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Patrick Modiano: Dora Bruder

Vor neun Jahren stieß Patrick Modiano in einer alten, vom 31. Dezember 1941 stammenden Ausgabe der Zeitung "Paris-Soir" auf eine Suchanzeige, die ihn elektrisierte und für lange Zeit verfolgte: "Gesucht wird ein junges Mädchen. Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris."

Ursula März |
    Der Schriftsteller Modiano begann mit der mühseligen Arbeit, Spuren dieses unbekannten, in der Zeit der deutschen Okkupation verschwundenen Mädchens zu finden. Einige Spuren führten zunächst in seine Phantasie. Doch bevor er das geplante dokumentarische Buch über Dora Bruder verfaßte, schrieb er den Roman "Hochzeitsreise". Darin verfolgt ein Erzähler, der von Beruf Forschungsreisender ist und nun statt in die räumliche Ferne in die zeitliche Ferne reist, das Leben einer Jüdin namens Ingrid Teyrsen. Sie war in Paris im Jahr 1941 nach der Sperrstunde nicht heimgekehrt - wie Dora Bruder.

    Man kann sich leicht vorstellen, warum Patrick Modiano den verzögernden Umweg über diesen Roman nahm. "Dora Bruder" ist bestimmt nicht sein schönstes und auch nicht sein suggestivstes Buch. Es wirkt, zumal im ersten Drittel, eher kahl und spröde. Es wirkt ohne besondere Rücksicht auf die Lust am Leseschmaus und auf die Verdaulichkeit von historisch-dokumentarischen Faktenportionen verfaßt. Von den Eigenschaften, die die Modiano-Gemeinde so begeistern - Charme, Unbeschwertheit, Lakonie, philosophische Tiefe -, besitzt "Dora Bruder" nur die beiden letzteren. Aber es ist Modianos aufschlußreichste Arbeit. Das heißt in diesem Fall auch: seine intimste und schutzloseste und vielleicht seine bedeutendste Arbeit. Denn sie liefert den Schlüssel zur persönlichen, immer leicht geheimnisvoll wirkenden Poetik von Patrick Modiano. Auf die Hauptelemente dieser Poetik greift er regelmäßig, von Roman zu Roman, zurück: Auf den Detektivismus des Erzählers. Auf die Geschichte einer vergessenen Biographie und die biographische Ermittlung als Anlaß des Erzählens. Auf die Ethik des Erzählens. Und auf ein Mysterium inmitten der realen Welt, die unstete und unstabile, von einer Romanfigur zur anderen und sogar zum Erzähler wandernden Idendität. Als sei die erzählte Geschichte ein Zugabteil und die Idendität ein Sitzplatz darin, auf dem sich die Figuren wie Passagiere ablösen.

    Vier Jahre brauchte Patrick Modiano allein, um das Geburtsdatum von Dora Bruder, den 25.2.1926, herauszubringen. Zwei weitere Jahre brauchte er für ihren Geburtsort, das 12. Arrodissement in Paris. "Doch ich bin geduldig, ich kann stundenlang im Regen stehen." Dann fand Modiano zwischen tausenden von Karteikarten diejenige, auf der vermerkt war, daß Doras Vater, Ernest Bruder, ein in Wien lebender österreichischer Jude, sich für die französische Fremdenlegion meldete. Aber wann war das? 1919? Oder 1920? Wann kam Ernest Bruder nach Paris? Auf alle Fälle heiratete er 1924 die ungarische Jüdin Cècile, und zwei Jahre später kommt Dora zur Welt. Einmal ging die junge Familie Bruder, die in recht armseligen Verhältnissen lebte, zum Fotografen. Das Bild, das entstand, hat Patrick Modiano Jahrzehnte später aufgetrieben.

    Einem Gerücht nach verfügt der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller, der in Frankreich längst als zeitgenössischer Klassiker gilt, in seiner Bibliothek über eine Abteilung, in der er nichts anderes als profanes Vergangenheitsmaterial archiviert: alte Stadtpläne, alte Telefonbücher, Zugfahrpläne und stoßweise alte Zeitungsjahrgänge. Nun ist es vollkommen üblich, daß Erzähler ihre Erzählungen mit derartigen Realien ausstatten. Bei Modiano indes sind sie nicht einfach nur Attribute eines Romans. Sie sind - wie die Suchanzeige bei "Dora Bruder" - dessen Ausgangspunkt und Anlaufstellen, zu denen es den Erzähler immer wieder hintreibt wie den Ortsfremden zum Bahnhof. Was er zu finden hofft von den Vergangenheitsresten ist nicht weniger als ein Energieschub bei seiner Tätigkeit der geistigen Vergegenwärtigung der Vergangenheit. All die Dinge, die Zeiten, die Namen und Orte gelten ihm als Schrittmacher des Erinnerns. Sie können noch so unscheinbar sein und noch so unbedeutend wirken. Aber sie haben die Potenz einer Batterie. Sie sind aufgeladen mit Zeit.

