Archiv

Patrick Bauer
"Der 4. November 1989 und seine Geschichte"

Vor 30 Jahren, am 4. November 1989, fand auf dem Ostberliner Alexanderplatz die größte genehmigte Demonstration der DDR-Geschichte statt. Der Journalist Patrick Bauer erinnert in seinem neuen Buch, pünktlich zum Jubiläum, an diese Kundgebung für Demokratie und Meinungsfreiheit.

Von Ralph Gerstenberg |
Kundgebung auf dem Alexanderplatz
4. November 1989: Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz (Rowohlt Verlag / picture alliance / akg)
Stefan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen [...] Welche Wandlung."
Waren es 500.000 Menschen, wie es die Abendnachrichten verkündeten, eine Million, wie mancherorts gar gemutmaßt wurde, oder nur 200.000, wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk behauptet? Die tatsächliche Zahl der Menschen, die sich an diesem neblig trüben Novembertag 1989 auf dem Alexanderplatz versammelten, um für Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit zu demonstrieren, lässt sich im Nachhinein wohl kaum noch klären, schreibt der Journalist Patrick Bauer im Prolog seines Buches. Darauf komme es jedoch nicht an, denn fest stehe zweifelsfrei:
"Am 4. November 1989 sind viele auf dem Alexanderplatz, viel mehr als erwartet, und die Wirkung, die diese Veranstaltung erzielt, ist groß, viel größer als erhofft. Die Massen unter dem Fernsehturm sind atemberaubend, für die Organisatoren der Demonstration ebenso wie für die Staatsmacht. Der Witz und die Frechheit auf den unzähligen Transparenten waren an diesem symbolträchtigen Ort unvorstellbar gewesen – bis sie einfach in die Höhe gereckt und von allen gelesen werden konnten."
"Die Partei hat immer rechter, uns wird immer schlechter", "Glasnost statt Phrasnost!", stand da auf bemalten Bettlaken und Plakaten – regierungskritische Slogans und Botschaften, die vom DDR-Fernsehen unkommentiert verbreitet wurden. Kurzfristig und ohne Absprache mit den politisch Verantwortlichen hatte man eine Live-Übertragung der Massenveranstaltung ins bislang stets staatskonforme TV-Programm gehievt. Die sichtbare Kritik am DDR-Staat in dessen eigenem Leitmedium sei vielleicht die größte Sensation dieses Tages gewesen, findet Patrick Bauer.
Die Vision vom besseren Land
"So wirken die Bilder vom Alexanderplatz, so hallen die Reden von der improvisierten Bühne vor dem Haus des Reisens in das ganze Land und auch in das benachbarte, und in die ganze Welt. Prominente, in manchen Fällen lange von der SED zensierte Redner wie Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Ulrich Mühe, Christoph Hein oder Steffie Spira können eine demokratische Gesellschaft fordern oder die Aufarbeitung von geschehenem Unrecht."
"Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde!"
"Der Traum ist aus, aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird" betitelt Patrick Bauer sein Buch über jenen denkwürdigen Novembertag mit einem Zitat aus dem Ton-Steine-Scherben-Song "Der Traum ist aus", den Rio Reiser ein Jahr zuvor in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle sang, wobei das Publikum besonders an einer Stelle lautstark einstimmte:
"Gibt es ein Land auf dieser Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins und da bin ich sicher:
Dieses Land ist es nicht.
Dieses Land ist es nicht.
Dieses Land ist es nicht.
Dieses Land ist es nicht."
Doch am 4. November ’89 schien es tatsächlich so, als bestünde die Chance, dass in diesem Land ein Traum Wirklichkeit werden könnte. Niemand forderte damals eine rasche Wiedervereinigung oder gar die Abschaffung des Sozialismus. Es ging um Freiheit und Demokratie.
Wie die Dinge ins Rollen kamen
Um die Stimmungslage und die politischen Umstände, die zu diesem starken Bekenntnis führten, nachzuvollziehen und abzubilden, beginnt Patrick Bauer sein Buch mit dem 6. Oktober 1989, dem Vorabend des 40. Jahrestages der Gründung der DDR, an dem Gorbi!-Gorbi!-Rufe von Blauhemden beim Fackelzug für Irritationen sorgten.
Einen Tag später, während die SED-Führung mit den Führern der Ostblockstaaten im Palast der Republik Champagner trinkt, versammeln sich zirka zwei- bis dreitausend Menschen davor. Es wird die größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953. In den Nachtstunden wird sie brutal niedergeknüppelt. Doch die Tage von Honecker sind bereits gezählt. In Leipzig kommen immer mehr Menschen zu den Montagsdemonstrationen, am 18. Oktober tritt der Partei- und Staatschef zurück.
"Honecker verabschiedet sich gleich vorzeitig, des ‘angegriffenen Gesundheitszustands‘ wegen. Er weint fast. Jetzt ist der Applaus kräftiger, einige sind den Tränen nahe, vielleicht vor Scham, den Genossen so zu demütigen, oder auch aus Scham, von so einem so lange gedemütigt worden zu sein. Vor dem Sitzungssaal hat Schabowski Journalisten für Egon Krenz aufgestellt. So macht man das doch heutzutage, offen, direkt."
Ein atmosphärisches Bild der friedlichen Revolution
Patrick Bauer, der 1989 sechs Jahre alt war, wählt für seine Schilderung der Ereignisse rund um den 4. November eine subjektive Perspektive, nimmt sich die Freiheit, seine eigene Sichtweise in das Buch einfließen zu lassen. Mit durchaus literarischen Mitteln rekonstruiert er Szenen, in denen die Redner und Initiatoren der Kundgebung vom Alexanderplatz zu Protagonisten und Kommentatoren des Zeitgeschehens werden. Das hätte arg daneben gehen können, wie so oft, wenn historisches Faktenmaterial durch fiktive Einfühlungssequenzen aufgepeppt wird. Doch Bauer geht dabei sehr dezent vor und hat gut recherchiert. So gelingt ihm ein atmosphärisch dichtes und detailreiches Bild jener aufwühlenden Wochen vor dem Mauerfall. Etwas störend wirkt es, wenn mitunter das Wissen des zurückblickenden Autors in die Schilderungen einfließt.
"Am Ende seiner Rede, aber das weiß er noch nicht, ist Lothar Bisky ein Politiker."
Die Demonstration vom 4. November steht titelgemäß im Zentrum des Buches. Kapitel, die mit "Davor" und "Danach" überschrieben sind, binden die Großdemonstration in den Gesamtkontext der Wendeereignisse ein und zeigen die Akteure von einst im Jetzt. Nicht jeder hat mit der politischen Entwicklung seither seinen Frieden gemacht. So schimpft der Liedermacher Jürgen Eger über die "Lügenpresse in diesem Blödland", und die Schauspielerin Annekathrin Bürger beklagt "eine einzige ideelle Enttäuschung seit dreißig Jahren". Doch den Tag, an dem offen von einer Erneuerung des Landes geträumt wurde und sich das Staunen darüber in den Gesichtern der Menschen abzeichnete, haben die meisten in guter Erinnerung. Patrick Bauers Buch ist eine würdige Dokumentation zum dreißigjährigen Jubiläum, auch wenn die Fotos darin blasser gedruckt sind als einst im "Neuen Deutschland".
Patrick Bauer: "Der 4. November 1989 und seine Geschichte. Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird",
Rowohlt Verlag, 365 Seiten, 20 Euro.