2001 wurden die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele für 2008 nach Peking vergeben. Der Anstoß für eine paralympische Planwirtschaft. In einem Vorort von Peking wurde das weltweit größte Trainingszentrum für Behindertensport errichtet. Hunderte Förderschulen und Krankenhäuser in den Provinzen sollten fortan Jugendliche mit Amputationen an die lokalen Sportbüros melden.
So wurden jährlich mehrere Tausend Menschen für paralympische Sportarten gesichtet, erläutert der britische Wissenschaftler Stephen Hallett, der mit einer Sehbehinderung lange in China gelebt hat: „China nutzt die Paralympics, um seine nationale Stärke zu demonstrieren. Die Sportler müssen dafür jahrelang hart trainieren und in spartanischen Unterkünften leben, weit weg von ihren Familien. Eine Art Fabriksystem nach sowjetischem Vorbild.“
System der Abschottung
Zu den Paralympics in Peking 2008 hat die Volksrepublik als einer der ersten Staaten die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet. Das Ziel: Inklusion, also Gleichberechtigung und Teilhabe in allen Institutionen. Doch China setzte weiterhin auf eine Sonderrolle von Menschen mit Behinderungen.
Mit tausenden Spezialschulen und mit gesonderten Trainingsstrukturen für die Paralympier, sagt Stephen Hallett: „Der Erfolg bei den Paralympics hat kaum Auswirkungen auf den Alltag von Menschen mit Behinderung. Die Sportler werden als kleine Elite angesehen. Diejenigen, die sich nicht weiterentwickeln, werden vom System wieder aussortiert. Und die Athleten, die Medaillen gewinnen, sind oft nach ihren Laufbahnen nicht mehr ‚von Nutzen‘. Etliche von ihnen leiden dann unter Depressionen.“
Die Vereinten Nationen haben in China mehrfach angemahnt, dass neue Rampen oder rollstuhlgerechte Busse in Peking oder Schanghai nicht für ein Inklusionskonzept ausreichen. Die Kommunistische Partei und Präsident Xi Jinping weisen solche Hinweise als westliche Bevormundung zurück. Das chinesische Regime vermarktet die paralympischen Medaillengewinner als Symbolfiguren für die angebliche Fürsorge des Staates.
China bleibt großer Wachstumsmarkt
Tatsächlich ist das Gesundheitssystem in China von einem europäischen Standard weit entfernt. Die Kommunistische Partei ist darauf angewiesen, dass Familien ihre Angehörigen mit schweren Behinderungen selbst betreuen.
Nach Jahrzehnten des Wachstums hat es China mit einer alternden Gesellschaft zu tun: „Nicht jeder hat in China einen Zugang zum Gesundheitswesen. Auf dem Land gibt es noch immer Familien, die ihre Kinder mit Behinderungen verstecken. Die chinesische Regierung leistet zu wenig Aufklärung. Vor diesem Hintergrund ist es sehr problematisch, dass so viel Geld in den Elitesport fließt.“
Das Internationale Paralympische Komitee und viele westliche Paralympier meiden eine kritische Debatte über die chinesische Dominanz. Schließlich würden sie damit auch die Erzählung ihrer gesellschaftlichen Kraft relativieren. Und China bleibt ein großer Wachstumsmarkt für Sponsoren und Orthopädie-Produkte.
Auch Indien investiert viel
Noch ist unter den chinesischen Medaillengewinnern der Anteil von Sportlern mit Prothesen relativ gering, sagt der viermalige Paralympics-Teilnehmer und Orthopädietechniker Heinrich Popow: „Die haben genug andere Behinderungsarten, wo sie die Welt dominieren, deswegen müssen sie im Prothesenbereich auch gar nichts machen. Die spüren keinen Druck, die haben keinen Druck. Ich glaube, wenn sie es nötig hätten, würden sie sich damit beschäftigen.“
Über Jahrzehnte dominierten bei den Paralympics Sportler aus westlichen Industriestaaten, vor allem aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Doch seit Anfang des Jahrtausends haben vor allem die so genannten BRICS-Staaten in den paralympischen Sport investiert, neben China auch Brasilen und Russland.
Expertise aus Europa abzapfen
Jörg Frischmann, Abteilungsleiter für paralympischen Sport bei Bayer Leverkusen, rechnet mit weiteren Aufsteigern: „Und wenn Indien mit der Bevölkerung, die sie haben; die haben überproportional mehr Behinderte zu uns, auch durch ihre medizinische Versorgung, dann glaube ich, dass Indien auch im Parasport eine Weltmacht wird.“
Inzwischen sind etliche Trainer und Technikexperten in Indien aktiv. Auch der Weitsprung-Paralympics-Sieger Markus Rehm hat indische Athleten zum Thema Prothesen beraten. Die indischen Paralympier setzen also auf Expertise aus Europa. So hatten es einst auch die chinesischen Athleten gemacht. Bis sie es nicht mehr nötig hatten.