    Die Energie der Orte ist die erste Brücke, die Modiano benutzt, um aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu gelangen, in den Zeitraum vom Dezember 1941 bis zum Sommer 42. Er durchstreift das Viertel um den Boulevard Ornano. Dort wohnte die Familie Bruder zuletzt in einem billigen Hotel zur Untermiete. Diese Adresse steht in der Suchanzeige. Aber während dieses Spaziergangs am Boulevard Ornano, der bereits auf der ersten Buchseite anfängt, ereignet sich ein sprachlich unauffällig eingeleiteter, methodisch aber bedeutsamer Richtungswechsel von Modianos Recherche: aus dem historischen in sein höchstpersönliches, privates Gedächtnis. Und er erinnert sich, was er in der Gegend selbst erlebt hat. Daß er als Kind seine Mutter zum Flohmarkt des Viertel begleitete. Daß er später, im Jahr 1965, oft an den Boulevard Ornano kam, weil seine Freundin um die Ecke wohnte. In der Überblendung des Porträtisten Modiano mit der Porträtierten Dora Bruder, in den Idenditätssprüngen und -wechseln zwischen Erzähler und Figur liegt eine der Eigentümlichkeiten und Klugheiten des Buches.

    Die Rue Picpus im 12. Arrodissement ist die nächste Adresse, auf deren Echo Modiano lauscht. Ab 1940 besuchte Dora Bruder eine katholische Klosterschule, die in der Straße lag. Die Frage, wie sie als jüdisches Mädchen dorthin kam, läßt sich nicht mehr beantworten. Aber die Schule diente ihr vielleicht zunächst als Versteck vor der Judenvervolgung. Die Suchanzeige im "Paris-Soir" war nicht unriskant. Sie konnte die Aufmerksamkeit der Polizei auf Dora Bruder lenken, und ihr Vater hatte zwar sich und seine Frau bei der Judenpolizei pflichtgemäß gemeldet, seine Tochter aber verschwiegen. Im Dezember 1941 wird Dora Bruder, so sagen es die Akten, aus der Klosterschule entlassen, "wegen Weglaufens". Auf die folgenden Monate, während derer sie verschwunden war, und auf die Umstände, wie und von wo sie im Frühjahr 1941 wieder auftauchte und nach ein paar Wochen wieder verschwand, fällt kein Licht. Sicher ist nur: im Sommer 1942 führt Dora Bruders Weg vom Polizeirevier in das Gefängnis Les Tourelles, von dort in das Lager Nancy. Und am 18. September 1942 wird Dora Bruder nach Auschwitz deportiert. Auf der Liste der Deportierten steht ihr Name über dem ihres Vaters. Diese Liste hatte der Schriftsteller Patrick Modiano einmal gelesen. Als er auf die Suchanzeige im "France Soir" stieß, kehrte der Name Bruder alarmierend zurück.

    Patrick Modiano ist jüdischer Herkunft. Auch diesen autobiographischen Schlüssel zu seinem Werk liefert er der Leserschaft in diesem Buch aus. Er hat jedoch den Holocaust nicht erlebt, und er hat auch nie über ihn geschrieben. Das heißt: nie direkt. Aber abgesehen davon, daß der Sturz in die Zeit in seinen Romanen auffälligerweise immer in der Epoche der Okkupation endete, sieht es nun, im Licht von "Dora Bruder", so aus, als hätte Patrick Modiano auch schon immer über den Holocaust geschrieben, wenn auch ganz indirekt. Nicht inhaltlich, sondern strukturell. All die verschwundenen Romanfiguren Modianos, mit ihren vergessenen, anonymen, unkenntlichen, wie im Sand verlaufenen Biographien sind Stellvertreter der verschwundenen Juden. All seine detektivischen Erzähler sind Handlanger des Erinnerns und dieses leitet sich aus dem Widerstand gegen das Vergessen der Opfer ab. Wo ihr Leben mörderisch unterbrochen wurde, klafft in der Geschichte des Jahrhunderts eine Lücke. Auf das Bild einer solchen Lücke und auf die aporetische Hoffnung, sie zu füllen, geht Modianos Manie zurück, Idenditätsketten zu bilden, in denen eine literarische Gestalt für die andere einspringt.

    So springt er selbst für Dora Bruder ein; buchstäblich als Lückenbüßer. Nicht, um sich wichtig zu machen. Sondern, um etwas gegen die biographische Leere um das ermordete Mädchen zu tun. Da er niemand fand, der sich an Dora Bruder unmittelbar erinnern kann, dient er mit Schätzen aus seinen Erinnerungen. Er stellt die Geschichte seines Vaters zur Verfügung, die Geschichten gleichaltriger jüdischer Mädchen mit einem gleichen oder ähnlichen Schicksal. Er zieht Lektüreerfahrungen, seine Gedanken, seine Assoziationen heran. Die literarische Größe und Strenge des Buches rührt hauptsählich aus seiner Fähigkeit, in jedem Moment das Bewußtsein darüber zu bewahren, daß es im Schatten Marcel Prousts, nicht im Schatten Raoul Hilbergs beheimatet ist, wiewohl es streckenweise starke Ähnlichkeit mit einem Werk der historischen Forschung besitzt. Manchmal scheint es, als spanne der Autor sein Erinnerungsnetz so weiträumig um Dora Bruder, daß es sie gar nicht mehr berührt. Aber immer findet er zu seiner Figur zurück, beladen mit neuem Material und Mörtel für die Rekonstruktion der Idendität des Mädchens namens Dora Bruder.

    Denkmal klingt zu pompös. Aber wenn es so etwas gäbe, könnte man das Buch "Dora Bruder" einen großen literarischen Denkmalsversuch für eine unbekannte Jüdin nennen.