Weltweit gibt es immer noch zu wenig Impfstoff. Besonders groß ist der Mangel in Entwicklungs- und Schwellenländern, weshalb auch Indien und Südafrika im Oktober einen Antrag für eine befristete Ausnahmeregelung vom sogenannten Trips-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) bei der Welthandelsorganisation WTO eingereicht haben, um unter anderem eine Freigabe der Patente der Corona-Impfstoffe zu erreichen.
Die Industrieländer waren bislang zurückhaltend, doch die USA haben inzwischen ihre Haltung geändert und wollen jetzt eine Freigabe der Patente der Corona-Impfstoffe. Die Bundesregierung äußerte sich kritisch.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich am Samstag (8.5.21) klar gegen eine Freigabe von Impfstoff-Patenten aus. Die Qualität der Produktion müsse gesichert werden. Das gehe am besten, wenn Firmen ihre Produktion ausbauten, Lizenzen vergäben und auf die Qualität achteten. Das sei der sicherste Weg zu "Impfstoff für alle", betonte Merkel.
Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), erklärte im Dlf, die bereits geplante Produktion reiche aus, um die ganze Weltbevölkerung zu impfen.
Das Thema wurde auch auf dem EU-Gipfel beraten. Laut den Daten von Vaccines Europe, dem Verband führender Impfstoff-Unternehmen, vom März 2020 - vor Beginn der Pandemie - ist Europa weltweit führend bei der Herstellung von Impfstoffen. Ein großer Anteil der Produktions-, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ist hier angesiedelt. 76 Prozent der weltweiten Produktion finden in Europa statt, es folgen Nordamerika mit 13, Asien mit acht Prozent.
Für eine Aufhebung des Patentrechts bräuchte es in der WTO im Regelfall die Zustimmung aller 164 Mitgliedsstaaten. Bisher würden rund 100 Staaten den Vorstoß unterstützen, hieß es zuletzt.
Die EU kündigte Samstag (8.5.21) an, bis zu 1,8 Milliarden weitere Biontech-Impfdosen zu kaufen, um sich für Auffrischungsimpfungen und gegen mögliche künftige Mutationen gegen das Virus zu rüsten. 900 Millionen Dosen sollen fest bestellt werden, weitere 900 Millionen Dosen seien eine Option, twitterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Der SPD-Europapolitiker Udo Bullmann ist zwar gegen eine grundlegende Aushebelung des Patentschutzes, befürwortet aber zur Bekämpfung der Pandemie die Freigabe von Patenten, um alle Kapazitäten zu nutzen. Er appellierte im Dlf an alle Länder, die Impfstoffe produzieren, kurzfristig Exporte zuzulassen.
Für die Corona-Pandemie würde das Aussetzen der Impfstoff-Patente dieses Jahr kaum noch Wirkung entfalten, sagt Dlf-Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth. Für zukünftige Pandemien könne das Umdenken aber hilfreich sein. So wäre es auf lange Sicht ein großer Schritt, wenn Afrika zum Beispiel nicht 99 Prozent der Impfstoffe importieren müsste. Aber in der aktuellen Situation sei unklar, ob mehr Fabriken wirklich mehr Impfstoff produzierten. Gerade die mRNA-Impfstoffe etwa von Biontech benötigen ganz spezielles Ausgangsmaterial. Die forschenden Arzneimittelhersteller fordern die USA deshalb auf, weniger über Patente zu debattieren und stattdessen Exportbeschränkungen für Rohstoffe aufzuheben. Aber erst für nächstes Jahr und für die nächste Pandemie könnte der Sinneswandel zunächst der USA und dann der EU wirklich entscheidend werden.
Der Impfstoffhersteller Biontech hält eine Patentfreigabe nicht für zielführend, will armen Ländern aber im Preis entgegenkommen. Man sei überzeugt, dass der kontinuierliche Ausbau der Produktionskapazitäten dazu beitragen werde, die Pandemie zu beenden, erklärte ein Unternehmenssprecher in Mainz. Er warb für eine stärkere Zusammenarbeit von Herstellern, Regierungen und Organisationen. Keinesfalls seien Patente der begrenzende Faktor für die Produktion oder die Versorgung mit Impfstoff. Zugleich wies der Sprecher die Meldung zurück, Biontech wolle vorübergehend auf den Patenschutz verzichten - dies sei unzutreffend.
Biontech, der Entwickler des weltweit gefragtesten Impfstoffs, habe schon im September im vorigen Jahr die Anlagen in Marburg gekauft, in denen nach acht Monaten jetzt produziert wird, sagte Steutel. Das Personal war schon da, aber musste auch geschult werden. Die sterilen Räume waren da, aber nicht alle Geräte. Auch aus Sicht des Rechtswissenschaftlers Reto Hilty würde die Aussetzung der Patente im Kampf um mehr Impfstoff ohnehin wenig bringen. Die meisten Produktionsstätten, die in der Lage seien, Impfstoffe herzustellen, produzierten bereits. Die Produktion sei weltweit zudem nah an der Grenze dessen, was durch Verfügbarkeiten von Vorprodukten wie zum Beispiel Impfstoffgläschen überhaupt möglich sei, argumentierte Hilty im Deutschlandfunk. Ein Patent, oder hier eher eine Sammlung von Dutzenden Patenten enthalte sozusagen nur Rezepte und Bauanleitungen. Entscheidend ist aber das Know How, die konkreten Erfahrungen, die die Firmen und ihre Mitarbeiter in der Praxis gewonnen haben.
