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Hartz-IV und Grundsicherung
Der Paritätische: Inflation treibt Menschen „an den Rand der Verzweiflung“

Die Regelsätze von Hartz-IV-Beziehern oder Menschen in Altersgrundsicherung müssten um 100 Euro angehoben werden, um gestiegene Lebenshaltungskosten auszugleichen, sagte der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, im Dlf. Insbesondere die steigenden Strompreise machten Menschen Angst.

Ulrich Schneider im Gespräch mit Josephine Schulz |
Der Regler einer Heizung ist zu sehen, er steht auf null.
Für Geringverdiener seien die Heizkosten kaum zahlbar, sagte Ulrich Schneider im Interview (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Fernando Gutierrez-Juarez)
Die Preise haben im Jahr 2021 um 3,1 Prozent zugelegt, eine stärkere Inflation hatte das statistische Bundesamt zuletzt im Jahr 1993 gemeldet. Gerade in den letzten Monaten des vergangenen Jahres sind die Preise stark gestiegen, im November und Dezember lagen die Inflationsraten sogar über fünf Prozent.

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Für Hartz-IV-Bezieher oder Menschen in Altersgrundsicherung seien diese Preissteigerungen eine Katastrophe, sagte der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, im Deutschlandfunk. Die ausgezahlten Gelder reichten ohnehin nur für ein Leben „unter dem Existenzminimum“. Zwei Millionen Menschen gingen regelmäßig zur Tafel, um sich dort Lebensmittel zu holen. In der Pandemie habe sich die Situation verschärft, weil zahlreiche Unterstützungen, wie eben die Tafel, Sozialkaufhäuser, aber auch Schulessen zeitweise weggefallen seien – und nun komme die hohe Inflation noch dazu. Die Menschen seien dadurch „an den Rand der Verzweiflung getrieben worden“, sagte Schneider.

Schneider: Strompreise machen Angst

Es seien vor allem die Strompreise, die Menschen in Hartz-IV oder Grundsicherung Angst machen. „Die Energieversorgen haben enorme Preissteigerungen angekündigt für das kommende Jahr“, sagte Schneider. Auch im vergangenen Jahr seien die Preise „kräftig erhöht“ worden, die Regelsätze der Hartz-IV-Bezieher für den Strom seien 30 Prozent zu niedrig. 230.000 Menschen sei im vergangenen Jahr der Strom abgedreht worden, das sei „fast schon barbarisch“, sagte Schneider. Für Geringverdiener seien zudem Heizkosten, die bei Beziehern von Hartz-IV oder Grundsicherung separat übernommen werden, ein massives Problem.
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Der Paritätische Wohlfahrtsverband
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Der Paritätische Wohlfahrtsverband (imago/Jürgen Heinrich)
Es sei eine gute Nachricht, dass die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP nun Zuschüsse beim Wohngeld angekündigt hat. „Die Nebenkosten haben sich zur zweiten Miete entwickelt“, sagte Ulrich, da müsse das Wohngeld neu aufgestellt werden. Die Bundesregierung bleibe aber bisher untätig bei den Regelsätzen bei Hartz IV und der Altersgrundsicherung. Die Regelsätze sind zum 1.1.2022 um 0,7 Prozent angehoben worden. Das sei angesichts der deutlich höheren Inflationsrate „bestenfalls ein schlechter Witz“, sagte Schneider. Es brauche jetzt politisches Handeln: „Da müssen hundert Euro drauf im Monat.“
Dass die Bundesregierung einen Paradigmen-Wechsel im Umgang mit Armut angekündigt hat, sei wunderbar, sagte Ulrich. Allerdings sei noch nicht klar, wie die angekündigte Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld genau aussehen sollen. "Von einem Bürgergeld kann man erst dann sprechen, wenn die Menschen auch über den Monat kommen", sagte Schneider.

