Es sind viele tausend Menschen, die sich am 15. März vor dem Nationalmuseum in Budapest versammelt haben. Der Ministerpräsident – Viktor Orbán – blickt auf ein Fahnenmeer aus Rot-Weiß-Grün. 15. März - an diesem Tag wird eigentlich an den Freiheitskampf der Ungarn gegen die Habsburger 1848 erinnert. Aber in diesem Jahr fällt der Nationalfeiertag mitten in den Wahlkampf. Orbán sagt:
"In Petöfis 'Lied der ungarischen Nation' würde das Wort 'Nebenkostensenkung' nicht gut passen. Aber es ist einfach, zu verstehen, dass die erste und wichtigste Aufgabe ist, die ungerechten und unwürdigen Belastungen zu senken."
"Nebenkostensenkung" – das ist das Drei-Wort-Wahlprogramm der Regierung Orbán. "Wir machen weiter" – wieder nur drei Worte für die Ziele. So hat sie Orbán beschrieben. Wenige Eckpunkte sind bisher bekannt: Er will Ungarn zu einem Industrieland machen und dabei sogar Deutschland überholen. Er will die billigste Energie in Europa anbieten - mittels staatlicher Versorgungsunternehmen, die keine Gewinne machen sollen. Die Hälfte der Banken soll künftig in ungarischer Hand sein. Und er will Vollbeschäftigung. Orbán zieht vor seinen Anhängern Bilanz.
"In den letzten Jahren haben wir der Welt gezeigt: Wir sind eine starke und mutige Nation. Wir standen für uns ein und kämpften unsere Kämpfe. Gegen Gegner, die größer und stärker erschienen – gegen die Finanzwelt, gegen Hauptstädte des Reiches, und gegen Naturkatastrophen. Wir haben gezeigt: Wir schützen ungarische Familien vor dem Wucher, vor den Monopolen, vor den Kartellen, vor den Bürokraten des Reiches, die sich über den Willen der Nationen erheben wollen."
Mit Reichsbürokratie meint der Nationalkonservative die Brüsseler Institutionen. Orbán hat sich mit ausländischen Banken angelegt und multinationale Konzerne mit Sondersteuern belegt. Auch mit Brüssel lag Orbán im Dauerclinch: Es ging dabei meist um Grundsätzliches. Medienfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, fundamentale Menschenrechte, kurz: wichtige Säulen einer Demokratie. EU-Kommission, EU-Parlament und der Europäische Gerichtshof rügten die ungarische Regierung immer wieder. Der Grünen-Abgeordnete Rui Tavares mahnte bei der Vorstellung seines ungarn-kritischen Berichtes im Europaparlament im vergangenen Jahr:
"Europa ist ein vielfältiger Ort. Es gibt Republiken und Monarchen, föderale und zentralistische Staaten, mit Ein- oder Zweikammern-Parlamenten. All das ist möglich im Rahmen der Werte, die in den Verträgen festgehalten sind. Wir respektieren diese Vielfalt nicht nur, wir schätzen sie. Aber betroffen macht uns, wenn sich Veränderungen gegen diese Werte richten. Wir sind hier, um diese Grundwerte zu respektieren und zu schützen. Denn Europa ist nicht nur ein Club der Demokratien – wir sind eine Union der Demokratie."
Die Verfassung ist kein Spielzeug – so riefen auch Demonstranten in Ungarn vor einem Jahr. Mittlerweile hat die Regierung Orbán die neue Verfassung fünf Mal verändert, owohl sie ohnehin die weltanschauliche Handschrift der Nationalkonservativen trägt. Das geschah stets mit der erdrückenden Zweidrittel-Mehrheit der Regierungspartei Fidesz und ihres viel kleineren Koalitionspartners, der Christdemokraten. Diese Mehrheit ist Orbáns Machtinstrument – zahlreiche Gesetze mit Verfassungsrang sind hinzugekommen. Sie können nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit wieder geändert werden. Rückendeckung erhielt Viktor Orbán mehr als einmal auch von seiner konservativen Parteienfamilie im Europa-Parlament, der EVP-Fraktion. Der Grüne Daniel Cohn-Bendit sprach die Konservativen ganz direkt darauf an.
"Wir sagen: Sie gehen in Richtung der Herren Chávez oder Castro und aller totalitären Regime. Regime, die wir bekämpfen – gemeinsam mit Ihnen. Und sie haben nicht die Kraft, mit Herr Orbán zu kämpfen."
