Friedbert Meurer: In Israel wird heute die Knesset, das Parlament, neu gewählt. Knapp sechs Millionen Israelis sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Erste Prognosen wird es etwa heute Abend nach 21 Uhr geben. Wer am Ende die Wahlen gewonnen hat, das könnte kompliziert werden, denn es wird damit gerechnet, dass vielleicht zehn Parteien oder mehr in die Knesset einziehen werden. Das macht Koalitionen nicht gerade einfach.
Avi Primor war Israels Botschafter in Deutschland, jetzt ist er unter anderem Vorsitzender der Israelischen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einer der besten Kenner der deutsch-israelischen Beziehungen. Guten Tag, Herr Primor!
Avi Primor: Guten Tag, Herr Meurer.
Meurer: Es ist kein Geheimnis, dass in der deutschen Politik Benjamin Netanjahu nicht allzu viele Anhänger hat. Wie sehen Sie die Chancen, dass er heute abgewählt wird?
Primor: Weltweit hat er keine Chancen, aber in Israel doch. Weltweit ist er äußerst unbeliebt, unsere Politik ist unbeliebt, und Deutschland ist keine Ausnahme in dieser Sache. Selbst in Amerika ist das schon so geworden. Aber in Israel hat er Chancen. Er steht zwar in den Meinungsumfragen hinter Herzog, der Chef der Arbeitspartei, aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende in Israel ist, wer eine Koalition nach den Wahlen bilden kann, weil die Parteien sowieso sehr, sehr schwach sind. Schauen Sie: Netanjahu regiert heute mit 20 Mandaten. Nicht mehr als 20 Mandate hat seine Likud-Partei in einem Parlament von 120 Mandaten. Das heißt, er hat etwa 18 Prozent der Stimmen. Und doch kann er regieren, weil er eine Koalition bilden kann. Die Frage ist infolge dessen, wie die Zentrumsparteien abschneiden werden.
"Netanjahu macht immer nur Angst"
Meurer: Was macht Benjamin Netanjahu so stark in Israel, so wie Sie das schildern?
Primor: In Ihrer Reportage war es ganz klar: die Angstpolitik. Er kümmert sich wenig um Wirtschaftsprobleme, gesellschaftliche Probleme, oder Friedensprobleme. Er macht immer nur Angst. Überall will man uns angreifen, überall will man uns vernichten, überall lauert die Gefahr, man will wieder einen neuen Holocaust im Nahen Osten ins Leben rufen und solche Sachen, die den Leuten Angst machen, und das hat in Israel immer gut funktioniert, weil die Israelis von Natur aus oder wegen ihrer Geschichte ängstlich sind und sich immer um die Sicherheit Sorgen machen. Also spricht er immer nur davon und sagt, ich bin der Starke, ich bin der Rechte, nur ich kann kämpfen, nur ich kann euch schützen. Und das wirkt auf einen Teil, auf einen Teil der Bevölkerung, offensichtlich weniger als vorher.
Meurer: Wir haben lange nichts von der Arbeitspartei gehört. Jetzt hat der Vorsitzende Jitzchak Herzog offenbar doch zumindest noch eine Chance, Ministerpräsident zu werden, auch wenn Sie da skeptisch sind. Wie gut finden Sie das Bündnis mit Zipi Livni, dass dieses Bündnis überhaupt zustande gekommen ist?