In Afrika kennt Ärzte Ohne Grenzen in Tunesien, Marokko, Südafrika und im Sudan, Pharmaunternehmen mit Reinräumen, die sich auch für die Produktion von mRNA Impfstoffen eignen könnten, erklärte Wildermuth. Auch Unternehmen in Bangladesch oder Kanada sind interessiert. Der Aufbau der Produktion aber brauche Zeit.
WHO will Technologie-Transfer-Knotenpunkte
Auch der ehemalige Leiter des WHO-Influenzaprogramms, Klaus Stöhr, spricht sich dafür aus, in Entwicklungsländern als ersten Schritt die nötige Infrastruktur für Impfstoffproduktionen zu schaffen. "Jetzt zu sagen ‚Wir geben die Patente frei’, hilft ja nicht weiter. Was man braucht, ist ein Technologietransfer. Das würde mittel- und langfristig schon einen Unterschied machen", sagte der Epidemiologe und Virologe im Deutschlandfunk-Interview.
Bei dem Vorstoß der WHO, Patente auf Covid-Impfstoffe zumindest auszusetzen, handelt es sich laut Stöhr um eine politische Forderung. Die WHO habe mehr als 190 Mitgliedsländer, und Länder wie Brasilien, die Philippinen oder Indonesien forderten schon sehr lange die Aufweichung des Schutzes des geistigen Eigentums. Stöhr: "Das könnte auch langfristig schon einen Unterschied machen, muss natürlich aber auch mit einer entsprechenden Gesundheitsinfrastruktur zusammenhängen, langfristigen Bedarfsplänen und einer entsprechenden Entwicklung des Gesundheitswesens insgesamt."
Stöhr betonte zudem, dass die "politische Stoßrichtung" der WHO verstärkt dahin ziele, dass in Entwicklungsländern zukünftig vor allem mehr chemische Arzneimittel produziert würden. "Die kann man relativ leicht kopieren, wenn man das Patent aufbricht." Bei biolgoischen Produkten wie Impfstoffen sei das anders, weil eine hochkomplizierte Technologie erforderlich sei.
Schon vor einem Jahr hatte die WHO versucht, Technologie um Corona zu bündeln und zur Verfügung zu stellen. Das ist gescheitert, die Unternehmen haben nicht mitgemacht. In diesem zweiten Anlauf geht es um eine Plattform, die Technologietransfer nicht nur zwischen einzelnen Firmen, sondern breit für viele Interessierte ermöglicht. In verschiedenen Weltregionen sollen Modellfabriken entstehen, wo dann das konkrete Know How erlernt werden kann. Das geht nicht von heute auf morgen, aber perspektivisch ist das ein wichtiger Schritt. Entscheidend ist aber die freiwillige Beteiligung der Unternehmen mit Patenten und Know How.
Theoretisch sei es mit den bestehenden Kapazitäten möglich, nächstes Jahr die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, sagte Wissenschaftsjournalist Wildermuth. Aber während viele Länder noch gar nicht richtig losgelegt haben, hat die EU gerade bei Biontech Impfstoff für eine dritte Dosis bestellt. Es wird also eine Konkurrenz zwischen der Erstimpfung für alle und künftigen Auffrischungsimpfungen geben. Von daher sei es auf längere Sicht wirklich entscheidend, die Impfstoffherstellung auf viele Standorte zu verteilen, so Wildermuth.
Da könnte der neue Schwung in der politischen Debatte wirklich etwas anschieben, weit über die Patente hinaus. Impfstoffe galten lange als wenig attraktives Geschäft. Es gibt die Gefahr, dass Zwangslizenzen die Pharmaindustrie eher abschrecken. Aber vielleicht muss man hier über andere Geschäftsmodelle nachdenken, bei denen die öffentliche Hand von vorneherein stärker unterstützt und dafür die Impfstoffe selbst breit verfügbar werden und das nicht nur bei Corona, sondern bei vielen Infektionskrankheiten.
Wichtig sei jetzt, so Han Steutel, dass die Pharmaunternehmen in Ruhe weiterarbeiten könnten und die Staaten gemeinsam urteilen, wie die Impfstoffe, die zur Verfügung kommen, am besten verteilt werden könnten. Gerade in Amerika ist es in den letzten Tagen und Monaten sehr gut vorangekommen. Dabei müsse man aber bedenken, dass gerade während dieser Periode Amerika ein Exportverbot sowohl für Impfstoffe, aber auch für Bioreaktoren, Einwegbeutel, Schläuche hatte, und das habe gerade die Produktion auch in Deutschland beeinträchtigt.
(Quellen: Wildermuth, Dlf-Interviews, gü, ik)