Putin-isierung und 800 maßgeschneiderte Gesetze
Mit über 800 Gesetzen schneiderte sich die Regierung Orbán in den vergangenen Jahren den Staat auf den Leib, besetzte Verfassungsgericht, Medienbehörde und wichtige Schaltstellen in Staat, Wirtschaft und Kultur mit Getreuen – oft über die Dauer von zwei Legislatur-Perioden hinweg. Die Macht des Verfassungsgerichts ist beschnitten worden – die Mechanismen, die in Demokratien zu einem Macht-Gleichgewicht führen, sind in Schieflage geraten. Der Journalist Attila Mong warnt:
"Diese Ordnung geht stark in Richtung 'gelenkte Demokratie' – wir entfernen uns immer mehr von liberalen, europäischen Demokratien. Was mit der Verfassung geschah, mit dem Recht, dem Verfassungsgericht, zeigt: Hier wird eine Ordnung errichtet, in der das Recht relativ ist. Das Recht ist auf der Seite derer, die die Gesetze schreiben. Sie sagen, was Recht bedeutet. Solche Tendenzen gab es in Ungarn immer, aber in den letzten zwei, drei Jahren hat sich das beschleunigt."
Die Regierung Orbán führt auch einen Kampf um die Köpfe: Gut 1000 Journalisten wurden aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk entfernt. Die Staatsmedien wurden zentralisiert, eine einzige Stelle liefert die Nachrichten. Über den Werbemarkt – der mehrheitlich in der Hand Fidesz-naher Oligarchen ist, wird die öffentliche Meinung indirekt kontrolliert. Medien, die der Opposition nahestehen, werden finanziell ausgehungert. Das Meinungsforschungsinstitut Mérték spricht in einer Studie von "sanfter Zensur". Attila Mong ist einer der Verfasser.
"Wir sehen gleichzeitig eine Berlusconisierung und Putinisierung. Das heisst: Die Medien sind immer mehr nach Parteien sortiert – im Kabel gibt es Links und Rechts-TV. Das ist à la Berlusconi. Ähnlich wie bei Putin wiederum ist: Im Internet geht alles. Das lassen sie in Ruhe, und es interessiert sie auch nicht besonders. Aber die Main-Stream- Medien, Staats-Fernsehen, Radio, Leitmedien im Printbereich – die verbreiten das, was sie wollen."
Auch das Bild im Ausland möchte die Regierung Orbán kontrollieren. In Studien wird gemessen, wie positiv oder negativ Korrespondenten über das Land berichten. Botschafter und ungarische Landsmannschaften in westlichen Ländern werden mobilisiert, um auf kritische Journalisten einzuwirken. Trotzdem bestreitet Außenstaatssekretär Gergely Pröhle, dass Druck ausgeübt wird.
"Der Freiheit der Medien, auch der ausländischen, sind in Ungarn keinerlei Hindernisse gesetzt. Freiheit der Medien und der Presse ist der jetzigen Regierung sehr wichtig."
Kritik mag sie trotzdem nicht. Der Budapester Korrespondent des Österreichischen Fernsehens, Ernst Gelegs über die Haltung der Regierung Orbán zu den Medien.
"Die Regierung ist der Meinung, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Kritik ist daher unerwünscht, weil man an Wahrheit keine Kritik üben kann."
Das ist eigentlich ein typisches Kennzeichen von Einparteien-Systemen. Und wie schon zu kommunistischen Zeiten werden auch heute ungarisch-stämmige Kritiker im Ausland zu Dissidenten gemacht, sagt der Schriftsteller Rudolf Ungváry.
"Wer nicht Anhänger dieser Regierung ist, der gehört weder zur Nation, noch zum Vaterland. Und all diese Ungarn, die im Westen Kritik gegen das System erheben, gelten als Landesverräter."
Die Einteilung in Gut und Böse scheint selbst die Wähler zu treffen. In den Nachbarstaaten leben – aufgrund des Trianon-Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg – mehr als zwei Millionen Ungarn. Orbán umwirbt sie mit dem Doppelpass und dem Wahlrecht – mehr als eine halbe Million Auslandsungarn wurden Staatsbürger. In einem Video werden sie nun zur Wahl aufgerufen.
Wenn auch indirekt, so nimmt das Video doch Bezug auf die Maßnahmen der Regierung: Die Botschaft scheint klar: Orbán hat Euch den Doppelpass und das Wahlrecht gegeben. Wer das Video in Auftrag gegeben hat, das bleibt im Dunkeln. Klar ist jedoch eines: Die ungarischen Neu-Bürger sollen helfen, den Wahlsieg zu sichern. Die Rechnung könnte aufgehen, legen Daten des Politologen Zoltán Kisszelly nahe.
