"M Train” is like a mind train, it’s really the sort of, in a way a stream of consciousness. Just the process of how the mind works and what I was doing as I was thinking things. „M“ is really for mind. The mental train."
Das M in "M Train" stehe für "mind", sagt Patti Smith, für "Gedanken". "M Train" sei ein Bewusstseinsstrom, ein Gedankenzug. Und auf eine Fahrt mit diesem Gedankenzug lädt die Autorin die Leser ihres neuen Buches ein.
Damit tut sie etwas anderes, als manche von ihr erwartet und viele erhofft haben. "M Train" ist keine Fortsetzung von "Just Kids". Darin hatte Patti Smith ihre langjährige Freundschaft mit dem Starfotografen Robert Mapplethorpe geschildert und 2010 eine wahre Patti Smith-Renaissance in Gang gebracht. Das Publikum dies- und jenseits des Atlantiks ergötzte sich an ihren Geschichten über die New Yorker Bohème der 1970er -Jahre. Man entdeckte Patti Smith wieder als Poetin des Punkrock und neu auch als Schriftstellerin und Fotografin.
Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihren Erinnerungsfundus nach weiteren Genrebildern von anno dazumal zu durchsuchen und damit die nostalgischen Sehnsüchte ihrer Leserschaft zu befriedigen. Stattdessen nimmt sie einen in "M Train" mit in ihr Jetzt.
"I think the book is very much like me. It’s very much like how I live."
Das Buch sei wie sie, es sei, wie sie lebe, so Patti Smith. Und wenn das stimmt, dann ist ihr Leben ein Traum - in mehrfacher Hinsicht. Träume spielen in ihrem Leben eine gewaltige Rolle. Der erste Satz von "M Train" stammt aus einem davon:
"Es ist gar nicht so leicht, über nichts zu schreiben."
Das sagt ein Cowboy auf einem Klappstuhl in der Wüste zu ihr. Darauf fangen die beiden darüber zu streiten an, wessen Traum das nun eigentlich ist, bis Patti Smith davonläuft und aufwacht.
"Dann schlüpfte ich in meine Stiefel, fütterte die Katzen, griff meine Wollmütze und meinen alten schwarzen Mantel und ging hinaus in Richtung der oft genommenen Straße, über die Avenue zur Bedford Street und in ein kleines Café in Greenwich Village."
Das ist kein Traum, sondern die Art von privilegiertem Leben, von dem viele Leute träumen.
"At this time in my life I don’t have to live on a timeline to be responsible. Because I’ve found other ways to make a living. I’m very lucky at this time, I can make a living writing books."
Patti Smith auf den Spuren eines deutschen Polarforschers
Patti Smith kann es sich leisten, ihren Alltag so zu gestalten, wie es ihr gefällt. Sie steht auf, wann es ihr passt, füttert ihre Katzen und geht ins Café, um ein paar Stunden zu schreiben. Sie unternimmt Spaziergänge und manchmal spontane Ausflüge nach London, um sich dort in ein Hotelzimmer einzuschließen und nächtelang Fernsehkrimis zu gucken. Sie reist überhaupt viel, oft nur im Kopf, aber häufig auch richtig, und zwar quer über den Globus.
Da sind zum Beispiel die Versammlungen des Continental Drift Club. Der CDC war ein Verein, dessen 27 Mitglieder sich dem Gedenken des deutschen Polar- und Geowissenschaftlers Alfred Wegener widmete. Patti Smith wurde eines davon, nachdem sie Wegeners Stiefel hatte fotografieren wollen und vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven zu einer Konferenz zum 125. Geburtstag des Forschers eingeladen wurde.
Der CDC hat sich inzwischen aufgelöst. Aber Patti Smiths Schilderungen verschiedener Zusammenkünfte gehören zu den kuriosesten Passagen in "M Train".
Realität und Träume werden klar getrennt
Eines dieser Treffen führt sie nach Reykjavik. Während ihre Kollegen zu Wegeners vermuteter Todesstelle nach Grönland aufbrechen, erhält Smith die Erlaubnis, den Tisch zu fotografieren, an dem 1972 das Schachduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski stattgefunden hatte. Sie fotografiert den Tisch. Und um Mitternacht singt sie im geschlossenen Speisesaal ihres Hotels mit Bobby Fischer Lieder von Buddy Holly. Wie? Warum? Patti Smith liefert dafür eine völlig unglaubliche, aber durchaus plausible Erklärung. Sie macht auch sonst recht deutlich, was in "M Train" wirklich ist und was sie träumt. Das bizarre Tête-à-tête mit einem der bedeutendsten Schachspieler des 20. Jahrhunderts ist Teil jener traumhaften Wirklichkeit, in der diese Autorin existiert.