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Das Interview im Wortlaut:

Josephine Schulze: Herr Schneider, Sie haben im vergangenen Jahr gesagt, Hartz-IV-Bezieher könnten angesichts der steigenden Preise in den kommenden Monaten das Leben kaum noch bezahlen. Sie sagten, da bahnt sich eine Katastrophe an. Ist diese Katastrophe Ihrer Ansicht nach jetzt schon eingetreten?
Ulrich Schneider: Absolut, also ich denke schon. Wir müssen überlegen, die Menschen, die in Hartz IV oder in Altersgrundsicherung leben, die leben wirklich, der Gesetzgeber sagt, am Existenzminimum, wir aus unserer Praxis heraus sagen, eigentlich unter dem Existenzminium. Zwei Millionen von ihnen alleine gehen täglich oder laufend oder regelmäßig zur Tafel, um hier Lebensmittel abzuholen. Das ist ein deutliches Zeichen. Also es reicht vorne und hinten nicht mit diesem Geld. Und jetzt mit den Preiserhöhungen, die da auf uns zugekommen sind, und zugleich Einschränkung, ja, von sonstigen Hilfen wie eben die Tafeln, Sozialkaufhäuser, Schulessen, weil Schule ausfiel, sind diese Menschen wirklich an den Rand der Verzweiflung getrieben worden. Das ist unübertrieben.

Strompreise machen den Menschen Angst

Schulze: Wir hören jetzt gerade viel vor allem über die hohen Energiepreise. Ist das auch der entscheidende Punkt, der die Menschen belastet?
Schneider: Auch. Ich sage mal, bei den Energiepreisen sind es jetzt die Strompreise, die vor allen Dingen den Menschen in Altersgrundsicherung und in Hartz IV Angst machen. Die Energieversorger haben enorme Preissteigerungen angekündigt für das nächste Jahr. Die haben auch im letzten Jahr schon kräftig erhöht. Und im Regelsatz, also das, was zugebilligt wird dem Hartz-IV-Bezieher für den laufenden Monat, sind für den Strom jetzt schon 30 Prozent zu wenig berechnet. Das heißt, sie wissen im Grunde genommen gar nicht, wie sie die Stromrechnung zahlen sollen und haben dann Angst wirklich vor der Jahresrechnung: Wie soll das Geld aufgebracht werden?
Die Gaskosten, also die Heizkosten, so, die Heizkosten werden bei Hartz-IV-Beziehern und Altersgrundsicherungsbeziehern noch mal extra übernommen. Aber das sieht natürlich anders aus bei Geringverdienern, die über, knapp über Hartz IV sind, die müssen das dann voll zahlen. Und auch da ist natürlich die Angst groß, was wird jetzt mit Nachzahlungen, wie soll ich überhaupt noch meine Wohnung halten? Es ist ein Riesenproblem.

"230.000 Menschen wurde der Strom abgedreht"

Schulze: Haben Sie da schon von Menschen gehört, denen beispielsweise Gas oder Strom abgestellt wurden? Das ist ja auch immer eine Sorge.
Schneider: Na ja, wir wissen, dass im letzten Jahr 230.000 Menschen der Strom abgedreht wurde, die saßen sprichwörtlich im Dunkeln oder in der Kälte, wenn sie auch noch mit Strom zuheizen mussten. Und ich glaube, man kann nur erahnen, was das im Winter bedeutet, gerade wenn, ja, Säuglinge im Haushalt sind, wo man seinen Herd einfach braucht, gerade wenn alte Menschen im Haushalt sind, pflegebedürftige Menschen im Haushalt sind. Und es waren 230.000. Also wir halten wirklich einen solchen Schritt in dieser Zeit eigentlich schon fast für barbarisch. So was kann man mit Menschen nicht machen, egal wie sie in die Notsituation reingeschlittert sind.

