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Paolo Flores d’Arcais: Die Demokratie beim Wort nehmen. Der Souverän und der Dissident

Nicht einmal die Hälfte der Bürger Europas ist zur Wahl des europäischen Parlaments gegangen, in manchen Ländern waren es sogar noch weniger als ein Drittel. Einmal dahin gestellt, ob diese Nichtwähler nur unpolitisch sind oder den zur Wahl stehenden Parteien und Politikern ohnehin nichts Vernünftiges mehr zutrauen, bleibt die Frage, was die Verweigerung der Teilhabe am politischen Prozess für die Demokratie, die Volksherrschaft, bedeutet. Wenn der Souverän sich von der repräsentativen Demokratie so offensichtlich abwendet, müssen die Gesellschaften darüber nachdenken, wie das Interesse der Bürger an der Beteiligung am politischen Prozess geweckt werden könnte. Andernfalls wäre zumindest der Begriff Demokratie für die sich durchsetzende Form von Konzern- und Parteienherrschaft kaum noch zutreffend. Kein Zufall vielleicht, dass gerade im Berlusconi-Italien eine rege Debatte über Demokratie und Dissidenz im Gange ist, dem Land, in dem das von den politischen Interessen der Regierenden recht schamlos beherrschte Fernsehen am Abend der Europawahl nicht einmal gemeldet hat, dass Berlusconis Forza Italia an Stimmen verloren hatte und stattdessen Siegesstimmung für die Regierungspartei zu verbreiten suchte. Der Philosoph Paolo Flores d’Arcais, einer der Wortführer der außerparlamentarischen Anti-Berlusconi-Bewegung in Italien, verlangt in seinem jetzt auch auf Deutsch erschienenen politisch-philosophischen Essay über den Souverän und den Dissidenten die Demokratie beim Wort zu nehmen. Doch was bedeutet das praktisch? Bernd Leineweber hat das Buch für uns besprochen:

Von Bernd Leineweber |
    Seit einiger Zeit wissen wir es: Die Begründung für den Krieg im Irak ist eine Lüge. Die Waffen, die angeblich den Weltfrieden und besonders die demokratischen Länder des Westens bedrohen, existieren nicht. Nicht die Politik des bekriegten Regimes, sondern die der kriegführenden demokratischen Staaten ist die eigentliche Bedrohung, nicht nur weil sie den Hass schürt, sondern weil sie auf Lügen beruht.

    Wie alle, die finden, dass es in unseren Demokratien nicht demokratisch zugeht, betreibt auch unser Politikerschelte: Korruption, Parteienherrschaft, Wahlkampfspenden, politische Einflussnahme durch Medienkonzentration, Fernsehdemokratie, Privatisierung der politischen Öffentlichkeit seien der politischen Klasse anzulasten, nicht dem politischen System. Aber er fragt weiter: Wie schafft es die politische Klasse, die Bürger, die nicht selbst Berufspolitiker sind, mindestens de facto von der Macht auszuschließen? Weil die Bürger die Demokratie zu wenig "beim Wort nehmen", dem Wort, das die Ausübung der Macht durch die Gesamtheit aller einzelnen Bürger bedeutet. Das Grundelement der Demokratie ist, so Flores d’Arcais, das Individuum. Dass politische Programme durch Mehrheitsentscheidungen bestimmt werden, sei kein Widerspruch zur politischen Vorrangstellung des Individuums: Nur wenn jeder einzelne seine und sei es noch so abweichende Meinung mit der Aussicht, die politische Öffentlichkeit zu erreichen, uneingeschränkt äußern könne und von der Mehrheit nicht nur geschützt, sondern ermutigt werde, seiner Meinung Ausdruck zu geben, sei eine Demokratie lebendig. Das setze voraus, dass jeder einzelne meinungs- und entscheidungsfähig sei. Daher müsse eine Demokratie dafür sorgen, dass jeder einzelne gesund und nach den kulturellen Standards menschenwürdig leben könne und über ein bestimmtes Bildungsniveau verfüge, damit er Informationen selbständig verarbeiten und bewerten könne. Ferner müssten die Medien pluralistisch organisiert sein, Fernsehsendezeiten bei Wahlkämpfen unabhängig von Einfluss und Finanzkraft der Bewerber vergeben werden, die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet sein und so weiter.

