Die Paralympics als Symbol für den Fortschritt, diese Botschaft möchten die Organisatoren in ihren Werbevideos vermitteln. Und sie verweisen auf die moderne Verfassung Brasiliens von 1988. Das Land hat offiziell zwei Amtssprachen: Portugiesisch und die Gebärdensprache Libras. Brasilien gehörte zu den ersten Unterzeichnern der UN-Behindertenrechtskonvention. Barrierefreiheit, Behindertenquoten auf dem Arbeitsmarkt, das Zutrittsrecht mit Blindenführhunden – viele Details wurden festgeschrieben. Aber dieser Anspruch habe mit der Wirklichkeit wenig zu tun, sagt Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch in Deutschland.
"Besonders betroffen sind in Brasilien von Diskriminierung Menschen mit Behinderung, die schwarz sind oder aus indigenen Völkern kommen, weil die sowieso benachteiligt sind. Also in den Slums, in den Favelas gibt es eben keinen barrierefreien Zugang irgendwo hin."
Arme fühlen sich nicht respektiert
Viele Hotels und Touristenattraktionen sind barrierefrei, zumindest in Rio oder Sao Paulo. Doch für behinderte Menschen in den Elendsvierteln sind Bildung, Medizin oder gute Rollstühle unerreichbar. In einer Studie gaben achtzig Prozent der Menschen mit Behinderung an, dass sie sich nicht respektiert fühlen. Und diese Zahl dürfte weiter wachsen, denn die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wird größer. Die Gastgeber verweisen auf die technische Entwicklung im Stadtbild von Rio, von der künftig auch Touristen profitieren sollen. Maria Luiza Ribeiro Viotti ist seit 2013 Brasiliens Botschafterin in Deutschland.
"Die Paralympics sind eine große Chance, die Sichtbarkeit und die Teilhabe von behinderten Menschen zu stärken. In den vergangenen Jahren wurde die Infrastruktur deshalb verbessert. Mehr als zwei Drittel der Busse in Rio sind für Rollstuhlfahrer zugänglich, auch unsere neue Metrolinie ist barrierefrei. Wir hoffen, dass diese Effekte auf das ganze Land ausstrahlen. Und ich bin sicher, dass unsere Sportler diese Entwicklung mit Erfolgen verstärken werden."
Brasilianische Erfolgsbilanz
Im paralympischen Sport zählen die Brasilianer zu den Aufsteigern, das zeigt der Medaillenspiegel: Platz 14 in Athen, Rang 9 in Peking, zuletzt Platz 7 in London. Nun in Rio ist das Ziel Rang 5 mit Seriensiegern wie dem Schwimmer Daniel Diaz oder dem Sprinter Alan Oliveira. Die Brasilianer verfügen über den einträglichsten Sponsorenvertrag aller Paralympischen Komitees weltweit. Die Bank Caixa überweist umgerechnet 8,3 Millionen Euro im Jahr. Davon wird auch einer der weltweit größten Schülerwettbewerbe finanziert. Nun während der Spiele sollen etwa 700.000 Euro an brasilianische Medaillengewinner überwiesen werden. Der frühere Journalist Andrew Parsons ist seit zwanzig Jahren im Behindertensport aktiv, seit 2009 ist er Präsident des Brasilianischen Paralympischen Komitees.
"Als ich angefangen habe, wurden wir von der Regierung nicht wahrgenommen, aber das hat sich geändert. Seit 2004 werden die Paralympics im Fernsehen übertragen. Wir haben viele Programme angestoßen, um bei Jugendlichen das Bewusstsein zu verändern. Zudem ist in Sao Paulo ein modernes Trainingszentrum für 15 paralympische Sportarten entstanden. Es ist eine Investition in die Zukunft, davon soll nicht nur der Leistungssport profitieren. Wir möchten dieses Zentrum auch für Athleten aus anderen lateinamerikanischen Ländern öffnen. Es soll die ganze Region positiv beeinflussen."
Athleten aus mehr als 170 Nationen in Rio
An den Paralympics 1960 in Rom nahmen 400 Sportler aus 23 Ländern teil. In Rio werden nun rund 4300 Athleten aus mehr als 170 Nationen erwartet. Stets wurden die Spiele als Anstoßgeber für einen Wandel gefeiert, aber was ist danach tatsächlich passiert? Nach Sydney 2000 verschärfte die australische Regierung die Bauvorgaben für Barrierefreiheit, aber: die paralympische Sportförderung wurde zurückgefahren. In Athen profitieren behinderte Besucher noch heute von der Infrastruktur, aber: der Behindertensport führt ein Schattendasein. Nach London 2012 gaben drei Viertel der Befragten an, Behinderungen nun positiver zu sehen. Doch solche genauen Erhebungen sind selten, sagt Verena Bentele. Die frühere Biathletin ist seit 2014 Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.
"Jetzt ich als Beauftragte kann da vielleicht auch nicht so viel machen wie es ein großer Sportverband wie der DOSB beziehungsweise auch die deutsche Bundesregierung können. Da wirklich nachhaltig auch mal dranzubleiben und darüber zu berichten. Und da vielleicht da in einem engen Austausch mit dem jeweiligen Land zu bleiben, das solche Sportereignisse austrägt, finde ich, wäre ein gutes Projekt auch der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft. Weil zum Beispiel in Peking ist es schon so, dass ich im Nachhinein immer wieder von Leuten erzählt bekomme, Menschen mit Behinderung werden weniger versteckt in China, aber das eben auch noch mal mit mehr Belegen nachgewiesen zu haben, denke ich, wäre wirklich eine schöne und wichtige Geschichte."
Verena Bentele wird nach Rio reisen und dort Sozialpolitiker aus anderen Ländern treffen. Sie wird das paralympische Jugendlager besuchen und ein deutsch-brasilianisches Inklusionshandbuch vorstellen. Die zwölffache Paralympics-Siegerin möchte mit ihren brasilianischen Kollegen viele Themen ansprechen: Barrierefreie Medien, Arbeitsrechte, Tourismuswirtschaft. Es sind Themen, die trotz Paralympics in Südamerika erst am Anfang stehen.