Verbesserungen beim Wohngeld in Sicht, aber nicht bei den Regelsätzen

Schulze: Jetzt muss man ja sagen, die Ampelkoalition scheint das Problem doch erkannt zu haben, also vor allem von Grünen und SPD hört man da relativ viel dazu, dass da Zuschüsse angekündigt werden. Das ist ja eigentlich eine gute Nachricht, oder?
Schneider: Ja gut, es werden Zuschüsse angekündigt, das ist eine gute Nachricht, im Bereich des Wohngeldes, es wird gesagt, da soll eine Energiekomponente reingezogen werden. Das halten für absolut richtig, unterstützenswert. Die Nebenkosten haben sich ja, wie man sagt, zur zweiten Miete entwickelt, und da muss auch das Wohngeld auf andere Füße gestellt werden. Das begrüßen wir.
Wo die Bundesregierung, auch die jetzige Ampel-Bundesregierung offensichtlich nichts tun will, ist bei den Regelsätzen für Hartz IV und bei der Altersgrundsicherung. Wir haben eine Inflationsrate, liegt derzeit bei knapp über fünf Prozent, und gleichwohl sind die Regelsätze zum 01.01. dieses Jahres um lediglich 0,7 Prozent angehoben worden, um drei Euro für Erwachsene und zwei Euro für Kinder im Monat. Da sagen wir: Das kann doch bestenfalls ein schlechter Witz sein.

Schneider fordert 100 Euro mehr Regelsatz pro Monat

Schulze: Allerdings werden die Regelsätze ja nach einer Formel berechnet, wo durchaus die Inflation und die Lohnsteigerungen auch eingepreist werden.
Schneider: Das ist richtig. Aber die Berechnung erfolgt auf einen vergangenen Zeitraum. Die Grundlagen für diese Berechnungen sind dann die Preissteigerungen in diesem Falle zwischen 2020 und bis Mitte 2021. Und wenn jetzt plötzlich im zweiten Halbjahr 21 und jetzt auch in 22 die Preise wirklich abgehen und beim Strom gerade so durch die Decke gehen, dann wird das von dieser Statistik überhaupt nicht eingefangen. Und das war auch der Grund, weshalb wir gesagt haben, jetzt um Himmels Willen nicht auf Statistiken verweisen, sondern politisch handeln. Die Leute brauchen Geld. Und so lange die Pandemie läuft und diese Preissteigerungen so sind, wie sie sind, müssen 100 Euro drauf im Monat.
Schulze: Aber gerade, wenn Sie die Pandemie ansprechen, das ist ja auch eine Frage, also wo soll das Geld dafür herkommen? Die Arbeitsagentur musste ja durch die Pandemie schon erhebliche Mehrkosten schultern, da gab es auch Zuschüsse.
Schneider: Na gut, ich sage mal so: Wir haben im Moment 7,5 Millionen Bezieher von Grundsicherung. Wenn man diesen 100 Euro gäbe im Monat, dann ist das weit unter dem, was ausgegeben wird zur Rettung von TUI, zur Rettung von Lufthansa, und ein Bruchteil von dem, was beispielsweise richtigerweise für Kurzarbeitergeld ausgegeben wurde. Wir haben das Geld, es ist eine Sache des politischen Willens.
Schulze: Warum ist der nicht da, dieser politische Wille?
Schneider: Hartz-IV-Bezieher und Bezieher von Altersgrundsicherung sind wirklich seit Jahrzehnten ganz am Ende der Skala. Unsere Politik ist ausgerichtet auf Arbeitnehmer. Und wir haben es ja auch in der Pandemie gesehen, es wurde auch richtigerweise, ich will das gar nicht kritisieren, alles getan und vieles getan, um Arbeitnehmer zu schützen, die in Gefahr waren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Kurzarbeitergeld war eine ganz tolle Sache in diesem Zusammenhang. Aber die, die bereits arm waren, an die wurde in der ganzen Pandemie so gut wie gar nicht gedacht. Das ist leider so. Und deswegen versuchen wir auch immer wieder, den Finger genau in diese Wunde zu legen.

"Bundesregierung muss jetzt natürlich nachlegen"

