Wahlkampf in Diyarbakir. Eine islamistische Splitterpartei hat sich nach dem Freitagsgebet spontan zusammengefunden. Sie trauen sich noch. Andere Parteien verzichten aus Sicherheitsgründen weitgehend auf öffentliche Veranstaltungen – vor allem die HDP. Die linksliberale prokurdische Partei der Demokratischen Völker ist in den vergangenen Monaten massiv angegriffen worden – verbal und ganz konkret auch physisch. Hunderte Einrichtungen der Halkların Demokratik Partisi - kurz HDP – sind landesweit in den vergangenen Monaten attackiert worden. Türkische Nationalisten sind auf die Straße gegangen und haben gegen kurdische Geschäfte, Häuser und Autos gewütet. In der Hauptstadt Ankara wurde die HDP-Parteizentrale von einem nationalistischen Mob in Brand gesteckt.
HDP-Funktionär Alp Altınörs:
Der Polizeichef und der Gouverneur von Ankara seien von der HDP angerufen worden, erklärt HDP-Funktionär Alp Altınörs, aber es sei nur eine kleine Schar Polizisten aufgetaucht, um das Gebäude vor dem Mob zu schützen.
"Diese Leute haben unsere Parteizentrale angegriffen, die Fenster eingeschlagen und sind dann ins Gebäude eingedrungen. Sie haben den zweiten Stock in Brand gesteckt, wo wir Wahlunterlagen aufbewahren."
Alp Altınörs, der stellvertretende HDP-Vorsitzende, glaubt zu wissen, wer für die Attacke auf die Parteizentrale verantwortlich ist.
"Es handelt sich ganz sicher um geplante und von einem bestimmten Punkt gelenkte Angriffe. Der Präsident und sein Stab stecken hinter diesen Angriffen."
Der Präsident und sein Stab weisen derartige Vorwürfe empört zurück. Präsident Erdogan fühlt sich nach eigenem Bekunden allein dem Wohl des Volkes verpflichtet. Deshalb hat er nach der bösen Schlappe seiner AKP bei der Wahl im Juni tagelang geschwiegen; deshalb hat er aussichtsreichen Koalitionsverhandlungen seiner AKP mit der oppositionellen Republikanischen Volkspartei seinen Segen verweigert; deshalb hat er die Parlamentsneuwahl angesetzt. Er will dem Volk die Möglichkeit geben, "... den Fehler vom 7. Juni zu korrigieren", wie er in einer Rede betont hat.
Die AKP, so stellt der islamisch-liberale Publizist Mustafa Akyol fest, glaube, dass es viele Probleme in der Türkei gebe, für deren Lösung sie mehr Macht haben sollte.
"Vor allem Erdogan denkt so. Er glaubt, es gibt in der Türkei viele Probleme, die alle durch böse Kräfte verursacht wurden und er braucht dagegen eine sehr entschlossene Macht, die er nicht hat. Deshalb will er einen Wechsel zu einem Präsidialsystem. Dafür muss er die Verfassung ändern, dafür braucht er aber mehr als 367 Abgeordnete und deshalb muss die prokurdische HDP raus aus dem Parlament."
"Es wird für Erdogan immer enger"
Die HDP hat am 7. Juni 13,1 Prozent bekommen und stellt 80 Abgeordnete in der Großen Nationalversammlung. Mit dem erstmaligen Einzug der HDP ins Parlament hat die AKP ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Erdogans Bestreben, die Verfassung ändern zu wollen, lässt sich ohne eine satte AKP-Mehrheit im Parlament nicht umsetzen. Recep Tayyip Erdogan ist nach Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk der mächtigste Mann in der Geschichte der Republik Türkei. Im Sommer vergangenen Jahres ist er mit knapp 52 Prozent als erster Präsident überhaupt direkt vom Volk zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Aus dieser Wahl leitet der 61-Jährige ganz besondere Erwartungen ab.
"Die Türkei ist am 10. August 2014 aufgrund der Direktwahl des Präsidenten durch das Volk in eine neue Phase getreten. Seitdem gibt es in der Türkei keinen symbolischen Präsidenten mehr, sondern einen Präsidenten mit konkreter Macht. Das Führungsmodell der Türkei hat sich dadurch geändert. Nun ist es an der Zeit, dieser konkreten Tatsache durch eine neue Verfassung einen rechtlichen Rahmen zu geben."
