Am 23. März haben in Israel die Parlamentswahlen stattgefunden. Auch die vierte Abstimmung innerhalb von zwei Jahren konnte – bislang – nicht zu stabilen Mehrheitsverhältnissen beitragen.
Die "Likud"-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu kommt auf 30 Sitze im Parlament. Zweitstärkste Kraft ist die linksliberale Partei "Jesch Atid" (JA), gefolgt von der ultraorthodoxen, nationalkonservativen Schas-Partei. Insgesamt ziehen 13 Parteien ins israelische Parlament ein. Es gilt eine 3,25 Prozent-Hürde. Für eine Mehrheit in der Knesset sind mindestens 61 von 120 der Parlamentssitze nötig.
Sitzverteilung in der Knesset nach der Parlamentswahl
Israels Staatspräsident hat nach der Wahl die Aufgabe, mit allen Parteien, die den Sprung in die Knesset geschafft haben, Gespräche zu führen und Empfehlungen für eine Regierungsbildung einzuholen. Am 6. April wurde Benjamin Netanjahu von Reuven Rivlin mit der Regierungsbildung beauftragt, gab den Auftrag aber nach vier Wochen zurück. Schuld ist - nach Lesart von Netanjahus nationalkonservativer Likud-Partei - Ex-Verteidigungsminister Naftali Bennett von der Partei Jamina, der Netanjahus Koalitionsangebot ablehnte. Nun droht dem 71-jährigen Netanjahu, der Israel seit zwölf Jahren ununterbrochen regiert, der Gang in die Opposition.
Israels Präsident Reuven Rivlin hat infolgedessen den Auftrag zur Regierungsbildung dem liberalen Politiker Jair Lapid erteilt, dessen Zukunftspartei bei den Wahlen im März zweitstärkste Kraft hinter Netanjahus Likud wurde. Auch für Lapid wird die Regierungsbildung äußerst schwierig.
Sollte die Regierungsbildung erneut Anlauf scheitern, stünde Israel vor den fünften Neuwahlen in knapp zweieinhalb Jahren.
Zu den Netanjahu-Befürwortern zählen neben der Likud-Partei die streng religiösen jüdischen Parteien: die nationalkonservative "Schas" sowie das ultraorthodoxe "Vereinigte Thora-Judentum" (VT) sowie die ultrarechte "Partei des religiösen Zionismus". Sie könnte für Netanjahu zum strategischen Problem werden. Tim Aßmann vom ARD-Studio Tel Aviv beschreibt die Ultrarechten im Dlf so: "Da sind zum Teil Extremisten mit dabei, die im Wahlkampf homophobe Hetze losgelassen haben, die gegen arabische Israelis gehetzt haben."*
Zwei jener Parteien, die in die Knesset gewählt wurden, wird die Rolle der Königsmacher zu geschrieben: Raam und Jamina. Raam ist eine Partei der arabischen Bevölkerungsminderheit, die ein Fünftel der israelischen Bevölkerung stellt. Eine Regierung, der sowohl Raam als auch die "Partei des religiösen Zionismus" angehören, gilt als sehr unwahrscheinlich.
Die tatsächlich entscheidende Rolle für eine Regierungsbildung könnte die Partei "Jamina" (übersetzt "Die Rechte") einnehmen. Um auf die nötige Mehrheit zu kommen, bräuchte Netanjahu die Unterstützung dieser Partei von Ex-Verteidigungsminister Naftali Bennett. Ideologisch trennt Bennett nicht viel vom Netanjahu-Lager, allerdings konnten er und der Ministerpräsident im politischen Betrieb keine Freunde werden. Auch das Werben von Netanjahu um die Unterstützung von Bennett für eine Koalition unter seiner Führung hat sich nicht ausgezahlt. Nach Wochen der Unklarheit hat der 49-jährige Bennett sich Ende Mai gegen Netanjahu entschieden und verkündet, den Anti-Netanjahu-Block um Jair Lapid und seiner liberalen Zukunftspartei zu unterstützen.
Die Parteien, die sich gegen Netanjahu positionieren, eint die Ansicht, dass ein Ministerpräsident unter Korruptionsanklage für das Land nicht tragbar ist – viel mehr aber auch nicht. Tatsächlich ist der sogenannte Anti-Netanjahu-Block eine breite Allianz aus rechtskonservativen, moderaten sowie linken Parteien und ideologisch sehr unterschiedlich aufgestellt. Stärkste Kraft in diesem Block ist die liberale Zukunftspartei ("Jesch Atid") von Jair Lapid. Nach dem Scheitern von Netanjahus Bestrebungen hat er den Auftrag eine Regierung zu bilden – bislang erfolglos.
Doch mit der Zusicherung der Unterstützung des Vorsitzenden der Jamina-Partei Naftali Bennett könnte sich das Blatt wenden.