Primor: Das ist gut, dieses Bündnis funktioniert gut und die beiden verstehen sich und sie werden gemeinsam sehr, sehr gut regieren können, vorausgesetzt, dass sie eine Koalition bilden können. Jetzt gibt es hier zwei Probleme. Zum einen: Es gibt eine noch gemäßigtere Partei, links, wie man das bei uns nennt, von der Arbeitspartei. Die sind nicht wirklich links, aber so nennt man sie, weil sie gemäßigt sind. Das ist die Meretz-Partei. Viele Wähler der Meretz-Partei, viele traditionelle Wähler der Meretz-Partei, die sagen, wie man es in Ihrer Reportage gehört hat, nur nicht Bibi, also nur nicht Netanjahu, und das heißt, den Herzog stärken. Das bedeutet, dass die Meretz-Partei die Klausel vielleicht nicht überwinden wird, und dann hat Herzog keinen Koalitionspartner. Das heißt, er schneidet besser ab, kann aber nicht Ministerpräsident werden. Das ist eine Gefahr. Die zweite Gefahr ist für ihn, dass er keine Koalition bilden kann, aber dennoch den Netanjahu blockieren kann, und dann wird es eine Große Koalition sein unter Netanjahu, und dann werden Herzog und Livni beide als Feigenblätter im Ausland, in Deutschland, in Amerika dienen.
"Das war immer verheerend"
Meurer: Das klingt so, als würden Sie Herzog und Livni dringend abraten, eine solche Große Koalition einzugehen?
Primor: Ich glaube, eine Große Koalition wird wirklich eine Katastrophe sein, weil dann Netanjahu gemütlich seine rechtsextremistische Politik fortsetzen kann und nicht unter Druck des Auslands stehen, weil alle ja Herzog und Livni lieben und alle werden zuhören, ja, seid geduldig, wir werden schon dafür sorgen, Netanjahu wird es schon schaffen. Das hat die Arbeitspartei in der Vergangenheit schon mehrfach gemacht, das war immer nur verheerend.
Meurer: Warum sollte dann Jitzhack Herzog in Kenntnis, wohin eine solche Koalition führen kann, nämlich fast in den Untergang der Partei, warum sollte die Arbeitspartei diesen Fehler wiederholen?
Primor: Um nicht in der Opposition zu bleiben, um Außenminister zu werden, um die Welt als Außenminister bereisen zu können. Das ist viel bequemer und angenehmer, als in der Opposition zu sitzen.
Meurer: Klingt nach einer sehr bitteren Einschätzung der innenpolitischen Verhältnisse bei Ihnen in Israel.
Primor: Na ja, aber die Wahlen können auch noch besser ausgehen.
Meurer: Nehmen wir mal an, es käme so, dass die Wahlen in Ihrem Sinne besser ausgehen, Herzog und Livni gewinnen. Für welche Politik stehen die beiden?
Primor: Ja das ist klar. Sie stehen für die Politik, für die Peres und Rabin gestanden haben, das heißt für Verhandlungen mit den Palästinensern, für das Ende der Besatzung, das Ende des Siedlungsbaus, einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern beziehungsweise mit der arabischen Welt insgesamt nach Modell des Friedensprojekts Saudi-Arabiens. Das ist alles wohl machbar, wenn wir tatsächlich auf das Westjordanland verzichten wollen, und das wollen eben Herzog und Livni.
Meurer: Der Vater von Jitzhack Herzog war israelischer Staatspräsident. Was ist das überhaupt für ein Mann, Jitzhack Herzog persönlich?
"Herzog ist politisch modern"
Primor: Er ist ein sehr effizienter Mann zunächst einmal. Er war ein außergewöhnlich effizienter Minister. Er war nicht ein sehr wichtiger Minister, aber anerkannt als besonders effizient. Er ist ein liebenswürdiger Mensch, der ist mit niemandem zerstritten. Das wird auch seine Arbeit, eine Koalition zu bilden, erleichtern. Und er ist politisch gemäßigt, ist politisch modern, weltoffen und will den Frieden mit den Palästinensern.
Meurer: Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland, zu den Wahlen in Israel, die für ihn noch nicht entschieden sind. Wir werden es vielleicht heute Abend erfahren, wie die Wahlen ausgegangen sind und wer der nächste Ministerpräsident von Israel werden wird. Herr Primor, danke schön und auf Wiederhören.
Primor: Danke, Herr Meurer.
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