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Partituren der Beunruhigung

Der Name Franz Kafka ist zu einem Synonym für die Literatur, ja für die gesamte Wirklichkeitserfahrung der Moderne geworden. Wie kein Zweiter zeigt Kafka den Einzelnen in seinem bisweilen absurden Kampf gegen die Vereinnahmung durch übermächtige Systeme. Geboren wurde er vor 125 Jahren in Prag.

Von Jürgen Wertheimer |
    " : Jemand musste mich verleumdet haben, denn ohne dass ich etwas Böses getan hätte, wurde ich eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, meiner Zimmervermieterin, die mir jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. "

    Der Kafka-Ton, unverwechselbar, unnachahmlich. Ein Ton, der jeden unmittelbar anspricht, so stark wie eben Gustav Gründgens, der nicht zögerte, von "Ich" statt wie in Kafkas Roman "Der Prozess" von Joseph K. zu sprechen. Vielleicht hatte er gehofft, durch diese Identifikation mit der Hauptfigur deren Verstrickungen in das bedrohlich undurchschaubare Rechtssystem dieses "Prozesses" den Hörern noch plastischer vermitteln zu können. Doch Kafkas unvergleichliche Texte verweigern sich der intimen Annäherung. Allen Werken des am 3. Juli 1883 in Prag geborenen Autors - das gilt für die Romane "Amerika", "Der Prozess" und "Das Schloss" ebenso wie für alle seine Erzählungen und den "Brief an den Vater" - ist eine fast magische Sogwirkung eigen, der sich kaum jemand entziehen kann. Und doch halten sie den Leser auf Distanz. Je weiter man liest, umso weniger "versteht" man, was da vorgeht. Nie sind die Reaktionen oder das Verhalten z.B. der Gerichtsdiener genauso, wie man das erwarten würde - aber, und das ist das Paradoxe: sie widersprechen andererseits strukturell durchaus nicht den Erfahrungen, die man so macht mit Vorschriften, Ämtern, Verwaltungen, Behörden.

    Deshalb versuchen die Leser, Kafkas Blick auf das Ungewohnte im nur scheinbar harmlos Normalen auszuweichen und stattdessen das Normale im Beängstigenden aufzuspüren. Seine Texte als Partituren der Beunruhigung und Irritation zu verstehen und an sich heranzulassen, das scheint bis heute ein großes Wagnis zu sein. "Die Verwandlung" etwa, die vom ersten Satz an das Ungeheuerlichste im lakonischen Ton des Selbstverständlichen berichtet:

    " Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. "

    Ganz anders, doch gleichermaßen verstörend ist "Der Prozess", in dem das Paradoxon einer Bestrafung ohne Verbrechen so subtil und plausibel ins Bewusstsein einsickert, dass man den Protagonisten amüsiert und erschreckt auf der Suche nach seiner "Schuld" begleitet.

    Oder, nicht weniger frappierend, wenn im "Bericht an eine Akademie" akademischer Nonsensstaub aus Sprache und Prätention den Leser förmlich einhüllt:

    " Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen. In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung nicht nachkommen. "

    All dies geht ganz ohne "Kafkas magisches Prag", das immer wieder beschworen wird. Dort war er selbst eher ein Fremdling - als Angehöriger einer deutschsprachigen Minorität, im Hinterkopf ein wenig erinnertes Judentum. Und es war diese Minoritätenposition, die er als schriftstellerische Herausforderung begriff. Kafka brauchte, um schreiben zu können, immer einen Gegner. Und er fand ihn, sei es in einer Person oder einer Struktur, die sich wie ein Schatten auf ihn legte. Denn Kafka ist kein Schreiber, sondern ein "Gegen-etwas-an-Schreiber". Im Schreiben entstehen seine Gegner, die Popanze seiner Feindbilder, die er schreibend schafft, aufbläht und zerplatzen lässt.

    Die Methode Kafka: Die Komik, das schreiend Komische dieser Provokation am Abgrund, das ist, wie wenn Charlie Chaplin seine Helden selbstmörderisch-traumwandlerisch über schmale Grate balancieren lässt - das ist Kafka pur. Und diese grause Komik findet dort statt, wo Kafka wirklich lebte - nicht in Prag, sondern in seinem Text.

    Am 3. Juni 1924 starb Kafka, gerade mal 41-jährig. Von seinem späteren Weltruhm konnte er nichts wissen. Hätte sein Freund Max Brod den Auftrag, sein Werk zu verbrennen, erfüllt, hätte Kafka nie existiert.