Die türkische AKP werde alles tun, um an der Macht zu bleiben, glaubt die in Istanbul geborene Lale Akgün. Denn: "Die Aufhebung der Immunität der Regierungsmitglieder hätte unglaubliche Konsequenzen", sagte Akgün im DLF, sie hätten "zu viel ausgefressen". Bei den Parlamentswahlen am Sonntag in der Türkei rechnet sie mit Manipulationen.
Im Fall eines Wahlsiegs, von dem Akgün ausgeht, werde die AKP zudem versuchen, ihre Macht noch weiter auszubauen, etwa durch die Einführung eines Präsidialsystems "ohne demokratische Kontrolle". Ein Koalitionspartner, der die von Akgün befürchtete fortschreitende Entdemokratisierung des politischen Systems durch die AKP stoppen könnte, sei nicht in Sicht. Ebenso schwierig sei eine Koalition der drei Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP. "Was diese zusammenhält, ist der gemeinsame Feind AKP", so Akgün. Ohne die AKP würden die Unterschiede zwischen Sozialdemokraten, Nationalisten und Kurden schnell zutage treten.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Morgen, am Sonntag, wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Die seit 13 Jahren regierende AK-Partei von Präsident Erdogan wollte dabei eigentlich versuchen, ihre Mehrheit weiter auszubauen. Ob ihr das allerdings gelingt, ist fraglich. Einige Umfragen deuten darauf hin, dass sie ihre absolute Mehrheit zwar nicht verliert, aber doch an Stimmen einbüßt und künftig auf einen Koalitionspartner angewiesen sein könnte. Bei mir im Studio ist Lale Akgün, ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD, sie hat sich jahrzehntelang immer wieder mit der politischen Situation in der Türkei beschäftigt, auch weil sie selbst in Istanbul geboren ist. Schönen guten Morgen, Frau Akgün!
Lale Akgün: Guten Morgen!
Armbrüster: Frau Akgün, was wäre so schlimm, wenn die AK-Partei wieder gewinnen würde?
Akgün: Nun, wenn die AK-Partei wieder gewinnen würde, wäre das Erste, was die Partei durchsetzen möchte, ein neues Präsidialsystem, ein Präsidialsystem alla turca allerdings, ohne check and balance, ohne Kontrolle, und eine zunehmende Entdemokratisierung des Landes.
Armbrüster: Was könnte ein Koalitionspartner daran ändern, wenn es denn einen gäbe?
Akgün: Wenn es einen Koalitionspartner gäbe, dann könnte natürlich er darauf drängen, dass weniger Entdemokratisierung stattfindet. Aber ich bin nicht so überzeugt davon, dass es einen Koalitionspartner geben wird.
Oppositionsparteien: "Was sie zusammenhält, ist der gemeinsame Feind"
Armbrüster: Warum sind Sie nicht überzeugt?
Akgün: Weil ich glaube, dass die AKP alles darauf anlegen wird, auf jeden Fall an der Macht zu bleiben. Sie können gar nicht anders als an der Macht bleiben, weil sie einfach inzwischen zu viel - in Anführungszeichen - ausgefressen haben. Die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten und auch der Regierungsmitglieder hätte für alle unglaubliche Konsequenzen. Es wird in der Türkei darüber diskutiert, ob man nicht - wie viel Strafe jeder bekommen würde theoretisch, wenn er nicht mehr die Immunität hätte. Deswegen müssen sie mit aller Macht versuchen, an der Macht zu bleiben und die Macht auszubauen weiterhin, also auch keine demokratische Kontrolle. Deswegen ist ein Koalitionspartner ungünstig, zumal ich auch keine Partei sehe, die im Moment nach all den Entwicklungen in der Türkei bereit wäre, mit der AKP eine Koalition einzugehen.
Armbrüster: Wie sieht denn die Oppositionslandschaft eigentlich aus? Könnten sich diese Parteien nicht zusammenschließen zu einem Bündnis, wenn doch der Widerstand gegen diese Partei so groß ist?
Akgün: Nun, wir haben in der Opposition ja drei Parteien, die CHP - die sozialdemokratische Partei -, wir haben die MHP - das sind die Nationalisten -, und wir haben die HDP, die kurdische Partei. Sie merken schon, dass eine Koalition der drei etwas schwierig sein würde, Nationalisten und Kurden zusammen in einer Koalition. Also, man würde vielleicht ein Zweckbündnis eingehen können, aber das wäre auch nicht haltbar. Deswegen glaube ich nicht, dass dort eine Koalition zustande kommt, zumal die Opposition, AKP als Opposition wäre so stark, dass sie auch gar nicht es wagen würden, eine Koalition einzugehen.
