Sandra Pfister: Jetzt mit dem bildungspolitischen Sprecher der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag mit Özcan Mutlu. Guten Tag, Herr Mutlu!
Özcan Mutlu: Guten Tag!
Pfister: Vorgestern war die AfD dran, und da hat an dieser Stelle der AfD-Politiker Markus Frohnmaier gesagt, er wolle das Rad gern zurückdrehen:
"Wir machen eben nicht bei jedem linken Bildungsexperiment mit, also nach Gehör schreiben lernen oder auch Schule zum antiautoritären Raum umfunktionieren – für uns gilt nach wie vor der Grundsatz "Never change a running system"."
Markus Frohnmaier: Wir machen eben nicht bei jedem linken Bildungsexperiment mit, also nach Gehör schreiben lernen oder auch Schule zum antiautoritären Raum umfunktionieren …
Pfister: Linke Bildungsexperimente zurückdrehen, das würden aus dem Bauch heraus auch einige Lehrer und Eltern unterschreiben, die im privaten Gespräch oft sagen, die Schulen sind seit Jahren mit einer Reform nach der anderen überzogen worden, jetzt ist aber auch mal gut.
Mutlu: Da geht es nicht darum, mit irgendwelchen linken Experimenten irgendwas zurückzudrehen, sondern Fakt ist, unser Bildungssystem ist ungerecht, das wird uns alle Jahre wieder mit nationalen wie internationalen Studien immer wieder belegt, und wir müssen endlich mal aufwachen.
Pfister: Herr Mutlu, seit Jahren schon machen immer mehr Jugendliche Abitur, das Gymnasium gilt ja so als neue Gesamtschule. In Ihrem Wahlprogramm steht, das reicht Ihnen nicht. Kinder aus Arbeiterfamilien haben es immer noch zu schwer. Wenn jetzt schon die Hälfte eines Jahrgangs ungefähr Abitur macht, wie weit wollen Sie das Gymnasium und die Hochschulen noch öffnen.
"Mehr Schüler an Gymnasien der Maßstab?"
Mutlu: Das ist natürlich erfreulich, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler es schaffen, auf ein Gymnasium zu kommen. Aber ist das denn der Maßstab? Es kann doch nicht sein, dass Arbeiterkinder in unserem Land, und dass Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder mit Behinderungen regelmäßig Verlierer dieses Systems sind.
Pfister: Da würde Ihnen an dieser Stelle, würden Ihnen die CDU, würden Ihnen Konservative entgegenhalten, ach, Sie wollen ja nur die Einheitsschule. Ist natürlich ein Kampfbegriff – wie verteidigen Sie sich gegen die Unterstellung, all die Gemeinschafts-, die Stadtteilschulen und all die erweiterten Realschulen und so weiter zielten am Ende doch nur darauf ab, eine Einheitsschule zu schaffen?
Mutlu: Die, die das sagen, haben unser Programm nicht gelesen. Da werden Sie nirgendwo einen Begriff Einheitsschule finden. Wir sagen "Gute Bildung für alle" – inklusiv soll sie sein und ganztägig sein. Und auf der anderen Seite ist es mir wirklich auch egal, was da auf dem Etikett steht an der Schule. Das kann das Gymnasium sein, das kann die Realschule sein, das kann auch die Gesamtschule sein. Das heißt, wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, sie fördern, sie weiterbilden.
Pfister: Die Lehrer klagen, Schule hat sich sehr verändert. Viele Eltern laden die komplette Erziehungskompetenz in der Schule ab. Andere, die Gegenbewegung wird immer anspruchsvoller, mischen sich immer mehr ein. Das Klima wird rauer bis hin zu körperlicher Gewalt. Hören wir mal kurz rein, was unsere Kollegin Stefanie Kowalewski da zusammengetragen hat:
Gewalt gegen Lehrer gehört im Job dazu
Sie werden beleidigt, getreten und geschlagen - und dennoch ist Gewalt gegen Lehrer immer noch nahezu ein Tabuthema. Denn besonderen Schutz, wie ihn andere Staatsbedienstete genießen, haben Lehrer nicht. Behörden und Gesetzgeber verharmlosen und schauen weg, Lehrer schämen sich und schweigen.
Sie werden beleidigt, getreten und geschlagen - und dennoch ist Gewalt gegen Lehrer immer noch nahezu ein Tabuthema. Denn besonderen Schutz, wie ihn andere Staatsbedienstete genießen, haben Lehrer nicht. Behörden und Gesetzgeber verharmlosen und schauen weg, Lehrer schämen sich und schweigen.
Ja, Herr Mutlu, wir hören es immer wieder, da liegt also offenbar was im Argen. Jetzt sind die Grünen sicher die letzten, die zurückwollen zu starker Lehrerautorität oder zu mehr Bestrafung an den Schulen, aber was wollen Sie dagegen tun, gegen so ein Schulklima, in dem so was offenbar nicht selten vorkommt?