Die türkische Opposition spricht vom Versuch eines kalten Putsches durch die Hintertür. Die geltende Verfassung lege Rolle, Wirken und politischen Einfluss des Präsidenten weitgehend fest. Genau wegen dieser Einschränkungen will Erdogan die Verfassung in seinem Sinne ändern. Recep Tayyip Erdogan steht am Sonntag gar nicht zur Wahl, und trotzdem dreht sich vor der Wahl alles um ihn, seine Ambitionen und seine Machtfülle. Seine AKP hat im Juni knapp 41 Prozent erreicht und wurde mit weitem Abstand stärkste Kraft im Parlament. Viele Menschen stellen sich vor dem neuen Urnengang die bange Frage: Was passiert, wenn das Wahlergebnis vom Sonntag im Wesentlichen dem Wahlergebnis vom Juni gleicht? Zahlreiche Umfragen deuten darauf hin. Die AKP pendelt zwischen 39 und 43 Prozent. Die HDP dürfte wieder über die Zehn-Prozent-Hürde kommen.
"Es wird für ihn immer enger", sagt Midhat Sancar. Der Professor für Staatsrecht an der Uni Ankara bewirbt sich erstmals für die HDP um einen Parlamentssitz.
"Entweder muss er aufgeben und sich zurückziehen, das heißt eine normale Stellung, wie sie unsere Verfassung für einen Staatspräsidenten vorsieht, annehmen bzw. hinnehmen, oder weiter zwingen. Zwingen heißt in der Türkei und in der Region immer, eskalieren lassen."
Seit der für die AKP und Präsident Erdogan unbefriedigend verlaufenen Juni-Wahl eskaliert die Lage in der Türkei. Traurige Höhepunkte waren der wiederaufgeflammte Konflikt mit der verbotenen PKK sowie der Terroranschlag von Ankara mit mehr als 100 Toten am 10. Oktober.
Es habe eine Demonstration gegeben, berichtet ein Augenzeuge in Ankara. Zwei Bomben seien kurz hintereinander explodiert und viele Menschen seien in Mitleidenschaft gezogen worden. Es sollte eine Friedensdemonstration werden. Aufgerufen hatten linke Gruppen, Gewerkschaften und die linksliberale prokurdische HDP. Deren Vorsitzender Selahattin Demirtaş erhebt schwere Vorwürfe.
"Die Bilanz ist verheerend. Es ist ein niederträchtiger Anschlag. Wir fragen uns: Ist es überhaupt möglich, dass der Staat, dessen Nachrichtendienst so effizient arbeitet und der uns Tag und Nacht abhört und verfolgt, keinerlei Hinweise auf diesen Anschlag hatte? Wir stehen einer mafiösen, für alle ersichtlich serienmordenden Staatsgesinnung gegenüber."
Die Türkei ist momentan auf eine Weise ein zutiefst gespaltenes Land, die für viele noch im Frühjahr für unvorstellbar gehalten worden ist. Der für die AKP und Präsident Erdogan negative Ausgang der Parlamentswahl habe wie ein Katalysator gewirkt, stellt der Professor für Staatsrecht und HDP-Kandidat Midhat Sancar fest. Er sieht die Hauptverantwortung bei Präsident Erdogan.
"Polarisierung braucht auch Kriegsmethoden - nicht immer direkt mit Waffen, aber doch auch eine sehr gespannte Gesellschaft, damit er irgendwie über 40 oder knapp 50 Prozent der Wähler auf seine Seite ziehen kann."
Seit Ende Juli befinden sich die als Terrororganisation gebrandmarkte PKK und der türkische Staat praktisch wieder im Kriegszustand. Der seit 1984 andauernde Konflikt hat mehr als 40.000 Menschenleben gefordert. In den vergangenen drei Monaten sind rund 150 Soldaten und Polizisten und möglicherweise Hunderte von PKK-Guerillas getötet worden. Der Politikwissenschaftler Vahap Coşkun von der Dicle-Universität in Diyarbakir lehnt es ab, die Schuld für die Eskalation allein der Regierung anzukreiden. Im Gegenteil.
