Levent Aktoprak: Das lange mit Spannung erwartete Apostolische Schreiben von Papst Franziskus zur Amazonas-Synode wurde gestern veröffentlicht. Das Papstschreiben erntete in kurzer Zeit, besonders in den sozialen Medien, viele Reaktionen, überwiegend Kritik und Enttäuschung. In dem gut 50 Seiten langen Abschlussdokument "Geliebtes Amazonien" geht es im ersten Teil um Umwelt und den Schutz des größten Regenwaldes der Welt und im zweiten Teil mit Blick auf Reformen auch um die Rolle der Frauen in der Kirche und die Priesterweihe von verheirateten Männern. Was das nachsynodale Papstschreiben für Auswirkungen auf die weitere Reformdebatten und den synodalen Weg in Deutschland hat, darüber möchte ich jetzt mit dem Theologie-Professor Daniel Bogner von der Universität Fribourg in der Schweiz sprechen.
Herr Bogner, lassen Sie uns zunächst über den ersten Teil des Dokuments sprechen, über die Träume und Visionen von Franziskus für soziale und ökologische Gerechtigkeit. Das große Engagement der katholischen Kirche für den Amazonas, für die indigene Bevölkerung ist eigentlich bekannt, was ist jetzt neu daran?
Daniel Bogner: Sehr viel ist nicht neu, es wird einfach nochmal in der Form dieses Dokumentes offiziell gemacht, vor allem die langjährige Praxis der katholischen Kirche an der Seite und im Kampf für die Lebensbedingungen auch indigener Völker in Amazonien. Es sind viele Gedanken in diesem Dokument enthalten, die schon in der Enzyklika "Laudato Si" von Papst Franziskus vor einigen Jahren enthalten waren. Die Kirche zeigt sich an der Stelle als ein ganz sensibler und wacher Akteur und Mitkämpfer für die Lebensbedingungen in Amazonien und fordert zu Recht Aspekte eines gerechten Wirtschaftens ein, eines Gleichgewichts zwischen Ökologie und Ökonomie, das Menschen gleiche Lebensbedingungen und gerechte Lebenschancen ermöglicht.
Der Tag gestern war sicher kein guter für den brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, weil ihm die katholische Kirche als noch recht starker Akteur in die Arme fällt, ins Wort fällt und sagt: Die natürlichen Grundlagen sind nicht einfach nur dazu da, Profit zu machen und ausgebeutet zu werden, sondern sie sind in erster Linie dazu da, Lebenskontext für Menschen zu sein und man muss sensibel mit ihnen umgehen. Die ersten drei Kapitel dieses Dokumentes kann ich nur loben, unterstützen und sagen: Da hat die Kirche die Herausforderung erkannt.
Aktoprak: Kann man sagen, dass die Kirche mit diesem Lehrschreiben von Papst Franziskus einer ökologisch bedrängten, wirtschaftlich ausgebeuteten, indigenen Bevölkerung eine Stimme gegeben hat?
Bogner: Ja, sicherlich, das hat sie.
"Eine ganz große Enttäuschung"
Aktoprak: In dem Text ist auch die Rede von Inkulturation. Was hat man darunter konkret zu verstehen?
Bogner: Darunter hat man zu verstehen, dass die Kirche nicht nach einem Schema X oder einem Schema F in die verschiedenen Erdteile gehen kann und überall auf die gleiche Weise ihre Botschaft verkünden kann. Sie muss schauen, wie der Kontext vor Ort ist und wie die Sprache ist, die vor Ort herrscht, und wie sie die kulturellen Sprachen, die dort herrschen, aufnehmen soll, um ihre eigene Botschaft zu übersetzen. Das ist der Kerngedanke von Inkulturation. An der Stelle ist das Dokument auch sehr stark. Es sagt: Die Kirche, die traditionell eine zentral, zentralistisch sagen manche, organisierte Kirche ist mit römischem Kopf hat sich der Aufgabe zu unterziehen, eine für Amazonien und für den dort gesprochenen, auch spirituellen Zungenschlag der Menschen ein akzeptables Sprache zu finden. Das ist eine große Herausforderung, wenn man etwa römisch-katholischer Priester ist in einem Priesterseminar war, nach einer alten, traditionellen römischen Studienordnung ausgebildet wurde. Das ist eine echte Übersetzungsleistung. Der Papst fordert in dem Dokument dazu auf, sich der Pflicht dieser Übersetzung, dieser kulturellen Übersetzung der eigenen Botschaft in die Sprache des Kontextes zu unterziehen.
