Jürgen Liminski: Morgen werden auf dem Petersplatz und in den umliegenden Straßen Hunderttausende, vielleicht auch mehr als eine Million Menschen zusammenkommen, um der Heiligsprechung der zwei Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. beizuwohnen. Vielleicht sind es auch zwei Millionen, solche großen Ereignisse wie jetzt oder auch die Weltjugendtage mit Millionen Jugendlichen machen jedenfalls sichtbar, dass es sich bei der katholischen Kirche um einen Global Player handelt, um einen Riesen. Für den Bestsellerautor und Psychotherapeut Manfred Lütz handelt es sich allerdings um einen blockierten Riesen. Und so heißt auch sein neustes Buch, das den Untertitel trägt: "Psycho-Analyse der katholischen Kirche". Er vergleicht darin die Kirche mit einem Alkoholkranken und rät, sie entsprechend zu behandeln. Er ist selber katholisch, sogar Diplomtheologe und zurzeit in Rom. Dort haben wir ihn in ein Studio gelotst, offensichtlich völlig nüchtern, guten Morgen, Herr Lütz!
Manfred Lütz: Guten Morgen, Herr Liminski!
Liminski: Herr Lütz, wie kommen Sie als Theologe auf die Idee, die katholische Kirche, eine Institution mit zwei Jahrtausenden Erfahrungen von allen möglichen menschlichen Abgründen, mit einem Alkoholkranken zu vergleichen? Inwiefern benimmt sich die Kirche wie ein Alkoholkranker, geben Sie uns doch mal eine Kurzdiagnose!
Lütz: Also, ich war lange Zeit, ich arbeite an einer Suchtklinik und da ist mir aufgefallen, dass einfach in der katholischen Kirche ähnliche Phänomene herrschen wie in Alkoholikerfamilien. Also Spaltungen, die Leute sind alle total gestresst, es wird nur noch geklagt und gejammert. Und das ist gerade in Deutschland ein ganz typisches Phänomen. Und da in Deutschland vor allem so veraltete Psychotherapiemethoden, die klassische Psychoanalyse und so etwas, auf die katholische Kirche von Theologen zum Beispiel angewandt wurden, fand ich es interessant, mal moderne Sichtweisen der Psychotherapie auf die katholische Kirche anzuwenden. So ist dieses Buch "Der blockierte Riese" eine Einführung in die moderne Psychotherapie einerseits -und das nicht die Psychoanalyse, also systemische, lösungsorientierte Methoden - und andererseits eine Einführung in die katholische Kirche, was sie wirklich ist, was auch ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten sind.
Liminski: Was kann man denn mit diesem Patienten dann tun, wie sieht denn die Therapie aus?
"Zweit-, dritt- und viertrangige Themen"
Lütz: Das alte Prinzip der Einheit in Vielfalt zum Beispiel ist das Geheimnis dieser Kirche. Dass eine solche Institution, wie Sie gerade zu Recht gesagt haben, 2000 Jahre existiert, eine religiöse Institution, wo die Leute ja bei religiösen Überzeugungen schon sehr überzeugt sind von ihrer Position, das ist eigentlich schon in sich ein Wunder, dass sie nicht immer wieder in verschiedene Teile auseinandergebrochen ist. Und da muss man mal gucken, wie hat die Kirche das gemacht und wie kann man das vielleicht nutzen für die heutige Situation? Gab es zum Beispiel den Gnadenstreit im 16. Jahrhundert zwischen Jesuiten und Dominikanern, und der Papst hat nachher nach zehn Jahren heftigster Debatte entschieden, wer künftig behaupten sollte, die Dominikaner seien Irrlehrer sei aus der Kirche ausgeschlossen, und wer künftig behauptet, die Jesuiten seien Irrlehrer sei aus der Kirche ausgeschlossen. Und wie es sich wirklich um die Gnadenlehre verhält, das wird der Heilige Stuhl zu gegebenem Zeitpunkt mitteilen, Unterschrift, die Mitteilung ist bis heute nicht erfolgt. Das heißt, man muss unterschiedliche Auffassungen in dieser Kirche haben können, von der Gnadenlehre, von vielen anderen Dingen, und trotzdem sich katholisch fühlen. Natürlich gibt es einige Dinge, die zur Substanz gehören, der Glaube an Jesus Christus, der Glaube an Gott, das ist klar. Aber die Themen, die wir zum Beispiel in Deutschland häufig in der Öffentlichkeit diskutieren, sind für die katholische Kirche und auch für gläubige Katholiken zweit-, dritt- und viertrangig.
Liminski: Sie sprachen eben von der systemischen Theorie, einer modernen Theorie in der Psychoanalyse, also in der Psychotherapie. Was wären denn die Kräfte der systemischen Theorie, die den Patienten aus seiner Misere ziehen und befreien könnten?