"Schulsystem kaputt gespart"
Mutlu: Da ist massiv was schief gelaufen in der Schule. Da sind Lehrerinnen und Lehrer allein gelassen worden. Da ist irgendwas schief gelaufen in der Erziehung der Kinder, im Elternhaus wie aber auch in der Schule. Warum? Weil eben in den letzten Jahren unser Schulsystem fast überall in der Republik kaputt gespart worden ist. Lehrerinnenstellen wurden gekürzt, oder die Lehrerinnen und Lehrer wurden derart bezahlt, dass nicht jeder freiwillig Lehrer werden will. Und dann kriegst du eben eine bestimmte Gattung von Lehrern, die eben Probleme haben, mit Kindern umzugehen. Wir müssen die Institution Schule stärken. Wir müssen die Institution Schule materiell und personell so gut stärken, auch, dass der Raum, die Schule, auch ein Raum ist, wo man gern hingeht.
Pfister: Nun brauchen Sie dazu Geld. Sie brauchen auf jeden Fall Geld, und das sagen die Grünen ja auch ganz klar, sie wollen Geld ausgeben. Sie wollen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule, bis zum Ende der Grundschule durchsetzen. Sie wollen Schulen in benachbarten Stadtvierteln oder Regionen mehr Geld geben, damit die mehr pädagogisches Personal erhalten. Wo kommt das Geld her?
Mutlu: Wir Grünen sagen immer, es kann nicht sein, dass ein reiches Land wie Deutschland – wir sind das fünft- oder sechstreichste Land der Welt – uns mit maroden Schulen, mit unterbesetzten Schulen abmühen müssen. Wir sagen ganz einfach, wir nehmen zehn Milliarden Euro in die Hand, um 10.000 Schulen fit für die Zukunft zu machen. Wir wollen Schulen in benachteiligten Gebieten gezielter fördern, und nicht nur nach Gießkanne.
Pfister: Sie haben ja gerade den Lehrermangel schon angesprochen. Warum wollen Sie Lehrer an Haupt- und Realschulen oder Gemeinschaftsschulen, die in problematische Viertel gehen, nicht ohnehin besser bezahlen, damit diese schweren Lehrerjobs attraktiver werden?
Mutlu: Man kann sicherlich den Lehrer, der in einer Schule in benachteiligten Gebieten unterrichtet, anders bezahlen. Da will ich mich aber gar nicht einmischen. Das ist eindeutig eine Länderkompetenz. In die Hoheit der Länder sollte man an dieser Stelle nicht eingreifen.
Pfister: Sie haben gerade gesagt, man sollte da nicht in die Länderkompetenz eingreifen. Darüber sollten wir gleich noch mehr reden. Soweit erstmal Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen. Gleich mehr von ihm, und dann wollen wir wissen, was die Grünen für Studierende und Azubis tun wollen.
Bildung ist in diesem Bundestagswahlkampf unterbelichtet. "Campus & Karriere" will ausleuchten, was die Parteien wirklich wollen. Heute unterm Scheinwerfer: Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Herr Mutlu, ein großes Aufregerthema ist seit Monaten, dass ausgerechnet Baden-Württemberg unter einem grünen Ministerpräsidenten Studiengebühren einführt für Ausländer. Dazu haben wir auch eine Frage an Sie:
Studiengebühren für Ausländer?
"Mein Name ist Janek Hess, ich bin Vorstand im Freien Zusammenschluss von Studentinnenschaften, dem Dachverband der Studierenden. In Baden-Württemberg hat die dortige Landesregierung sie beschlossen, in NRW plant die schwarz-gelbe Landesregierung die Einführung von rassistischen Studiengebühren für Studentinnen aus dem Nicht-EU-EWR-Raum. Wie steht Ihre Partei zu diesen Studiengebühren und zu Studiengebühren im Allgemeinen."
Mutlu: Für uns Grüne ist klar, wir wollen keine Studiengebühren, wir wollen auch keine Studiengebühren für ausländische Studenten. Das ist der falsche Weg, und Herr Kretschmann, mit einer CDU-Landesregierung ist da einfach mit seinem Koalitionspartner diesen Weg gegangen. Wir haben das kritisiert, und wir finden es nach wie vor falsch.
Pfister: Darf ich Sie auf noch einen Widerspruch hinweisen: Die Bundes-SPD schon länger, und jetzt auch viele von der SPD mit regierte Bundesländer – wir haben das gestern gehört – wollen die Kleinstaaterei in der Bildung durchbrechen, das Kooperationsverbot durchbrechen, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern kippen, dann könnten sich Bund und Länder wieder gemeinsam um Bildung kümmern, ohne sich ständig total zu verrenken. Ausgerechnet Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der hält aber an diesem Kooperationsverbot fest. Steht auch bei den Grünen Machtpolitik vor bildungspolitischer Vernunft?