Aktoprak: Herr Bogner, es gibt in Brasilien speziell am Amazonas zuwenige Priester, und viele Gläubige können die Heilige Messe selten oder auch gar nicht feiern. Außerdem machen sich mehr und mehr evangelikale Glaubensgemeinschaften dort breit. Die katholische Kirche verliert an Boden. Jetzt sagt Papst Franziskus genauso wie sein Vorgänger Benedikt: Es wird keine Auflockerung der Zölibatspflicht geben, keine verheirateten Männer werden geweiht. Die katholische Kirche steckt in einer Zwickmühle.
Bogner: Für viele Menschen in Amazonien, auch für den Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Amazonas-Synode vor einigen Monaten, ist dieses Dokument sicher eine ganz große Enttäuschung. Das Dokument bleibt in vielen Punkten deutlich zurück hinter dem, was die Amazonas-Synode gefordert hatte und worüber sie bereits nachgedacht hatte: also etwa die Zulassung von verheirateten, erfahrenen Diakonen, Männern, zu Priestern, auch die Forderung nach einem Diakonat für Frauen, eine Weiterentwicklung der kirchlichen Ämterstruktur, damit Kirche vor Ort auch präsent sein kann. Wir haben es in einem Beitrag vorhin gehört: Vielen ist der evangelikale Pastor vor Ort lieber, als der katholische Priester auf dem Dach, der 500 Kilometer weiter weg ist und einmal im Jahr nur kommen kann.
Die Amazonas-Synode war bunt, man hatte den Eindruck, die Kirche hat wirklich ein vielschichtiges Gesicht, ein buntes Gesicht. Frauen, Männer, Indios, Eingeborene waren in Rom und haben sich ausgedrückt. Da bleibt dieses Dokument eine ganz große Enttäuschung. Der Papst bietet nichts mehr an als das, was bisher schon auf dem Tisch lag. Die einzig wirklichen Empfehlungen sind: Ihr müsst tiefer im Gebet stehen. Lateinamerikanische Bischöfe sollen ihre eigenen Priester mehr nach Amazonien in die Mission schicken, anstatt sie nach Europa und Nordamerika gehen zu lassen. Und man muss die Priester besser ausbilden für diese Aufgabe. Das ist nicht wirklich ein Angebot.
Härte gegenüber Frauen
Aktoprak: Auch die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands KFD hat das Papstschreiben zur Amazonas-Synode als enttäuschend bezeichnet. Das vorliegende Papier sei ein herber Schlag für alle Frauen, die auf ein starkes Signal zur Gleichberechtigung in der katholischen Kirche gehofft haben. So steht es da. Verstehen Sie die Enttäuschung der Frauen?
Bogner: Die verstehe ich sehr gut. Was der Papst in dem Dokument jetzt äußert, ist, dass er das traditionelle, hochumstrittene Amtsverständnis nochmal in Erinnerung ruft, wonach eben nur Männer in der Lage sind, Christus zu repräsentieren als Priester. Den Frauen wird hingegen recht paternalistisch gesagt: Ihr braucht das geweihte Amt gar nicht anzustreben. Eure Macht liegt ja anderswo, in hingebungsvollem Dienst, in leidenschaftlichem Glauben. Das mussten sich Frauen immer schon anhören, und aus dem Mund von Papst Franziskus klingt es schon noch mal ein bisschen härter.
Er setzt noch einen drauf und sagt: Sich um solche Fragen nach Ämterzugang zu kümmern, sich dafür zu interessieren, das sei reiner Funktionalismus. Man bleibe in einer zu kurz greifenden Dialektik verfangen und verkenne die wahre Berufung von Mann und Frau.
Man fragt sich an der Stelle: Hat der Papst denn wirklich kein Bewusstsein davon, wie sehr dieses Modell einer hierarchisch gegliederten Kirche, dass das Bauprinzip der Geschlechterdiskriminierung fest eingebaut hat, viele gläubige Menschen heute zutiefst empört. Denn es vermittelt den Eindruck, dass diese Kirche eigentlich Konstruktionsprinzipien folgt, die gegen die tiefsten Impulse der biblischen Botschaft stehen. Die biblische Botschaft handelt jedoch von der gleichen Würde aller und spricht von Gottes Befreiungshandeln am Menschen.