Lütz: Ich habe dieses Buch ja mit Papst-Franziskus-Update versehen, wie das so etwas modern heißt, und habe Schriften von Papst Franziskus, vor allem "Evangelii Gaudium", diese tolle Schrift, die er jüngst herausgebracht hat, mal in dieses Buch integriert. Und da schreibt der Papst, wir müssen mehr wieder missionarische Kirche sein. Missionarisch, das war vor 20 Jahren in der katholischen Kirche, als ich noch Theologie studiert habe, ein Schimpfwort geradezu, Gottes Willen, bloß nicht missionarisch sein, die Leute bloß bei ihrer Meinung lassen! Nein, wir müssen eine missionarische Kirche sein! Wenn wir als Christen wirklich der Überzeugung sind, dass der Glaube an Jesus Christus der wahre Glaube ist und dass er auch zum Glück führt, dann müssen wir das doch anderen Menschen auch mitteilen und nicht egoistisch für uns behalten! Und das sagt der Papst. Und der Papst sagt auch, wir müssen an die Ränder gehen, den Menschen in Not beistehen. Und da sind die üblichen Kirchenstreitigkeiten zwischen Progressiven und Konservativen angesichts eines Menschen in Not völlig lächerlich! Und auch bei der Frage, wie man den Glauben verbreitet! Ich habe vielfach mit Gremien diskutiert, wo es Progressive und Konservative gab: Sobald Eltern darüber erzählen, wie sie ihren Kindern den Glauben weitergegeben haben, sind die Progressiven außerordentlich aufmerksam zu hören, was den Konservativen da eingefallen ist, und die Konservativen sind interessiert, was den Progressiven eingefallen ist. Das heißt, wenn wir wieder über das Wesentliche mehr reden - und das tut Papst Franziskus und das haben auch die beiden Päpste, die morgen heiliggesprochen werden, getan, Papst Johannes XXIII. und Papst Johannes Paul II. -, dann, wenn wir über das Wesentliche reden, dann wird das Christentum wieder ausstrahlen, wie es das in vielen Ländern tut und in Deutschland, man hat den Eindruck, langsam auch wieder tut.
Liminski: Könnten sich denn die guten Kräfte nicht gegenseitig neutralisieren oder eben blockieren, um an den Titel Ihres Buches zu erinnern? Ich denke da zum Beispiel an eben die beiden genannten Päpste, die morgen heiliggesprochen werden: Der eine wird in den Medien als volksnah und der Zukunft zugewandt beschrieben, der andere als reformresistent.
"Was brauchen denn die Menschen außerhalb der Kirche?"
Lütz: Ja, und beides ist natürlich nicht wahr. Ich habe mich jetzt stärker mit Papst Johannes XXIII. noch mal beschäftigt, das ist ja von der Grundstruktur ein ganz konservativer Bauernsohn gewesen, der auch ganz konservativer Theologe war, der hat noch eine Erklärung abgegeben, dass Priester hier in Rom nicht in Theater gehen dürfen, nicht ins Schwimmbad gehen dürfen und dass möglichst alle Dogmatikvorlesungen auf Latein zu halten sind. Das klingt sehr, sehr konservativ, aber er ist ein Mensch gewesen, der zugleich in sich diese ungeheure Weite hatte und diese Liebenswürdigkeit hatte, mit der er in die Welt hinausgestrahlt hat. Und Papst Johannes Paul II. war einer der modernsten Päpste in vieler Hinsicht, hat sich mit moderner Philosophie beschäftigt, mit moderner deutscher Philosophie zum Beispiel, obwohl er selbst deutsche Zwangsarbeit erleiden musste, ist wirklich ein beeindruckender moderner Denker gewesen. Und das zu entdecken, das ist ja auch die Chance bei so einer Heiligsprechung, die morgen stattfindet, dass Menschen mal vielleicht mit ein bisschen Abstand sich Schriften von Johannes XXIII., ich habe jetzt sein "Geistliches Tagebuch" zum Teil gelesen ... sehr beeindruckend, wie fromm dieser Mann war und wie er immer wieder versucht hat, heilig zu werden. Nicht im Sinne von Ehrgeiz, sondern im Sinne von Demut und Bescheidenheit, nicht so viel Eigenliebe, hat er sich immer wieder aufgeschrieben. Und das "Geistliche Tagebuch" von Johannes Paul II. erscheint jetzt auch in diesen Tagen. Das sind Texte, die nicht einfach nur theoretisch sind, sondern die einen selber weiterbringen. Und die Lösung für die Kirche ist, dass die Konservativen nicht immer nur mit hoher Intellektualität gegen die Progressiven schreiben oder reden, und die Progressiven gegen die Konservativen, sondern dass man gemeinsam mal schaut, was brauchen denn die Menschen außerhalb der Kirche, was interessiert Menschen, was bedrückt Menschen? Und darauf zu antworten und das auf eine gute Weise zu tun, sodass Menschen das verstehen, das macht Papst Franziskus uns allen vor und das müssen wir bloß nachmachen.
Liminski: Haben Sie Johannes Paul II. mal Ihre These unterbreitet? Den haben Sie ja wohl kennengelernt!