"Wenn man sich die PKK-Aktionen anschaut, dann kann man gut erkennen, dass die PKK diesen Krieg begonnen hat. Sie hätte nach den Wahlen auch durchaus anders reagieren können. Sie hätten nach dem großen Erfolg der HDP sagen können, gut, wir haben die Botschaft verstanden, das Hauptgewicht liegt offenbar in einer politischen Lösung. Aber sie hat das Gegenteil gemacht. Sie hat den Weg der Konfrontation gewählt."
Viele sehen den Auslöser für das Ende des zweieinhalb Jahre geltenden Waffenstillstands im Bombenanschlag vom 20. Juli in der türkischen Grenzstadt Suruç. Damals wurden mehr als 30 pro-kurdische Aktivisten getötet. Anschließend wurden zwei Polizisten kaltblutig ermordet, wofür die PKK verantwortlich gewesen sein soll. Die Attentäter von Suruç sollen ebenso wie die Attentäter von Ankara Anhänger der Terrormiliz gewesen sein, die sich selbst Islamischer Staat nennt. Viele Kurden beschuldigen die türkische Führung, islamistische Terrorgruppen in Syrien geduldet, oder gar unterstützt zu haben.
Sie glaube nicht, dass das Wahlergebnis alleine für die Entscheidung zur Kriegsführung verantwortlich sei, wendet die Publizistin Nurcan Baysal in Diyarbakir ein.
"Ein weiterer wichtiger Grund dafür ist das, was in Syrien geschieht. Dort hat die PYD jetzt viel Macht. In der internationalen Gemeinschaft haben schon Diskussionen darüber angefangen, die PKK von der Terrorliste zu streichen."
Die Partiya Yekitiya Demokrat – kurz PYD – ist ein Ableger der türkischen PKK. Der militärische Arm der kurdischen Partei der Demokratischen Union in Nordsyrien ist unter dem Kürzel YPG bekannt. Die YPG hat sich in den vergangenen Monaten als effektivste Truppe im Kampf gegen die IS-Terrormiliz in Nordsyrien erwiesen. Die Obama-Administration in Washington hat vor wenigen Tagen erklärt, sie wolle die YPG im Kampf gegen die IS-Terrormiliz ausrüsten. Für Ankara stellten die Aufwertung der nordsyrischen Kurden und deren militärische Erfolge im von den Kurden Rojava genannten Nordsyrien schwerwiegende Hürden für den Friedensprozess in der Türkei dar, meint Midhat Sancar.
"Beim Verlauf, bei der Krise und beim Ende des Prozesses hat Rojava die bestimmende Rolle gespielt. Eindeutig. Erdogan sagte schon vor zwei Jahren, eine Autonomie für die Kurden in Rojava sei für ihn eine rote Linie. Das ist ja eigentlich eine Kriegserklärung, aber trotzdem ist der Prozess weiter gegangen bis die Sache in Rojava ziemlich ernst wurde. Dann hat er den Prozess deswegen gekippt."
"Während des Friedensprozesses ist die PKK hier in der Region sehr stark geworden. Das hat dem Staat nicht gefallen. Der Staat hat deshalb gerne die Einladung angenommen."
... und massive Bombardierungen von PKK-Stellungen im Nordirak und in Südostanatolien ins Werk gesetzt, konstatiert der Politikwissenschaftler Vahap Coşkun von der Dicle Universität in Diyarbakir.
"Die PKK ist nicht notwendigerweise ein Hindernis auf dem Weg zu einer Lösung des Konflikts. Aber ich kritisiere ganz deutlich die Politik der PKK in den vergangenen zwei, drei Monaten. Es ist von A bis Z falsch, in Städten Autonomie zu erklären, Städte abzuriegeln, einen revolutionären Volkskampf auszurufen. Das schadet doch nur den Kurden und Kurdistan. Natürlich hat auch der Staat viel falsch gemacht. Er hat die Forderungen nicht klar benannt, er hat eine Einigung auf niedrigstem Niveau gesucht und sehr auf Zeit gespielt."