"Es wird erwartet, dass 85 Prozent dieser Auslandsungarn sich für die Fidesz-Regierung entscheiden, und zirka zehn bis 15 Prozent für Jobbik, für die Radikalen."
Den Neubürgern wird die Wahl leicht gemacht, wie ein anderes Video der Wahlbüros erklärt. Sie können per Brief abstimmen. Den Auslandsungarn im Westen dagegen - immerhin eine halbe Million haben das Land seit Orbáns Amtsantritt 2010 verlassen - wird das Wählen schwer gemacht: Sie müssen in weit entfernte Konsulate oder Botschaften fahren oder in ihren Heimatwahlkreisen abstimmen.
Orbánistan – die gemanagte Demokratie
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, bemängelt diese Ungleichbehandlung. Die linke Opposition befürchtet Manipulationen. Schon jetzt gibt es Klagen über zahllose, hastig gegründete Kleinst-Parteien, die Verwirrung stiften. Der Zuschnitt der Wahlkreise, die zuvor erforderliche Registrierung in Wähler-Verzeichnissen, das Verbot von bezahlter Wahlwerbung in privaten Medien – all das ist nach Meinung von Kim Lane Scheppele, Juristin an der Princeton Universität, problematisch.
"Das ist ein Fidesz-freundliches System. Ich sehe nicht, wie das freie und faire Wahlen sein können."
Der aktuelle Bertelsmann Transformationsindex führt Ungarn bereits als "defekte Demokratie". Einer der linken Herausforderer, der ehemalige Ministerpräsident Gordon Bajnai, wählt eine andere Bezeichnung. Er nennt das System unter Orbán eine "gemanagte Demokratie".
"Viktor Orbáns Antwort auf die Wirtschaftskrise war, Ungarn zu einer Art Nach-Sowjet-Staat umzubauen, einer Art Orbánistan. Er möchte eine entleerte Pseudo-Demokratie zentralasiatischen Typs errichten – er ist damit noch nicht fertig. Und darin sollen er und einige hundert oder tausend mit ihm verbundene Menschen mittels Manipulation über die große Mehrheit herrschen."
Auch wenn die Anhänger der gemeinsamen Wahl-Plattform der Linken den Regierungswechsel fordern, ihre Chancen stehen schlecht. Umfragen sagen einen klaren Sieg der aktuellen Regierung voraus – nur eine Frage scheint offen: Absolute Mehrheit oder wieder Zweidrittel-Mehrheit? Die Großkundgebung am Nationalfeiertag mussten die Linken wegen schwerer Sturmböen abblasen. War das etwa ein böses Omen? Sozialistenchef Mesterházy ist gezwungen, zu improvisieren: Ein kleines Megaphon muss ihm genügen. Erst entschuldigt er sich wegen des Wetters, dann sagt er:
"Viktor Orbán hat dem Volk das Land gestohlen. Die Demokratie. Und das Geld der Menschen. Er hat die ungarische Wirtschaft zerstört. Deshalb muss diese Regierung weg."
Die linke Opposition ist trotz der gemeinsamen Wahl-Plattform uneins. Ein hochrangiger Sozialist musste gehen, wegen ungeklärter Überweisungen auf seinem Konto. Die Plakatflächen sind mehrheitlich in der Hand Fidesz-naher Unternehmen, beklagen die Linken. Und ohnehin fällt es ihnen immer schwerer, die eigenen Leute zu mobilisieren - im Gegensatz zur Rechten, meint der Parteienforscher Endre Hann.
"Sie können viel besser dieses sehr engagierte Wählerlager zusammen halten. Es ist so, als ob es nicht um politische Ansichten ginge, sondern um eine Art Glaube. Das ist eine Gruppe von Gläubigen, die sehr auf Orbán ausgerichtet ist, sehr loyal, sehr engagiert."
"Eine Art von Mafia-System"
Hinzu kommt: Die Regierungspartei hat ihre Macht betoniert. Die Zweidrittel-Gesetze – etwa die Festschreibung einer 16-prozentigen Flat Tax, eines Einheitssteuersatzes – garantieren die Fortsetzung ihrer Politik, sogar im Falle eines Machtwechsels. Und es gibt Profiteure. Die Soziologin Mária Vásárhelyi nennt sie "Polypen".