Schulze: Auf der anderen Seite muss man sagen, ein großes Projekt der Ampel-Regierung ist das Bürgergeld, und da sagt die Ampel-Regierung, das wird ein richtiger Paradigmenwechsel im Umgang mit Armut. Da soll es dann auch eine Kindergrundsicherung geben. Das ist doch eigentlich das, was Sie fordern, oder?
Schneider: Das ist wunderbar. Kindergrundsicherung ist das, was wir fordern, und wir fordern auch einen Paradigmenwechsel in Hartz IV. Nur muss die Bundesregierung jetzt natürlich nachlegen. Wie hoch soll denn die Kindergrundsicherung sein? Da hat sie sich noch überhaupt nicht verhalten. Und auch bei dem Bürgergeld, was statt Hartz IV kommen soll, ist überhaupt keine Aussage dazu getroffen worden, um wie viel Geld es sich handeln soll. Von einem Bürgergeld kann man erst dann sprechen, wenn die Menschen auch über den Monat kommen, und dazu fehlen nach unseren Berechnungen rund 200 Euro im Monat.
Schulze: Aber es wurden ja zumindest schon Aspekte angegeben, dass in den ersten Jahren Vermögen nicht angerechnet werden soll, die Größe der Wohnung nicht mehr überprüft werden soll. Das sind doch alles konkrete Verbesserungen, oder?
Schneider: Das sind konkrete Verbesserungen, aber es betrifft wirklich einen winzigen Bruchteil derer, die Hartz IV beziehen, dass sie in ihrem Vermögen geschont werden, denn Hartz-IV-Bezieher, auch bevor sie in Hartz IV reinfallen, haben nun mal leider so gut wie kein Vermögen. Mit anderen Worten: Das klingt gut – in der Praxis hat es kaum eine Bedeutung. Bei der Wohnung, da will ich wirklich sagen, es hat eine Bedeutung, wir finden es gut, wenn zwei Jahre die Menschen erst mal nicht um- oder ausziehen müssen, weil ihre Wohnung etwas zu groß ist. Das ist vernünftig. Nur über den Monat kommen sie dann noch immer nicht mit dem wenigen Geld.

Soziales und Ökologisches nicht im Konflikt

Schulze: Wenn wir noch mal auf die Energiepreise schauen, das ist ja ein bisschen eine zweischneidige Sache. Aus Klimaschutzgesichtspunkten kann man da ja durchaus eine positive Entwicklung sehen, weil das Anreize bieten kann, das Verhalten umzustellen. Sehen Sie da einen Konflikt zwischen Klimaschutz und sozialen Fragen?
Schneider: Nein. Das ist dann kein Konflikt, wenn wir intelligent rangehen an die Dinge. Zum Beispiel haben die Grünen ja auch im Bundestagswahlkampf, und jetzt steht es endlich auch im Koalitionspapier, einen sogenannten Öko-Bonus vorgesehen, wonach das, was an CO2-Bepreisung eingenommen wird, auch wieder ausgeschüttet wird an die Bürger, und zwar durchaus so, dass die, die wenig Geld haben, auch den größten Effekt haben. Wenn man es wirklich so betreibt, dann bringt man Soziales und Ökologisches sehr gut in Einklang, und dann kann man wirklich nicht nur von einer ökologischen, sondern von einer sozial-ökologischen Wende sprechen.
Wichtig wird sein, dass wir bei all diesen Herausforderungen durch Verteuerung fossiler Energien alle mitnehmen, dass wir soziale Sicherheit schaffen, und dazu gehören für uns auch entsprechende Regelungen in Hartz IV, in Altersgrundsicherung, beim Wohngeld bis hin zum BAföG.
Schulze: Dennoch, Sie haben jetzt schon angesprochen, wie die Preissteigerungen die Menschen jetzt schon betreffen. Glauben Sie, dass der Zuspruch für den Klimaschutz dadurch abnehmen könnte? Also ich meine, wir hatten in Frankreich die Gelbwesten-Prozesse, wir sehen jetzt gerade, was in Kasachstan passiert. Machen Sie sich da Sorgen?
Schneider: Ich mache mir große Sorgen. Aber man kann diesen Sorgen begegnen politisch, indem man den Menschen soziale Sicherheit gibt, indem man auch wirklich jetzt schnell die Projekte auf den Weg bringt, die Verbesserungen beim Wohngeld vorsehen, die Verbesserungen beim BAföG vorsehen, die dem Menschen auch sagen, ich kann mich auf meine Rente verlassen, dass ich später mal davon leben kann. Und doch müssen diese Projekte jetzt auch zügig auf den Weg gebracht werden, denn sonst in der Tat verunsichert man Menschen, macht ihnen Angst, und dann geht auch der Rückhalt für eine ökologisch anspruchsvolle Politik verloren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.