    Die Demokratie ist die Form des Zusammenlebens, in der die Macht jedem einzelnen gehört... Wo die Macht jedem einzelnen gehört, gehört der einzelne nicht der Macht. Das Individuum gehört nicht zu der Gemeinschaft, in der es auf die Welt kommt, sondern konstituiert sie ... kraft seiner eigenen Freiheit. Es bringt sie hervor, ist ihr Schöpfer. Die Freiheit des Individuums existiert zuerst. Und im Sinne der Demokratie existiert das Volk juristisch und faktisch nicht mehr, wenn die Pluralität der unverwechselbaren Existenzen, die sie konstituieren, gefährdet ist. Sobald der mystische Schleier weggezogen wird, ist das souveräne Volk nichts anderes als die Freiheit/Macht dieser Pluralität unverwechselbarer Existenzen. Jede politische Ordnung, die diese Existenzen vereinheitlicht und unterwirft, öffnet sich bereits der Heteronomie des Totalitarismus und verfällt ihm.

    Die Pointe von Flores’ formaler Demokratietheorie ist nun, dass er die politische Autonomie des Individuums mit dem Begriff des Dissidenten umschreibt und aktualisiert. Politische Partizipation setze voraus, dass jeder seine eigene Meinung höher bewerte als die von gesellschaftlichen Gruppen und Parteien, von Mehrheiten eben, die zum Konformismus nötigen. Die eigene und gegebenenfalls abweichende Meinung, nicht die organisierte, sei das demokratische Lebenselement. Ein Demokrat müsse sich daher als potentiellen Dissidenten begreifen. Die Figur des Dissidenten ist bekannt: Sie ist populär geworden im nachstalinistischen Osteuropa. Vielerorts haben Dissidenten den Auflösungsprozess der kommunistischen Parteiherrschaft artikuliert und beschleunigt. Ein Dissident war jemand, der gegen das System eine abweichende politische Existenz zu führen versuchte. Er war kein Oppositioneller, er verstand sich nicht als Erneuerer der Partei und des sozialistischen Systems, sondern er wollte, wie es ein prominenter Dissident, Vaclav Havel, formulierte, "in der Wahrheit leben". Er wollte die Lügen der Parteipropaganda nicht mitmachen, sondern in Übereinstimmung mit sich selbst und nach den ethischen Werten des Sozialismus leben, ohne diesen Begriff noch länger zu gebrauchen, weil er entwertet, verunstaltet und geschändet war.

    Der Fall der Mauer, zu dem die massenhafte Dissidenz des "Wir sind das Volk" nicht unerheblich beitrug, hat auch in der westeuropäischen Linken den Blick für die politischen Grundbegriffe neu geschärft. Wenn Flores die Herrschaft der politischen Lüge angreift, die den demokratischen Prozess ruiniert, und in diesem Sinn von "real existierenden Demokratien" spricht, dann ist seine Absicht klar: die Demokratien des Westens, in denen nicht mehr auf die Unfreiheit im Osten verwiesen werden kann, damit ihre eigenen Unfreiheiten klein geredet werden können, sind im Hinblick auf die vielfältigen Ausschlüsse der Bürger von der Politik den verlogenen "Volksdemokratien" der Länder des "real existierenden Sozialismus" natürlich nicht gleich, wohl aber mit ihnen vergleichbar. Wie Havel schon 1980 schrieb:

    Sind wir nicht eigentlich - auch wenn wir nach den äußerlichen Wertskalen der Zivilisation so tief im Rückstand sind - in Wirklichkeit eine Art Memento für den Westen, indem wir ihm seine latenten Richtungstendenzen enthüllen?

    Flores’ Aufforderung, die Privatisierung der politischen Öffentlichkeit durch die Berufspolitiker einem demokratiekritischen Vergleich mit der totalitären Vereinnahmung der Politik durch die Parteiherrschaft in den ehemals sozialistischen Ländern zu unterziehen, ist sicher durch seinen Blick auf Italien geschärft. So denkt er beim "Souverän" nicht nur an das "Volk", sondern auch an den "Fürsten", um die Tendenz zur Privatisierung der politischen Öffentlichkeit im Rückgriff auf Macchiavelli zu pointieren. Aber diese Tendenz zeigt sich in allen heutigen Demokratien. Und diese sind seit neuestem nicht mehr auf den "Westen" beschränkt. Flores’ Streitschrift ist nicht nur ein glänzender politisch-philosophischer Traktat. Sie kann auch wie ein Manifest für ein nach Osten erweitertes Europa gelesen werden, für dessen fortschreitende Vereinigung und Demokratisierung die osteuropäischen Erfahrungen mit einem undemokratischen System genutzt werden sollten.

    Bernd Leineweber besprach: Paolo Flores d’Arcais, "Die Demokratie beim Wort nehmen - Der Souverän und der Dissident", aus dem Italienischen von Friederike Hausmann übersetzt, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Das Buch hat 139 Seiten und kostet 10,90 Euro.