"These photographs, they’re sort of third class relicts. Because I see the object, like Hermann Hesses typewriter, I see, it’s a wonderful typewriter."
Die meisten Reisen von Patti Smith sind Pilgerreisen. Sie pilgert zu Hermann Hesses Schreibmaschine in Montagnola in der Schweiz. Zum Bett von Frieda Kahlo in der Casa Azul in Coyoacán. Und zu Gräbern - zu jenem von Sylvia Plath etwa oder dem von Jean Genet. Von diesen Gegenständen und Orten macht sie Fotos, so wie sie Alfred Wegeners Stiefel und Bobby Fischers Schachtisch fotografiert hat. Diese Fotografien betrachtet Patti Smith als Reliquien. Sie stellen nicht die Heiligen selber dar, aber doch etwas, das sie berührt haben.
"It’s just another way of communicating."
Es sei eine Möglichkeit, sich mit den Menschen zu verständigen, die man bewundert.
Hommage an ihren Ehemann Fred Smith
Zu Patti Smith’ Heiligen zählt auch ihr Mann. Fred "Sonic" Smith starb 1994 im Alter von 45 Jahren an einem Herzversagen. War "Just Kids" eine Hommage an Robert Mapplethorpe, so ist "M Train" eine Liebeserklärung an Fred Smith. Patti Smith beschreibt ihn als Seelenverwandten und die 1980er-Jahre, die sie mit ihm und ihren beiden Kindern zurückgezogen in Michigan verbrachte, als Wunder. Dabei hatte sie gar nicht vor, ihren Mann oder überhaupt die Vergangenheit zu einem Teil dieses Buches zu machen.
"I wanted very much to write a book in present tense. And what I found in writing 'M Train' is, it’s almost impossible, because as you’re writing time is already slipping away and as you’re writing, something you say may trigger a memory and then you’re writing on the past anyway."
Sie habe ein Buch im Präsens schreiben wollen und gemerkt, dass das unmöglich ist. Bereits während des Schreibens vergehe die Zeit, Erinnerungen würden angeregt und schon schreibe man über die Vergangenheit. Ihr Mann sei einfach immer wieder aufgetaucht, während sie an „M Train“ arbeitete. Und so tauchen auch Szenen aus ihrem gemeinsamen Leben in "M Train" immer wieder auf.
Einmal sitzt das Paar unter einer Bahnhofsuhr ohne Zeiger in Freds Lieblingscafé in Detroit. Fred erfindet eine Fernsehsendung mit dem Titel "Betrunken am Nachmittag". Darin sollen Gäste unter derselben zeigerlosen Uhr trinken und reden. Patti Smith hat nie viel getrunken. Doch wirkt "M Train" wie ein Protokoll dieser phantastischen Fernsehsendung. Es ist ein assoziatives Erzählen, das sich weder an einen Plot noch an eine Chronologie hält und gleicht insofern dem Leben, das Patti Smith selber zu führen scheint. Ein Leben, das keinen festgelegten Pfaden folgt, eines mit viel Raum für Zufälle und ohne Rücksicht auf das Ticken der Uhr.
"Ich glaube an Bewegung. Ich glaube an diese unbekümmerte Kugel, die Welt. Ich glaube an Mitternacht und an die Mittagsstunde. Aber woran glaube ich noch? Manchmal an alles. Manchmal an nichts. Es schwankt wie flirrendes Licht über einem Teich. Ich glaube an das Leben, das eines Tages jeder von uns verliert."
"M Train" ist das Selbstporträt einer Künstlerin. Es ist ein Tagebuch, ein Traumjournal, ein Fotoalbum, ein Liebesbrief. Gelegentlich ist dieses Buch auch wolkig und verblasen und kippt ins Esoterische. Darüber helfen die Lakonie der Autorin und ihr Sinn fürs Absurde zum Glück hinweg. Patti Smith’ Gedankenzug startet ohne Ziel und kommt genau deshalb fast überall an, wo es sich anzukommen lohnt.
Patti Smith: M Train. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2016. 334 Seiten. 19,99 Euro.