"Was fühle ich momentan? Ich fühle Dankbarkeit auf jeden Fall…" - Hakan Demir hat es geschafft. 50 Jahre, nachdem sein Großvater als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland kam, zieht der Enkel für die SPD in den neuen Bundestag ein. Stolz und zufrieden sitzt der 36-Jährige in seinem Wahlkreis Berlin-Neukölln.
"Es ist grundsätzlich schwierig, in den Bundestag zu kommen, aber es ist natürlich schwieriger, wenn man aus einer Familie kommt, die migrantischen Hintergrund hat, plus Arbeiter*innenhintergund. Ich glaube, die beiden Faktoren sprechen eigentlich nicht so dafür, dass man irgendwann mal in den Bundestag kommt."
83 von 709 Abgeordneten aus Einwandererfamilien
Und doch ist Hakan Demir nicht der einzige, dem das bei dieser Wahl gelungen ist. Nach Angaben des Mediendienst Integration sitzen 83 Abgeordnete aus Einwandererfamilien im neuen Bundestag, besonders viele davon für die SPD. Allein 18 von ihnen haben türkische Wurzeln, wie Hakan Demir. Mit Awet Tesfaiesus gehört außerdem zum ersten Mal auch eine Schwarze Frau zu ihnen. Der rassistische Anschlag in Hanau habe sie dazu bewegt, für den Bundestag zu kandidieren, so die Grünen-Politikerin aus Kassel.
"Definitiv sind es in diesem Parlament mehr Menschen aus Einwandererfamilien als vorher. Das heißt auch mehr Menschen, die von Rassismus betroffen sind und diese Perspektive mitbringen", so die Einschätzung von Journalistin und "Diversitäts-Expertin" Ferda Ataman.
"Aber wir sind immer noch weit davon entfernt gesellschaftliche Realitäten zu repräsentieren im Bundestag. Wir haben 26 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung. Wir haben unter Kindern und Jugendlichen heute schon 40 Prozent, und in sämtlichen Großstädten sind es eigentlich schon 50 Prozent. Und wenn man sich das vor Augen hält und guckt, wer sitzt da jetzt im Parlament und in den Großstädten, dann werden es immer noch weitestgehend sehr weiße Räume bleiben."
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Doch nicht nur deswegen herrscht unter vielen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nach der Wahl Ernüchterung. "Zum zweiten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte zieht eine rechtsextreme Partei mit einem zweistelligen Ergebnis in den Bundestag ein – der Aufschrei bleibt aus. Das ist die wahre Zeitenwende", heißt es in einer Pressemitteilung der Initiative Neue deutsche Organisationen zum Wahlausgang.
Wird Rassismus nicht mehr als Gefahr wahrgenommen?
Die Ergebnisse der AfD seien ein "Angriff auf die bloße Existenz" für Schwarze Menschen, People of Color, Jüdinnen und Juden und andere marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft. Aber auch alle anderen sollten sich Sorgen machen, meint die Politikwissenschaftlerin und Autorin Emilia Roig:
"Ich hab das Gefühl, dass wir uns tatsächlich auch daran gewöhnt haben, dass es jetzt zur deutschen politischen Landschaft gehört, und es wird nicht mehr als Gefahr wahrgenommen, weil Gefahren sind immer so plötzlich. Aber weil wir das erwarten, nehmen wir auch diesen Fortschritt und diese Einnahme von Raum, Gelder, etc. als durchaus normal. Das ist sehr gefährlich, weil diese Propaganda und diese Ideologie wird sich verbreiten und das wird eine Legitimität auch bekommen."
Das zu verhindern, wäre eigentlich Aufgabe aller anderen demokratischen Parteien, so Emilia Roig. Die aber hätten zu den Themen Rassismus und Migration im zurückliegenden Wahlkampf enttäuschend wenig zu sagen gehabt. Gerade die Grünen müssten in der neuen Regierung "nicht nur die Klimakrise anpacken, sondern auch die Rassismuskrise", fordern die Neuen deutschen Organisationen mit Blick auf Ereignisse wie Halle, Hanau oder den NSU-Komplex.
Migrationshintergrund in politische Arbeit einbringen
Die gewachsene Diversität im Bundestag könnte dazu beitragen, hofft Journalistin Ferda Ataman: "Was passieren muss, ist, dass die Leute, die reinkommen, diese Perspektiven wirklich auch aktiv mit reinbringen. Wir haben das ja auch an Angela Merkel gesehen – es reicht nicht eine Frau zu sein. Das ist super interessant und auch ein Vorbild für Kinder. Aber was es dann schon braucht, ist, dass man dann auch entsprechende Positionen vertritt und sich traut, diese Gruppe, für die man dann auch steht, mit zu vertreten."
Hakan Demir, der neue SPD-Abgeordnete aus Berlin-Neukölln, will das zumindest versuchen. Zwar will er nicht allein über seine Migrationsgeschichte definiert werden. Aber sie sei eben doch ein Teil von ihm, für den er stehe. Genau wie für die Themen Mindestlohn, Mietendeckel oder Kindergrundsicherung.
"Ich würde jetzt nie behaupten, dadurch, dass ich jetzt im Bundestag bin, hat sich jetzt automatisch für viele andere Menschen mit Migrationsgeschichte was geändert. Das weiß ich, dass es nicht so ist. Aber ich habe die Möglichkeit jetzt bekommen, das Privileg, Strukturen so zu verändern, dass auch diese Menschen auch eine Möglichkeit haben weiterzukommen."