Armbrüster: Und was würde dann passieren?
Akgün: Sie würden einfach, sie könnten nicht arbeiten! Ich glaube, mit der AKP in der Opposition - das Erste wäre die Aufarbeitung der Vergangenheit, all dessen, was passiert ist in den letzten Jahren. Also, sie hätten damit was zu tun, aber vorantreiben könnten sie die Gesellschaft nicht. Das glaube ich auch nicht, dass die sich einig werden würden an der Stelle. Denn das, was sie zusammenhält, ist im Moment der gemeinsame Feind, und das ist die AKP. Und wenn die nicht mehr an der Macht ist, werden die Unterschiede der drei Parteien sehr schnell zutage treten.
Armbrüster: Es wird jetzt viel Augenmerk gelegt auf diese neue Partei, die prokurdische HDP. Wir haben das heute Morgen auch gemeldet, da hat es gestern bei einer Wahlkampfveranstaltung in Diyarbakir zwei Explosionen gegeben mit zwei Toten. Die genauen Umstände sind noch nicht geklärt, ob es sich um einen Anschlag handelt, aber es hat schon jede Menge Anschläge auf Veranstaltungen dieser Partei gegeben. Was ist das für eine Partei, die HDP, was für Wähler hat diese Partei?
Akgün: Nun, die HDP ist gestartet als eine kurdische Partei im Osten der Türkei, hat sich aber sehr entwickelt und ist im Moment in der ganzen Türkei vertreten. Der Vorsitzende, der junge Demirtas hat sich zu einem Popstar entwickelt und inzwischen ist die HDP ein Sammelbecken für linke junge Liberale, für junge Demokraten. Also eigentlich eine Partei, auf die die Türkei schon lange gewartet hat.
"HDP ist das Zünglein an der Waage"
Armbrüster: Und warum gibt es so viele Anschläge auf diese Partei oder auf deren Wahlkampfveranstaltungen?
Akgün: Nun, diese Partei hat natürlich eine Schlüsselposition. Sie wissen ja, die Hürde ist in der Türkei sehr hoch, das heißt, die HDP muss über zehn Prozent kommen, um ins Parlament gelangen zu können. Und wenn die HDP ins Parlament kommt, werden sich die Verhältnisse sehr ändern. Und das heißt, die Sitzverteilung wird eine andere werden. Das System ist ja so, die HDP würde bei zehn Prozent circa 60 Sitze bekommen. Kommt sie nicht rein, würden von den 60 Sitzen über 50 allein an die AKP als stärkste Fraktion fallen! Das heißt, der AKP kann es gar nicht gelegen sein, dass die HDP reinkommt, deswegen hat sich der Wahlkampf ja vor allem gegen die HDP in der letzten Zeit von der AKP konzentriert. Denn die AKP muss mindestens die absolute Mehrheit bekommen aus ihrer Sicht. Und deswegen ist natürlich die HDP im Moment Feind Nummer eins und die ist das Zünglein an der Waage. Deswegen ist es ganz wichtig zu sehen, wird sie es schaffen, wird sie es nicht schaffen. Wobei ich auch noch sagen muss: Wir dürfen auch nicht übersehen oder müssen es aussprechen, dass auch Manipulationen morgen an der Tagesordnung sein werden. Also, die Wahl wird nicht so fair und transparent ablaufen, wie wir uns das wünschen.
Armbrüster: Frau Akgün, ich höre da jetzt aus Ihren Worten auch jede Menge Kritik wieder an der AKP, an Präsident Erdogan und an seiner Politik. Da kann ich mir vorstellen, dass viele Leute, die uns jetzt zuhören, sagen: Moment mal, dieser Erdogan, bei aller Kritik, das war ja immerhin auch der Mann, der so einiges erreicht hat in den letzten Jahren in der Türkei. Der zum Beispiel den Einfluss des Militärs deutlich zurückgedrängt hat und der ja auch die Türkei ganz nah herangebracht hat an eine EU-Mitgliedschaft, zumindest in die Verhandlungen mit der EU. Muss man ihm das nicht eigentlich zugutehalten?