Lütz: Also, mit Papst Johannes Paul II. habe ich nicht über Alkoholikerfamilien gesprochen. Ich habe ihn kennengelernt im Rahmen von Tätigkeiten, die ich im Vatikan hatte, aber jeweils nur im kurzen Gespräch. Aber es war ein Mensch, der wirklich eine unglaubliche Ausstrahlung hatte. Viele Menschen haben gesagt, das habe ich auch gespürt, wenn er den Raum betrat, dann war der Raum gefüllt sozusagen von seiner Kraft auch. Das ist ein Mensch, der eine enorme Kraft ausstrahlte und auch bei Millionen, in Polen zum Beispiel, bei seinen ersten Reisen, diese Kraft ausstrahlte, sodass die Menschen plötzlich mal links und rechts neben sich sahen und sagten, wir sind ja gar nicht alleine, wir sind ja Tausende, wir sind ja Millionen! Und das hat dann die große Befreiung in Osteuropa befördert.
Liminski: Was würden Sie denn einem normalen Katholiken raten? Es sind ja nicht alle zwei Millionen morgen rund um den Petersplatz krank. Muss man den normalen Gläubigen therapieren?
Ein Ding namens "Youcat"
Lütz: Nein, das glaube ich eben nicht. Das ist natürlich eine bisschen ironische Formulierung, "der blockierte Riese, Psycho Gedankenstrich Analyse der katholischen Kirche". Der Gedankenstrich ist sehr wichtig, weil, es geht nicht um Psychoanalyse, sondern um moderne Therapieformen. Ich glaube, die Kirche ist eigentlich ganz gesund, und man muss diese gesunden Seiten der Kirche sehen. Natürlich hat jeder seine Macken, Sie haben die auch, ich habe die auch, jeder hat die, aber wenn wir dauernd nur über unsere Macken reden, dann halten wir uns nachher auch für krank, was wir aber gar nicht sind in Wirklichkeit. Das heißt, wir müssen sehen, wo laufen denn heute tolle Sachen? Ich bin im Päpstlichen Laienrat, da erzählt uns unser koreanisches Mitglied, die müssen in Südkorea nachts die Kirchen aufhalten, um die Erwachsenentaufen überhaupt hinzukriegen. In Chicago gibt es 40.000 Erwachsenentaufen innerhalb von zehn Jahren, in Frankreich eine Verzehnfachung der Erwachsenentaufen. Wir haben in Deutschland zum Beispiel den "Youcat", den Jugendkatechismus der katholischen Kirche, haben deutsche Priester und Laien geschrieben, der ist inzwischen in über drei Millionen Exemplaren in 30 Sprachen übersetzt, weltweit, wo man in einem kleinen Buch - das ist auch für Erwachsene geeignet - einfach mal das Wesentliche des katholischen Glaubens lesen kann. "Youcat" heißt das Ding. Oder es gibt bei uns "Nightfever", das hat es gestern Abend in Rom auch gegeben, sehr eindrucksvoll in der Kirche Santa Maria dell'Anima, das gibt es in Deutschland in allen großen Städten. Die Menschen wollen beten. Das sind Menschen, die manchmal gar nicht unbedingt sonntags in die Kirche gehen, aber die Anliegen haben, für die sie beten wollen. Und das kann man bei diesem "Nightfever".
Liminski: Das sind Beispiele aus dem Ausland. Sie sind Chefarzt und Kabarettist, ist ja doch eine merkwürdige Kombination. Nehmen Sie denn die deutschen Bischöfe und Pfarrgemeinderäte noch ernst?
Lütz: Also, natürlich nehme ich die ernst. Aber manchmal geht es auch ein bisschen zu ernst in der Kirche zu, das muss man auch sagen. Und ich finde, ein bisschen Humor, ein bisschen Abstand ... Chesterton hat gesagt, Religion und Humor haben viel miteinander zu tun, man kann mit ein bisschen Abstand das Leben besser betrachten. Und die Phänomene, die ich eben beschrieben habe, das sind ja durchaus deutsche Phänomene. Dass gerade eine deutsche Gruppe den "Youcat", diesen Jugendkatechismus erfunden hat, dass "Nightfever", diese Anbetungsbewegung, die inzwischen auch in 30 Ländern der Welt existiert, in Bonn, in Deutschland also erfunden worden ist und sich von da aus ausgebreitet hat, darauf mehr zu achten, mehr darüber zu reden, mehr darüber zu berichten, das macht das Christentum auch für andere Menschen wieder attraktiver und macht es zu einer möglichen Antwort auf die Fragen, die die Menschen heute nach wie vor haben, wie vor 2000 Jahren.
Liminski: Sagt Manfred Lütz, Psychotherapeut und Bestsellerautor. Sein neustes Buch heißt "Der blockierte Riese. Psycho-Analyse der katholischen Kirche". Besten Dank für das Gespräch, Herr Lütz!
Lütz: Bitte schön, Herr Liminski!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.