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Paris wächst ins Umland
Wandern, wo einmal die Metro fahren wird

Paris und seine Vorstädte sollen zu einer Metropolregion zusammenwachsen, das ist das Ziel hinter dem Projekt Grand Paris. Aber viele Pariser begegnen den Banlieues und ihren Bewohnern distanziert. Eine Agentur will das ändern – mit Wanderungen durch die Vorstädte.

Von Bettina Kaps |
"Wir bereiten die Metrobaustelle vor", steht auf diesem Schild mitten in der Landschaft im Pariser Umland
"Wir bereiten die Metrobaustelle vor", steht auf diesem Schild mitten in der Landschaft im Pariser Umland (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
20 Kilometer nordöstlich von Paris liegt der Regionalbahnhof Sevran-Livry. Dort kniet Vianney Delourme auf dem Vorplatz, breitet einen Plan aus. Der Journalist und Firmengründer trägt Polohemd, Bermuda-Shorts, Treckingschuhe, Rucksack. Wie jeden Samstag spielt er auch heute wieder Wanderführer. Gut 40 Frauen und Männer scharen sich um ihn und studieren die blauen, kreisförmigen Linien auf der ansonsten weißen Karte.
"Die Idee hinter unserer Wanderung ist nicht, einen besonders schönen oder besonders grünen Weg auszusuchen", sagt der 42-Jährige, während er auf einen Punkt deutet, der den Bahnhof Sevran-Livry markiert. "Wir laufen vielmehr eine Strecke ab, auf der im nächsten Jahrzehnt eine neue Metro verkehren wird. Mit der Folge, dass sich das Stadtbild dieser Gegend grundlegend verändern wird."
"Vororte gelten als langweilige Schlafstädte"
Seit einem Jahr organisiert Vianney Delourme Wanderungen entlang der vier zukünftigen Strecken des Grand Paris Express – das große Infrastruktur-Projekt, das die Vorstädte untereinander und mit Paris verzahnen soll.
Die kostenlosen Touren kündigt er auf seiner Website an, sie heißt "Enlarge your Paris", "Vergrößere dein Paris". Inzwischen ist er bei der Route der Metrolinie 16 angelangt. Sie wird durch "Seine-Saint-Denis" fahren, das ärmste Departement im Großraum Paris.
"Die Streckenführung hat allerhand Schlagzeilen gemacht. In den sozialen Netzwerken wurde sie als zukünftige 'Todeslinie' bezeichnet, nach dem Motto: Wer hier einmal aussteigen wird, ist erledigt. Das haben Hunderttausende gesehen. Der Grand Paris Express soll die strategisch wichtigen Vorstädte mit großen Entwicklungspotenzialen verbinden. Die Linie 16 hingegen hat eine soziale Komponente, sie wird vor allem isolierte Kommunen anbinden, wie die Städte Clichy und Montfermeil."
Wanderer aus der Hauptstadt im berüchtigten Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Dort gibt es neben Mietskasernen auch Künstlerateliers.
Wanderer im berüchtigten Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Dort gibt es neben Mietskasernen auch Künstlerateliers. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
Delourme marschiert voraus. Gleich hinter dem Regionalbahnhof, wo die Tour begonnen hat, verläuft ein Kanal. Ursprünglich diente der "Canal de l'Ourcq" dazu, Paris mit Trinkwasser zu versorgen. Heute zieht er Angler, Radfahrer und Jogger an.
Die Gruppe nimmt den Treidelpfad. Seine Agentur "Enlarge your Paris" habe er vor sechs Jahren mit einigen Kolleginnen und Kollegen gegründet, erzählt Delourme. Ihr Ziel sei es, die Kluft zwischen Paris und den Vorstädten zu überwinden, vor allem die Kluft in den Köpfen.
"Paris ist eine ganz kleine Hauptstadt, die aus historischen Gründen nie erweitert worden ist. Die großen Medien berichten nur dann über die Banlieue, wenn es zu Unruhen kommt und Autos brennen. Ansonsten gelten alle Vororte, egal, ob arm oder reich, als langweilige Schlafstädte. Diese Sichtweise wollen wir verändern."
Tolle Konzertsäle, städtische Landwirtschaft, Schafhirten auf Wanderschaft, Badestrände, Dachterrassen-Bars. Delourme informiert über spannende Orte und Ereignisse jenseits der Ringautobahn, die Paris wie eine Schneise von ihren Vorstädten trennt. Inzwischen wird er für seine Wandertouren von der Betreibergesellschaft des Grand Paris Express bezahlt.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Grand Paris". Eine Städt wächst über sich hinaus.
Die Gruppe betritt einen großen Park, wo einst Schießpulver hergestellt wurde. Ein Angestellter erklärt die Industriegeschichte des Areals.
"Paris und die Banlieue werden in Zukunft eins sein"
Claudine Henri hört gebannt zu. Sie sei bei jeder Wanderung dabei, sagt die Rentnerin aus dem 13. Arrondissement in Paris.
"Die vielen Parks in den Vororten von Paris kannte ich vorher nicht. Sie sind riesig und wunderschön. Außerdem ist mir bei diesen Touren klar geworden: Paris und die Banlieue werden in Zukunft eins sein. Die Banlieue kommt zu uns und wir Pariser gehen auf die Vororte zu. Wir werden eine große Metropole sein."
Die Gruppe verlässt den Park, durchquert mehrere kleine Städte, deren Namen viele Teilnehmer noch nie gehört haben, geht über Felder und durch Waldstücke. Hin und wieder stehen große Schilder in der Landschaft und weisen auf die künftigen Metro-Baustellen hin.
Am Ort der Vorstadtrevolten von 2005
Eine Ortstafel kündigt Clichy-sous-Bois an. Die Stadt hat 2005 weltweit für Schlagzeilen gesorgt, weil dort die Vorstadtrevolten begonnen haben. Vianney Delourme erinnert an Straßenschlachten, brennende Gebäude, kreisende Hubschrauber. Inzwischen wurden viele Hochhäuser durch kleinere Wohneinheiten ersetzt. Im Zentrum werden Gleise für eine Tram verlegt.
Sie wird die 30.000-Einwohner-Stadt endlich mit einem Regionalbahnhof verbinden. Der Grand Paris Express soll 2024 eintreffen. Schon vor 60 Jahren, beim Bau der großen Siedlungen, sei den Einwohnern eine gute Anbindung versprochen worden, sagt Delourme. Aber erst die Unruhen hätten die Dinge in Bewegung gebracht.
"Clichy ist auch deshalb so abgeschnitten, weil die reicheren Nachbarstädte keinen Kontakt wollten. Sie wollten ihre Ruhe haben. Genau das ist der springende Punkt, von dem es abhängt, ob Grand Paris erfolgreich sein wird oder nicht: der Ausgleich zwischen Arm und Reich. Das bleibt abzuwarten."
Metro-Anbindung geplant fürs Olympia-Jahr 2024
Es ist Mittag, Zeit für ein Picknick. Vianney Delourme führt die Wanderer zu einem Holz-Hochhaus mit Bänken im Grünen. Das so genannte "Atelier Medicis" ist Ausstellungs- und Werkraum für zeitgenössische Künstler. Es dient als provisorischer Vorläufer für ein großes Kulturzentrum.
Das soll gleichzeitig mit dem Bahnhof für die Metrolinie 16 eingeweiht werden, im Olympia-Jahr 2024. Ein neues Highlight für die Vorstadt Clichy – ein Anziehungspunkt für die Bewohner von Paris. Und einer von vielen Schritten um die Region zusammenwachsen zu lassen – zu Grand Paris.