Der Paralympische Tiktok-Account ist gut besucht. Bald fünf Millionen Follower und teilweise mehrere zehn Millionen Aufrufe für einzelne Videoclips. Der Erfolg kommt auch durch Memes - also in diesem Fall kurze humorvoll gemeinte Videos, die online schnell kopiert und geteilt werden können. Eines der Videos zeigt die Deutsche Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller bei den Paralympischen Spielen in Tokio.
"In meinem Video ist es so, dass ich gezeigt werde, wie ich einmal im gleichen Spiel einen Dreier treffe. Was insofern eine positive schöne Szene aus unserem Sport ist", erzählt sie dem WDR. "Und dann aber im nächsten Moment über den Ball rüber falle. Dann bleibe ich eben mit dem Rollstuhl dranhängen und knalle dann auf den Boden."
Kritik an Slapstick-Videos bei Tiktok: "Man kann von Behindertenfeindlichkeit sprechen"
Nichts Außergewöhnliches im Rollstuhlbasketball. Auf dem paralympischen Tiktok-Account wird das mit einer Anspielung auf den 2007er Song "Crank That" von Soulja Boy verbreitet, die sinngemäß so viel bedeutet wie: Manchmal gewinnt man und manchmal verliert man.
Die gute sportliche Leistung, der Drei-Punkte-Wurf, wird überlagert von dem Slapstick, der stürzenden Athletin. Für Professor Stefan Schache vom Bochumer Institut für Disability Studies der Evangelischen Hochschule Bochum gehen solche Videos gar nicht: "Ich glaube, man kann aus einer bestimmten Perspektive von Behindertenfeindlichkeit sprechen."
Entscheidend ist für ihn, "dass wirklich nicht der paralympische Leistungssportler oder die Sportlerin im Mittelpunkt steht. Da steht dann letztlich doch der behinderte Mensch im Mittelpunkt, aber auch nicht der Mensch, sondern die Behinderung, Beeinträchtigung oder das Handicap steht im Mittelpunkt und jedwede Wendung, die eigentlich durch so ein humorvolles Meme vielleicht gewollt ist, die fällt hinten runter."
Krauthausen: "Athletinnen und Athleten zum Gespött gemacht"
In Deutschland hat Raul Krauthausen, bekannter Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, den Account öffentlich kritisiert. Er findet, die Athletinnen und Athleten werden zum Gespött gemacht. Vor allem im Vergleich zu Videos von Nicht-Para-Athletinnen und -Athleten gebe es einen großen Unterschied, so Krauthausen: "Dass wir nichts über die Sportlerinnen erfahren, sondern dass es wirklich einzig und allein um den Fail geht."
In den Beschreibungstexten der Videos, der Caption findet man nur selten Informationen zum Wettkampf oder gar den Sportlerinnen und Sportlern. Für die Zielgruppe der Videos, die "Gen-Z", scheint das kein Problem zu sein. Die Videos werden millionenfach geklickt.
IPC: "Auch Nuancen und die Realität des Paralympischen Sports zeigen"
Craig Spence ist der Kommunikationschef des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). Dem Deutschlandfunk wollte er kein Interview geben, dem WDR hat er aber gesagt: "Wir wollen Hochleistungssport zeigen, denn das ist es, was die Paralympics sind. Wir wollen auch Nuancen und die Realität des Paralympischen Sports zeigen. Und dass, wie im Olympischen Sport, nicht immer alles gut läuft. Es ist wichtig, dass wir mit unseren Athleten lachen können, so wie sie über sich selbst lachen. So wie wir alle über uns selbst lachen."
Aber so wie bei jedem kann es auch unangenehm sein, wenn man selbst zur Schau gestellt wird. Für Stefan Schache ist "zur Schau stellen" der richtige Begriff: "Wenn man dann historisch ein bisschen blättert, dann kommt beim Zur-Schau-stellen relativ schnell die Freak-Show dazu. Und dann wissen wir, dass dort Menschen als Objekte betrachtet wurden und jedwede Subjektivität, jede Individualität ihnen abgesprochen wurde. Genau diese Tendenz liegt dadrin, wenn man eine Situation rausnimmt, einen Slapstick rausnimmt, eine Orientierungslosigkeit."
Laut IPC wird der Account der Paralympics von einem ehemaligen Paralympioniken geführt. Es sollen auch weitere Menschen mit Behinderung im Team arbeiten. "Das macht einen Unterschied, ob betroffene Stimmen über etwas sprechen, wo sie am besten ihre eigene Expertise mit einbringen können, oder ob über sie gesprochen wird", sagt Professor Stefan Schache.
Rollstuhlbasketballerin Miller fordert "Mitspracherecht"
Mareike Miller, die deutsche Rollstuhlbasketballerin, findet ihr Video selbst lustig, sagt aber auch: "Was ein bisschen merkwürdig war, ist das sie es nach Jahren rausgekramt haben und dass sie es dann auch mehrfach, Jahre später wieder gepostet haben. Auf der anderen Seite, gerade auch um Perspektiven zu verändern und gerade den Parasport in ein anderes Licht zu rücken, hat es durchaus auch seinen Sinn, aber das Allerwichtigste in meinen Augen ist einfach, dass die Athleten da Mitspracherecht haben."