"Laien beraten, Geweihte entscheidet"
Viele Menschen erleben heute die Kirche als einen Ort, von dem man sich befreien muss. Das ist dramatisch und sollte der Kirche sehr zu denken geben. Das Schreiben des Papstes zeigt überdeutlich, nach welchem Maßstab diese Kirche funktioniert. Laien beraten, Geweihte entscheiden - das ist für mich eigentlich die große Enttäuschung: Dass da zwar eine Amazonas-Synode stattfinden kann, mit viel bunter Beratungen. Man hat das Gefühl, da werden qualitativ gute Diskussionen geführt. Dann ist ein paar Monate Ruhe. Dann äußert sich der Papst autoritativ und greift das gar nicht auf, was dort beraten wurde.
Dort wurde mit einer Mehrheit die Zulassung von verheirateten Männern zumindest zum Priesteram beschlossen und empfohlen. Das wird gar nicht erwähnt. Im gleichen Atemzug muss man sagen: Wie werden Frauen in Verantwortung auch in der Verkündigung angefragt? Das Diakonatsamt beispielsweise für Frauen ist breit diskutiert in der Kirche. Kein Wort davon in dem Dokument. Das ist doch enttäuschend. Es wird einfach spürbar: Auch wenn viele bisher große Hoffnungen in Papst Franziskus gesetzt haben, er folgt ganz treu den bisher existierenden Prinzipien, also der Kirche als einer Monarchie, in der am Schluss einer alleine das Sagen hat. Alle Beratungen bleiben unverbindlich. Allen Beteuerungen um Synodalität zum Trotz.
"Zweckoptimismus von Kardinal Marx"
Aktoprak: Ein Theologe formuliert es folgendermaßen: Der Papst habe sich entschieden, nicht zu entscheiden. Kardinal Reinhard Marx sieht das nicht so kritisch. Er sagt, mit dem Schreiben zur Amazonas-Synode sei kein Stoppschild aufgestellt worden für weitere Reformdebatten wie den Synodalen Weg in Deutschland. Wie sehen Sie das?
Bogner: Das ist aus meiner Sicht Zweckoptimismus. Was bleibt den deutschen Bischöfen jetzt anderes übrig, als irgendwie noch zu signalisieren: "Dieses Projekt Synodaler Weg, mit dem sich die deutsche Kirche gerade aufmacht, Erneuerung und Reformen zu diskutieren, ist nicht völlig vergebens und es macht durchaus Sinn, da weiterzumachen"? Aber aus meiner Sicht gehört schon sehr viel interpretatorischer Aufwand dazu, aus diesem Dokument jetzt noch wieder eine weise Dialektik des Papstes herauszulesen, die letztlich substanzielle Reformschritte unterstützen würde. Das kann ich nicht herauslesen. Und viele Katholikinnen und Katholiken, die noch in der Kirche geblieben sind, sind gerade darüber auch enttäuscht, dass gerade dann die deutschen Bischöfe, die sich den Reformen verschrieben haben, zum großen Teil nicht klarere Worte finden.
Meine Hoffnung wäre eigentlich, dass dieses Dokument jetzt bei den deutschen reformorientierten Bischöfen für so etwas wie einen Ruck sorgt, dass sie spüren: Also wenn wir jetzt nicht mit offenem Visier kämpfen und deutlich sagen, wir folgen einer anderen Vision von Kirche als sie hier formuliert wird, dann ... Das ist ja auch die Überschrift des vierten Kapitels in dem päpstlichen Dokument, eine Vision der Kirche angeblich mutig und inspirierend, aber aus meiner Sicht sehr mutlos. Wenn die deutschen Bischöfe da nicht etwas dagegen setzen, dann sind die Aussichten doch sehr betrüblich.
Aktoprak: Sollte die Basis eigentlich noch auf die Veränderung hoffen, auf Veränderung von oben?
Bogner: Auf diesen Weg würde ich erst mal nicht setzen. Also natürlich ist es, wenn es um die Erneuerung großer Institutionen geht, hilfreich, wenn dem Drängen und dem Druck von unten auch einzelne Akteure in in der Hierarchie an anderer Stelle in Institutionen entsprechend, die diesen Druck aufnehmen und sozusagen als Türöffner dienen. Nach dem Dokument gestern ist klar: Darauf sollte man sich in der katholischen Kirche nicht verlassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.