Mutlu: Herr Kretschmann ist ein Ministerpräsident, der glaubt, dass, wenn er am Kooperationsverbot festhält, was Gutes für sein Bundesland tut. Wir haben aber eindeutige, klare Beschlüsse als Partei. Wir wollen das Kooperationsverbot abschaffen, weil wir aus der Warte des gesamten Landes die Problematik angehen wollen. Und das sollte Herr Kretschmann, den ich im Übrigen sehr schätze, an der Stelle auch endlich begreifen, an einem Stichwort kann man es sehr gut darstellen: 2014 die ICILS-Studie gesehen, dass es quasi, die hat gemessen, wie die PISA-Studie die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler der digitalen Bildung bewertet. Wir haben unterdurchschnittlich abgeschnitten. Wir sind ein Land, was darauf nicht verzichten kann, dass die Schulen nicht mit der Digitalisierung mithalten können. Wir müssen deshalb die Lehrerinnenbildung reformieren, wir müssen die Schulen entsprechend ausstatten, hardwaremäßig wie Soft Skills müssen da hin. Und es reicht eben nicht aus, dass manche betuchten Bundesländer sich auf dem Stuhl zurücklehnen und sagen, was im Saarland, in Bremen oder auch Berlin, Hamburg, NRW passiert, interessiert mich nicht.
Pfister: Ich will noch kurz aufs BAföG zu sprechen kommen, Herr Mutlu, weil das bei Ihnen dick im Programm steht. Dazu haben wir auch noch eine Frage:
"Frei- und Förderbeträge sofort um drei Prozent erhöhen"
"Mein Name ist Matthias Anbuhl vom DGB-Bundesvorstand, ich leite dort die Abteilung Bildung. Immer weniger Menschen bekommen BAföG. Das liegt auch daran, dass fast zwei Bachelor-Generationen in den vergangenen Jahren ohne BAföG-Erhöhung geblieben sind. Die Anhebung 2016 hat die vielen Nullrunden nicht ausgeglichen. Deshalb ist meine Frage an die Grünen: Was planen Sie beim BAföG in der kommenden Wahlperiode?
Mutlu: Wir haben die Große Koalition in dieser Frage die letzten drei Jahre und auch davor immer wieder gelöchert. Diese Nullrunden haben dazu geführt, dass der BAföG 2017 weniger wert ist als 2010. Das war ein großer Mist von der Großen Koalition. Falls wir nach der Wahl in die Bundesregierung kommen, ganz klar und deutlich, und das ist auch finanziell ausgerechnet, Frei- und Förderbeträge sofort um drei Prozent erhöhen, um wenigstens etwas abzufedern, was die Nullrunden an Schaden angerichtet haben. Und wir wollen in der kommenden Legislaturperiode auch eine Wohnungspauschale, die auch regional angepasst werden muss, damit eben auch dort an der Stelle das BAföG nicht insgesamt für die Miete drauf geht.
Pfister: Irgendwelche Pläne, Herr Mutlu, um wieder wegzukommen von Bachelor und Master?
Mutlu: Das steht nicht auf unserer Agenda. Diese Reform läuft jetzt langsam an, und man muss abwarten und nicht wie bei G8/G7 wieder gleich eine Debatte um das Zurückdrehen des Rades anfangen.
Pfister: Stichwort Ausbildungsgarantie. Die steht bei Ihnen auch im Programm. Sie fordern die. Wie soll die denn aussehen? Denn viele Betriebe sagen ja heute, wir würden ja sofort jemand nehmen, aber es kommen bei uns nur Bewerber an, die entweder die Grundrechenarten nicht beherrschen oder unpünktlich oder undiszipliniert sind.
Mutlu: Ja, das ist aber ein Problem, das viel früher ansetzt. Deshalb wollen wir ja eben die Qualität der Bildung insgesamt verbessern. Da müssen wir mehr Personal und mehr Mittel investieren, damit am Ende der neunten oder zehnten Klasse die Kinder eben nicht mit diesen fehlenden, ich sag mal in Anführungsstrichen "Tugenden" bei den Ausbildungsbetrieben ankommen.
Pfister: Aber wie soll die Ausbildungsgarantie aussehen so lange?
Mutlu: Die Ausbildungsgarantie – uns wird in der Regel vorgehalten, die kostet ja viel Geld. Wir sagen, die Ausbildungsgarantie kostet nicht mehr Geld. Es ist eine Frage der Umschichtung. Wir wollen mit Jugendberufsagenturen und mehr assistierter Ausbildung mehr Jugendliche erreichen, und damit diese auch rauskommen aus diesen Schleifen, wollen wir natürlich auch das Ganze begleiten mit Schulsozialarbeit, beim Übergang Schule und Beruf, sogar Schulpsychologen einsetzen et cetera.
Pfister: "Campus & Karriere" fragt in diesen Tagen, was die Parteien in der Bildungspolitik wollen, und heute haben Wir Özcan Mutlu gefragt, den bildungspolitischen Sprecher von Bündnis90/Die Grünen. Danke!
Mutlu: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.