"Schemenhaft zeigt sich eine Art von Mafia-System. Das sieht man in verschiedenen Lebensbereichen. Wenn die Wirtschaftsinteressen von Oligarchen schon in Gesetze eingebaut werden, die Gesetze ihnen also dienen, nennen wir das üblicherweise Mafia-System. Wenn also nicht die formale politische Macht das Land regiert, sondern diese wirtschaftlichen Interessengruppen bestimmen, was in einem Land geschieht."
Das bestätigt auch die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International. Vor allem die Fidesz-Oligarchen Simicska und Nyerges sind wichtige Strippenzieher im Hintergrund. Sie steuern Baufirmen, Werbeimperien, Medien. Und sie profitieren besonders stark von Staatsaufträgen. Der innerste Machtzirkel des Fidesz-Netzwerks besteht aus Studienfreunden Orbáns, erklärt die Soziologin.
"Die Leute, die heute Politik und Wirtschaft in Ungarn dominieren, wohnten Ende der 80er-Jahre auf demselben Gang eines Jungen-Internats. Und als Fidesz in der Politik auftauchte, begann der wirtschaftliche Aufbau dieses Imperiums, und das wurde mit dem zweiten Wahlsieg 2010 ausgebaut. Heute geschieht nichts mehr in Ungarn, was nicht dieser sehr kleinen Interessengruppe zugutekäme."
Die einfache ungarische Gleichung heißt: politische Macht gleich wirtschaftliche Macht. Das gelte seit der politischen Wende, und zwar unabhängig von der politischen Couleur, analysiert die Soziologin Mária Vásárhelyi.
"Die ungarische politische Elite ist ausserordentlich korrupt – nicht nur rechts, sondern auch links. Bis 2010 war es so: Immer wenn öffentliche Gelder abgezweigt wurden, wurden sie ins Wirtschaftsumfeld oder zur Regierungspartei selbst umgeleitet – und das zu 70 Prozent. 30 Prozent bekam die Opposition. Die Fidesz-Politiker konnten das sehr viel geschickter ausnutzen. Ein Teil der Gelder wanderte in private Taschen – aber sie achteten sehr darauf, dass ein Großteil des Geldes zur Verfügung stand, um die Partei aufzubauen und das dazugehörige Medienimperium."
Krisengewinnler sind die Radikalen
Gábor Vona, der Chef der rechtsextremen Jobbik spricht zu seinen Anhängern. Er verspricht ihnen den Wahlsieg – Umfragen sagen der Partei wieder bis zu 18 Prozent der Stimmen voraus. Die Radikalen sind die Krisengewinnler, die Profiteure der tiefen Spaltung zwischen Links und Rechts. Insbesondere bei jungen Ungarn können die Radikalen punkten. Jeder dritte Student würde sie wählen, sagt der Politologe Zoltán Kisszelly.
"Die Tendenz zeigt, dass die Protestwähler eher zu Jobbik tendieren, weil Jobbik als noch unverbrauchte Kraft, vermeintlich nicht korrupte Partei, kann die populistischen Töne besser schwingen, was die Linksopposition auf ihrer achtjährigen Regierungszeit nicht so gut machen kann.
Genüsslich legt die Regierung Orbán den Finger in die Wunde: Korruptionsfälle unter der sozialistischen Vorgänger-Regierung sind Wahlkampfmunition. Die Regierungspartei Fidesz plakatiert die Konterfeis der führenden Köpfe der Gegner mit dem Schriftzug: "Sie verdienen keine zweite Chance". Linken-Kandidat Bajnai sagt:
"Es ist seit mindestens zwölf Jahren die Strategie des Fidesz, die ungarische Gesellschaft zu spalten. Durch ständige Aufrufe zum Kampf schafft sie sich eine Wählerbasis. Darum geht es bei dem dauernden Streit mit Brüssel. Aber darum geht es auch bei der Hasskampagne des Fidesz gegen den politischen Gegner."
Der Politologe Zoltán Kisszelly glaubt: Wenn Orbán nur eine absolute Mehrheit erringt, wird er künftig auf die Opposition zugehen müssen. Und im Streit mit Brüssel? Vor Diplomaten hat Orbán kürzlich gesagt: Der Waffengang mit Brüssel – so seine Wortwahl - komme jetzt zu einem Ende. Der Publizist György Odze glaubt.
"Vieles wird sich nach den Wahlen bereinigen. Die kleinen Parteien werden verschwinden. Es wird einen stabilen Fidesz-Wahlsieg geben. Die Stimmung im Land wird sich beruhigen – und vieles wird auch mit Europa in Ordnung kommen."