbindungen. Wichtig ist, dass diese Netze nur zum Teil statisch sind. Die Familienangehörigen, die Leute, die man täglich sieht: dieser Teil ändert sich nicht. Aber wen man in der Öffentlichkeit trifft an täglich neuen Orten, das wechselt natürlich ständig."
Daraus ergeben sich oft überraschend kurze Verbindungen und damit Ansteckungswege zwischen Individuen, die eigentlich weit voneinander entfernt wohnen. Diese Kleine-Welt-Netzwerke erklären zum Beispiel, warum frühzeitige Reisebeschränkungen die Ausbreitung des Coronavirus zwar bremsen konnten, aber nicht aufhalten.
Hinzu kommt: Die Verbindungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten, den einzelnen Personen, sind nicht gleichmäßig verteilt. Der Zusammenhalt des gesamten Gebildes wird von einigen hoch vernetzten Knoten dominiert. Also von Menschen, die über eine Vielzahl von Kontakten innerhalb der Gesellschaft verfügen. Werden sie infiziert, droht ein Superspreading-Ereignis. Darin spiegelt sich die Überdispersion. Unglücklicherweise gelten Netzwerke dieser Art als relativ robust gegenüber zufälligen Störungen. Sie besitzen aber doch eine Achillesferse:
"Man muss gezielt diese hochvernetzten Knotenpunkte in Visier nehmen, also die Umstände und Orte, wo Menschen mit vielen anderen in Kontakt kommen, wie etwa Massenveranstaltungen. Wenn man die aus dem Geflecht herausnimmt, kann man sehr viel erreichen, um die Seuche unter Kontrolle zu halten."
Theoretisch ist also ziemlich klar, wie sich die Treiber der Pandemie stoppen ließen. Die praktische Umsetzung dieser Erkenntnisse ist leider nicht so einfach.