Sophie Stigler: Wie könnte eine Therapie auf Basis von Antikörpern aussehen?
Reuning: Die einfachste Form solch einer Behandlung ist ja bereits erprobt worden, und zwar mit dem Blutserum von Menschen, die an COVID-19 erkrankt waren und die Krankheit überstanden haben. Deren Körper hat im Lauf der Infektion Antikörper gebildet. Die docken an bestimmten Stellen, an der Oberfläche des Virus an, die binden daran. Dazu gibt es Studien aus China, die zeigen, dass diese Behandlung die Symptome mildern kann und die Dauer der Krankheit verkürzen.
Qualität des gespendeten Plasmas schwankt
Stigler: Das hört sich erst mal nach einer guten Möglichkeit an. Aber für die ist man auch drauf angewiesen, dass man genügend Spender hat, also Menschen, die Antikörper im Blut haben…
Reuning: Genau. Und die Qualität des gespendeten Plasmas schwankt von Mensch zu Mensch. Das liegt daran, dass es eine Vielzahl von Antikörpern enthält. Diejenigen, die gegen das Coronavirus gerichtet sind, binden zwar alle an dem Erreger und markieren ihn so für das Immunsystem. Aber es gibt eine spezielle Art von Antikörpern, die nicht nur binden, sondern auch das Virus ausschalten. Die verhindern, dass es sich im Körper vermehren kann. Das sind die neutralisierenden Antikörper. Die sind hochwirksam, die möchte man haben. Aber nicht alle Patienten, die genesen sind, haben ausreichende Mengen davon im Blut gebildet.
Stigler: Das heißt, das ist alles recht umständlich. Kann man das besser machen?
Reuning: Statt den Patienten eine verdünnte, wilde Mischung von Antikörpern zu injizieren, könnte man mit maßgeschneiderten, hochspezifischen Antikörpern arbeiten, die im Labor oder im Technikum hergestellt werden, mithilfe von Biotechnologie, also Zellkulturen. Die dann auch in einer hohen Dosis verabreicht werden können. Monoklonale neutralisierende Antikörper nennen die sich. Und an sich ist das nicht neu. Das Prinzip, wie man diese Antikörper herstellt, ist seit Mitte der 1970er-Jahre bekannt. 1984 wurde dafür der Medizin-Nobelpreis verliehen. Und heutzutage gibt es eine breite Palette von monoklonalen Antikörpern für verschiedene Krankheiten. Aber eben noch nicht gegen COVID-19.
Spike-Proteine stechen hervor
Stigler: Und was bräuchte man, um solche Antikörper herzustellen?
Reuning: Man schaut sich genau an, welche Antikörper am besten das Coronavirus neutralisieren. Wo es Stellen an der Oberfläche gibt, an denen die Antikörper andocken können, um die Funktion des Virus zu blockieren. Beim Coronavirus sticht ja förmlich eine Eiweiß-Struktur hervor, nämlich die Spike-Proteine. Das sind diese kleinen Zacken auf der Oberfläche. Mithilfe dieser Zacken entert das Virus die Körperzellen. Die sind sozusagen seine schärfste Waffe. Aber dadurch eben auch die Achillesferse des Virus. Denn wenn man einen Antikörper findet, der genau dort andockt und diese Waffe blockiert, dann hat das Virus keine Möglichkeit mehr, in die Zelle einzudringen und sich zu vermehren. Und deshalb sind im Moment viele Pharma-Firmen und auch akademische Forschungsgruppen auf der Suche nach solchen neutralisierenden Antikörpern.
Gedächtnis des Immunsystems spielt wichtige Rolle
Stigler: Welche Strategien verfolgen sie dabei?
Reuning: Eine wichtige Rolle spielt bei vielen Ansätzen das Gedächtnis des Immunsystems – in Form der B-Gedächtniszellen. Das sind ganz bestimmte weiße Blutkörperchen, die sich ein Merkmal eines Erregers "merken" und dann ganz schnell neue Antikörper ausspucken können. Ich habe mit Ulrich Kalinke gesprochen vom Forschungszentrum Twincore in Hannover. Der sucht im Blut von genesenen Patienten nach diesen B-Zellen, die neutralisierende Antikörper herstellen. Und er schaut sich dann in den Zellen den genetischen Bauplan dafür an und kann den nutzen, um maßgeschneiderte Antikörper zu erzeugen. Andere Gruppen gehen die eher klassische Route und gewinnen die B-Zellen aus genveränderten, immunisierten Mäusen. Und ich habe auch geredet mit Michael Hust von der TU Braunschweig. Der setzt auf große Antikörper-Bibliotheken mit zehn Milliarden menschlichen Antikörper-Genen. Die durchmustert er, um einen passenden Bauplan zu finden. Also: Es gibt verschiedene Ansätze. Welcher erfolgreich sein wird, steht noch nicht fest. In ein Medikament würde man wahrscheinlich sogar eine Kombination aus zwei oder drei Antikörpern packen.
Stigler: Kann man sagen, wie lange es wahrscheinlich dauert, bis so ein Medikament zur Verfügung steht?
Reuning: Es gibt erste Kandidaten, die müssen jetzt Studien an Zellkulturen und Tierversuche durchlaufen. Das dürfte ein halbes Jahr dauern. Dann könnten klinische Studien am Menschen beginnen. Die Experten, mit denen ich gesprochen habe, erwarten, dass die dann zügiger verlaufen als Studien für eine prophylaktische Schutzimpfung.
Stigler: Wenn man dann Antikörper herstellen kann, die SARS-CoV-2 zuverlässig ausschalten, wie werden die dann verabreicht? Ist das wie eine Impfung, die man kriegt, bevor man krank wird?
Reuning: Es sind mehrere Varianten möglich: Man könnte diese Antikörper COVID-19-Patienten geben, um ihr Immunsystem zu unterstützen – eher zu Beginn der Infektion, dann hilft es am besten, wie die Erfahrung mit Ebola gezeigt hat. Es wird auch diskutiert, ob man den Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, damit schützen kann. Dann müsste solch eine passive Impfung aber regelmäßig aufgefrischt werden. Denn mit der Zeit verschwinden die Antikörper wieder aus dem Körper. Und leider wird ein Medikament auf dieser Basis nicht gerade sehr kostengünstig sein. Das müsste man also abwägen.