Akgün: Nun, da stimme ich Ihnen völlig zu, auch ich selbst war ja am Anfang sehr begeistert von seiner Politik, weil ich gedacht habe, endlich kommt da jemand, der die verknöcherten und verkrusteten Strukturen in der Türkei aufbricht und bereit ist, neu zu denken. Auch die Zypern-Politik zum Beispiel war ein Thema auf einmal und so weiter. Das hat sich alles allerdings in den letzten Jahren sehr verändert, die AKP ist immer undemokratischer geworden, hat eigentlich nur noch eine Klientelpolitik betrieben. Sie müssen sich vorstellen, die AKP hat inzwischen über neun Millionen Mitglieder. Also, eine Partei, die neun Millionen Mitglieder hat, davon kann man in europäischen Ländern nur träumen oder man sollte davon lernen, besser nicht träumen. Das zeigt ja, dass jemand, der in der Türkei heute zu Wohlstand kommen will, Mitglied werden muss bei der AKP. Und die AKP hat sich immer mehr entdemokratisiert, letztendlich ist Erdogan auch nur eine Figur für eine Mentalität, die sagt: Wir haben die Wahl gewonnen, also machen wir uns auch das Land zur Beute! Und das ist natürlich eine Entwicklung, die wir als Demokraten nicht gutheißen können.
Akgün: Nun, da stimme ich Ihnen völlig zu, auch ich selbst war ja am Anfang sehr begeistert von seiner Politik, weil ich gedacht habe, endlich kommt da jemand, der die verknöcherten und verkrusteten Strukturen in der Türkei aufbricht und bereit ist, neu zu denken. Auch die Zypern-Politik zum Beispiel war ein Thema auf einmal und so weiter. Das hat sich alles allerdings in den letzten Jahren sehr verändert, die AKP ist immer undemokratischer geworden, hat eigentlich nur noch eine Klientelpolitik betrieben. Sie müssen sich vorstellen, die AKP hat inzwischen über neun Millionen Mitglieder. Also, eine Partei, die neun Millionen Mitglieder hat, davon kann man in europäischen Ländern nur träumen oder man sollte davon lernen, besser nicht träumen. Das zeigt ja, dass jemand, der in der Türkei heute zu Wohlstand kommen will, Mitglied werden muss bei der AKP. Und die AKP hat sich immer mehr entdemokratisiert, letztendlich ist Erdogan auch nur eine Figur für eine Mentalität, die sagt: Wir haben die Wahl gewonnen, also machen wir uns auch das Land zur Beute! Und das ist natürlich eine Entwicklung, die wir als Demokraten nicht gutheißen können.
"Junge Menschen sind inzwischen politisierter"
Armbrüster: Und Sie können ausschließen, dass es so eine Haltung nicht weiter geben würde unter einer anderen Regierung, die möglicherweise nach dieser Wahl ins Amt kommen könnte?
Akgün: So etwas kann man natürlich nie ausschließen, aber die AKP hat ja über zehn Jahre gebraucht, um genau zu sein 13 Jahre fast, um zu dem Punkt zu gelangen. Das heißt, die Türkei ist unter der AKP auch demokratischer geworden. Man muss also sehen, dass erst mal eine Aufarbeitung stattfinden muss nach den Wahlen, wenn die AKP die Wahl verlieren sollte, wovon ich nicht ausgehe. Und dann glaube ich nicht, dass so etwas sich wiederholen könnte, weil, dafür ist jetzt auch die Jugend zu sehr aufgewacht. Denken Sie an die Gezi-Unruhen vor zwei Jahren, das zeigt, dass in der Türkei junge Menschen inzwischen politisierter sind, als sie es vor zehn oder 15 Jahren waren. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Man lässt nicht mehr nach orientalischer Mentalität, ja, die oben, die da oben werden es schon schaffen, diese Mentalität ist weg. Stattdessen sagt man, nein, wir sind verantwortlich für dieses Land, wir müssen etwas tun. Und deswegen hoffe ich, dass mit der AKP auch diese Mentalität - das Land ist ein Selbstbedienungsladen und wer schlau ist, bedient sich selbst -, dass das aufhört.
Armbrüster: Lale Akgün war das live hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Ich habe mit der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten über die Wahlen morgen in der Türkei gesprochen. Vielen Dank, Frau Akgün!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.