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Paralympics in den Medien
Zwischen Übertreibung und Desinteresse

Zum Start der Paralympics berichten die Medien wieder über sportliche Höchstleistungen aus Tokio. Dabei werden die Athletinnen und Athleten teils sogar zu Übermenschen stilisiert. Doch abseits der Großereignisse bekommt der Behindertensport nur wenig Aufmerksamkeit.

Von Ronny Blaschke | 24.08.2021
Ein Sportler mit einer Unterschenkelprothese läuft durch ein Spalier von jubelnden Statisten bei der Eröffnungsfeier der Paralympics 2020
Während der Paralympics steht der Behindertensport mal wieder im medialen Fokus (dpa/ Pavel Bednyakov / Sputnik)
Eine internationale Leichtathletik-Veranstaltung in Leverkusen Ende Juni. Zunächst trafen sich hier die Parasportler, die Athletinnen und Athleten mit einer Behinderung, kurz darauf dann auch die Olympia-Sportler. Jörg Frischmann, Leiter der erfolgreichen Parasportler in Leverkusen, vermisste bei dieser Veranstaltung die Berichterstattung über dieses sportliiche Ereignis.
"Über diese Veranstaltung wurde nicht berichtet. Das heißt, wir haben selbst Material produziert, was auch jetzt gern von den unterschiedlichen Fernsehanstalten genommen wird. Aber zu dieser Veranstaltung ist niemand hingekommen. Die Veranstaltung der Nichtbehinderten, die zwei Tage später läuft, die im gleichen Stadion läuft, da sind Kameras ohne Ende aufgebaut."

Interesse erst kurz vor den Paralympics

Anfang August: ein anderes Bild. Die Olympischen Spiele in Tokio gehen auf ihr Ende zu, und die Paralympics, die traditionell danach stattfinden, rückten immer näher. Von Tag zu Tagen häufen sich die Interviewanfragen. Und Jörg Frischmann koordiniert die Termine - "seien es irgendwelche Fototermine, irgendwelche Drehtermine. Wir haben schon vorher darauf hingewiesen, dass die Sportler hinten heraus sich auf die Paralympics vorbereiten wollen. Und wieder ist es so, dass alle in den letzten drei Wochen kommen."
Ex-Parasportler Heinrich Popow - "Der Sport hat meine Selbstliebe erhöht"
"Meine Behinderung ist keine Ausrede mehr für Dinge, die im Alltag auf mich zukommen", sagte der ehemalige Para-Leichtathlet Heinrich Popow im Dlf. Nun will er mit der Kampagne "WeThe15" Berührungsängste abbauen und Erfahrungen weitergeben.
Jörg Frischmann war selbst bei den Paralympics aktiv, als Kugelstoßer 1992 in Barcelona. Damals gab es so noch gut wie keine Berichterstattung. Inzwischen, fast dreißig Jahre später, haben sich die Weltspiele zu einem globalen Medienereignis entwickelt.
Laut dem Internationalen Paralympischen Komitee IPC können nun rund vier Milliarden Menschen weltweit Bilder von den Spielen in Tokio verfolgen, im Fernsehen oder über Onlinestream.

Weltmeisterschaften ohne Medienvertreter

Aber, und das kritisieren Funktionäre wie Jörg Frischmann seit langem: In den Jahren, in denen gerade keine Paralympics statfinden, ist die Aufmerksamkeit geringer. Selbst bei Weltmeisterschaften im Behindertensport sind häufig keine Medienschaffenden vertreten. Diese fehlende Sichtbarkeit führe dazu, dass sich wenige Sponsoren langfristig für Parasportler interessieren.
Der mediale Fokus auf die Paralympics verzerrt den Alltag des Behindertensports. Beispiel Großbritannien: Der private Sender Channel 4 will aus Tokio 1300 Stunden übertragen, im TV und online. So viel wie kein anderer Sender. Channel 4 beschreibt Parasportler als "Superhumans", als Übermenschen. Es geht um Rekorde, um Superlative. Weniger um den beschwerlichen Weg zu Paralympics, weniger um barrierefreie Sporthallen oder das Desinteresse von Sponsoren.
Ein Plakat für Rollstuhl-Basketball bei den Paralympischen Spielen in Japan.
Paralympics in Tokio - Um Jahre zurückgeworfen
Nach den Olympischen Spielen beginnen am 24. August in Tokio die Paralympics. Die Pandemie ist im Behindertensport aber nicht nur bei diesem Großereignis - weitgehend ohne Zuschauer vor Ort - spürbar.
Ali Alssalami ist Inklusionsaktivist im Verein "Sozialhelden" und wünscht sich eine Berichterstattung, die nicht nur glorifiziert, sondern auch auf die Strukturen schaut: "Ich für mich möchte, dass ich einfach als gleichberechtigt in der Gesellschaft anerkannt werde. Ich habe eine Einschränkung. Und das, was ich tue, ist nicht übermenschlich, sondern einfach komplett normal. Was auch gesellschaftlich genauso das Problem ist, dass wir als Menschen mit Behinderung nur auf die Behinderung reduziert werden."

Technische Aspekte stehen im Fokus

Worüber in den Medien überverhältnismäßig berichtet wird, ist der technische Aspekt bei den Paralympics. Dazu gehören Reportagen aus den Technikwerkstätten. Details über teure Hightechprothesen und Rennrollstühle.
Was kaum erwähnt wird: Viele Menschen mit Behinderung wollen oder können nicht sportlich aktiv sein. Weil Sportunterricht häufig nicht inklusiv ist. Weil vielen Trainern und Physiotherapeuten die nötige Ausbildung fehlt. Und weil der nächste paralympische Trainingsstützpunkt eventuell 100 Kilometer entfernt ist.
Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, wünscht sich, dass sich Breitensportvereine noch mehr für behinderte Menschen öffnen. Doch dafür sollten auch Medien die nötigen Informationen anbieten.

Jeder siebte Mensch lebt mit einer Behinderung

"Wenn weltweit jeder Siebte eine Behinderung hat, warum sehen wir das nicht in Medien oder Filmen. Wir denken, dass Menschen mit Behinderung oft vergessen werden. Und die Paralympics sollen Aufmerksamkeit für diese Probleme schaffen. Wir wollen über Steuergesetze sprechen, auch über Mobilität und Infrastruktur. Der Sport kann zu einer inklusiveren Welt beitragen."
Die Aussichtsplattform des "Tokyo Skytree" von von außen mit dem Schriftzug "We The 15" beleuchtet.
Werbung für die Aktion "WE THE 15" während der Paralympics in Tokio (dpa/ AP Images / Yomiuri Shimbun)
15 Prozent der Weltbevölkerung leben mit einer Behinderung. Daran lehnt sich der Name einer neuen Kampagne des Internationalen Paralympischen Komitees an: "WeThe15". Ein internationales Netzwerk will sich mit Bildungsangeboten gegen Diskriminierung von behinderten Menschen stellen. Ein wichtiges Ziel: mehr Öffentlichkeit jenseits der Paralympics. Angelegt ist die Kampagne auf zehn Jahre.