"Ich habe erwartet, dass der Friedensprozess irgendwann kollabieren wird"
Die Zeit hat nicht für Ankara gearbeitet. Der noch im Frühjahr für möglich gehaltene Friedensprozess hat vor allem der HDP genutzt. Das ist eine der bitteren Erkenntnisse, mit denen die AKP durch die Wahlschlappe vom 7. Juni konfrontiert wurde. Und noch etwas gibt die Publizistin Nurcan Baysal zu bedenken.
"Ich habe erwartet, dass der Friedensprozess irgendwann kollabieren wird. Hier in der Region sehen wir, dass es nicht voran geht. Die PKK und die kurdische Seite sehen den Friedensprozess als Möglichkeit, eine neue Gemeinschaft aus Türken, Kurden, Syriani und anderen sowie eine Gemeinschaft aus Frauen und Männern zu formen. Der Staat sieht im Friedensprozess vor allem die Entwaffnung der PKK."
Fünf Monate politische Stagnation und wachsende Verunsicherung in der Türkei, um dem Volk, wie Präsident Erdogan es ausdrückt, die Möglichkeit zu geben, "den Fehler vom 7. Juni zu korrigieren".
Die türkische Wirtschaft lahmt; ausländische Investoren halten sich wegen innenpolitischer Spannungen zurück; die türkische Lira hat binnen Jahresfrist 40 Prozent an Wert verloren; das Handelsbilanzdefizit ist ungesund hoch. Die vergangenen fünf Monate haben dem Land in keiner Weise gut getan, stellt der Publizist Mustafa Akyol fest.
"Sie benutzen das Terrorproblem, um die HDP zu dämonisieren. Sie sagen, das alles passiert, weil die HDP bei den Wahlen gewonnen hat, arrogant und verdorben geworden ist. Das ist nicht der Fall. Aber sie verwenden das, um die HDP zu dämonisieren, damit diese ihre Stimmen verliert und unter zehn Prozent rutscht, und die AKP wird einen überwältigenden Sieg einfahren."
Die HDP sei der verlängerte Arm der PKK, insinuieren seit Monaten AKP-Granden und regierungsnahe Medien.
Sie beobachte, dass die Verbindungen zwischen HDP und PKK schwächer geworden seien, urteilt die Publizistin Oya Baydar. Die HDP habe sich zu einer eigenständigen politischen Kraft entwickelt.
"Ich denke auch, dass die bewaffnete kurdische Bewegung – also die PKK - die Linie nicht gut findet, die HDP-Chef Demirtaş vertritt. Waffen sind das eine, ein demokratischer Kampf ist aber etwas ganz anderes. Wer einen bewaffneten Kampf führt, der kann die Bedingungen eines demokratischen Kampfes nicht verstehen. Ich glaube daher, dass die bewaffnete Bewegung zurzeit die Demirtaş-Linie nicht anerkennt, ja, sogar bewusst dagegen agiert."
Der Wahlerfolg der prokurdischen HDP, die auch von vielen liberalen und linken Türken gewählt worden ist, hätte eine neue Phase der türkischen Politik einleiten können. Bis jetzt hat er vor allem restaurative Kräfte und böse Geister der Vergangenheit geweckt. Einst war der Publizist Mustafa Akyol ein glühender Unterstützer Erdogans. Dessen wachsende Tendenz zu autokratischem Handeln hat ihn auf Distanz gehen lassen.
"Wir brauchen eine Balance in der türkischen Politik. Wir brauchen die pro-kurdische HDP, die Demokratische Partei der Völker, im Parlament. Wir brauchen im Parlament vier Parteien und wir brauchen keine AKP, die mit einer Parlamentsmehrheit an die Macht kommt."
Was, wenn die HDP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert?
"Eine Wut und Zorn wird explodieren und viele werden denken, dass die Ergebnisse durch Betrüger verfälscht worden sind."
Und dann? Offener Bürgerkrieg in der Türkei? Der Staatsrechtler Midhat Sancar hält das für unwahrscheinlich.
"Ich glaube, irgendwie der gesunde Verstand der Gesellschaft in der Türkei findet immer Lösungen und Wege zur Normalisierung. Diesmal wird es auch so sein. Bürgerkrieg ist für mich ein Wort, das für die Türkei nicht einfach auszusprechen ist."