Bennett erklärte in einer Fernsehansprache am 30. Mai
, Verantwortung übernehmen zu wollen: "Daher gebe ich bekannt, dass ich all meine Kraft für die Bildung einer Einheitsregierung zusammen mit meinem Freund Jair Lapid einsetzen werde. Damit wir den Staat gemeinsam aus dieser Endlosschleife befreien und Israel wieder auf den richtigen Weg bringen können." Lapid ist auch auf die Unterstützung einer oder mehrerer Parteien der arabischen Minderheit angewiesen – entweder als Koalitionspartner oder durch Tolerierung.
Medienberichten zufolge haben sich Bennett und Lapid bei erfolgreicher Regierungsbildung auf eine Rotation an der Regierungsspitze verständigt. Bennett würde demnach als Premierminister beginnen und das Amt nach zwei Jahren an Jair Lapid übergeben, der bis dahin Außenminister wäre. Doch noch sind die entsprechenden Koalitionsvereinbarungen nur mit einem Teil der Partner unterschrieben.
Ob Lapid aus den Netanjahu-Gegnern eine "Einheitsregierung" bilden kann, ist ungewiss. Die inhaltlichen Differenzen weiterer Partner, die für eine Mehrheit nötig sind, sind weiterhin groß: Dass sich beispielsweise Parteien der arabischen Minderheit und die Partei "Jisra’el Beitenu" (bekannt für ihren anti-arabischen Wahlkampf) auf einen gemeinsamen politischen Kurs einigen könnten, ist für viele Beobachter schwer vorstellbar. Ebenso glauben nur wenige daran, dass die rechtsgerichtete "Jamina" von Bennett mit der sozialistischen "Meretz" zusammenkommt. Denn: "Jamina" befürwortet die israelische Siedlungspolitik, "Meretz" spricht sich für eine Zweistaaten-Lösung aus - ein krasser Widerspruch.
Schafft es Lapid bis zum Auslaufen der Frist (Mitternacht 2. Juni) aus dem weiten politischen Spektrum der Netanjahu-Gegner eine Regierung zu bilden, wäre damit die Ära Netanjahu beendet.
In Israel haben gut 60 Prozent der Bevölkerung bislang eine erste Corona-Impfung erhalten, fast 55 Prozent waren bereits Ende März 2021 vollständig geimpft. Benjamin Netanjahu beansprucht den Erfolg der israelischen Impfkampagne für sich und betont häufig sein Engagement in der Angelegenheit – von Telefonaten mit dem Pfizer-Chef bis hin zum persönlichen Entgegennehmen von Impfdosen am Flughafen.
Trotzdem hat der amtierende Ministerpräsident sechs Parlamentssitze weniger gewonnen als bei der Wahl vor rund einem Jahr. Tim Aßmann aus dem ARD-Studio Tel Aviv glaubt, dass sich darin die Doppelrolle von Premierminister und Angeklagtem ausdrückt: "Dieser Impferfolg hat Netanjahu möglicherweise noch ein bisschen geholfen, aber er hat nicht den durchschlagenden Erfolg beschert."
Trotz der inhaltlichen Unterschiede und wegen der festgefahrenen Pattsituation sieht es momentan danach aus, dass sich beide Lager (Pro- und Contra-Netanjahu) eine Regierungsbeteiligung arabischer Parteien durchaus vorstellen können. Tim Aßmann: "Und das hat es in Israels Geschichte bisher noch nicht gibt geben, dass eine Partei der arabischen Bevölkerungsminderheit in einer Koalition saß."
Im Februar 2019 trat Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit vor die Presse und verkündete die Anklageerhebung gegen Netanjahu wegen Bestechlichkeit, Untreue und Betrug. In dem Verfahren, das im Mai 2020 eröffnet wurde, stehen drei Vorwürfe im Fokus: Unter dem Stichwort "Affäre 4000" wird darüber verhandelt, ob der Ministerpräsident dem Telekom-Unternehmen Besek für positive Berichterstattung Millionenbeträge zugeschanzt hat.
In der "Affäre 2000" geht es um die Frage, ob sich Netanjahu eine positive Berichterstattung der meistgelesenen israelischen Tageszeitung "Jediot Ahronot" sicherte, indem er eine gesetzliche Beschränkung für die Verbreitung der Gratis-Zeitung "Israel Hajom" in Aussicht stellte.
Hinter der sogenannten "Affäre 1000" verbirgt sich wiederum der Vorwurf, Netanjahu und seine Familie hätten Zigarren, Champagner und Schmuck im Gegenwert von umgerechnet rund 175.000 Euro von reichen Persönlichkeiten entgegengenommen. Netanjahu streitet alle Vorwürfe ab, die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage auf mehr als 300 Zeugenaussagen.
Benjamin Netanjahu ist der erste israelische Ministerpräsident, der im Amt angeklagt wurde. In Israel genießt der Regierungschef keine juristische Immunität, er muss während eines laufenden Prozesses aber auch nicht zurücktreten.
Quellen: Deutschlandfunk, Tim Aßmann, AFP, jma, cp
*In einer früheren Version war das Zitat einer falschen Partei zugeordnet. Wir haben das korrigiert.