Christoph Heinemann: Im Berliner Bezirk Hellersdorf gibt es seit Wochen Proteste, auch von Rechtsextremen gegen eine Unterkunft für Menschen und für Flüchtlinge, die sicherlich nicht zum Spaß ihre Heimat verlassen haben, um zum Teil auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland zu gelangen. Am Heim für Asylbewerber scheiden sich die Geister. Proteste gegen Hellersdorfer Flüchlingsheim (MP3-Audio) Aus Berlin berichtet Claudia van Laak.
Am Telefon ist Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Abgeordnete der Linkspartei für den Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf. Guten Morgen!
Petra Pau: Guten Morgen!
Heinemann: Frau Pau, hat die Sozialstadträtin des Bezirks, hat Ihre Parteifreundin Dagmar Pohle versagt?
Pau: Also das Bezirksamt insgesamt war offensichtlich Anfang Juli, als eine Bürgerversammlung völlig aus dem Ruder lief und Rechtsextreme dort das Wort übernahmen, überfordert und offensichtlich auch überrascht von der Anreise von mehreren Hundert Neonazis aus Berlin-Brandenburg, sodass die Anwohnerinnen und Anwohner überhaupt nicht zu Wort kamen. Aber ich sehe nicht, dass die Bezirksverwaltung, welche übrigens nach gutem Brauch in Berlin von allen demokratischen Parteien getragen wird, versagt hat.
Heinemann: Wie konnte denn die Bezirksverwaltung von der Anreise von Rechtsextremisten überrascht sein? Das verstehe ich nicht.
Pau: Also ich war selbst vor Ort auf dieser Bürgerversammlung, und dort kam es zum Aufruf zu Straftaten, dazu, dass Menschen das Datum der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen auf dem T-Shirt trugen, und die Polizei, welche auch vor Ort war, nahm eine Anzeige zwar dieser Straftaten entgegen, aber reagierte nicht und setzte auch das Hausrecht nicht durch.
Aber das sind alles Dinge, die haben im Juli stattgefunden, und wir müssen uns jetzt um die Situation heute kümmern. Und ich bin sehr froh, dass es so ist, dass wir gestern Abend, obwohl Wahlkampf ist, alle Kandidaten, von der CDU meine Kollegin Monika Grütters aus dem Bundestag, wie auch die Kandidaten aller anderen Parteien, erklärt haben, das ist kein Wahlkampfthema, und wir stehen alle gemeinsam an der Seite der Flüchtlinge.
Es ist jetzt aus meiner Sicht notwendig, dass in diesen Kiez erstens Ruhe einzieht – dazu gehört auch, dass vor dem Heim nicht mehr weiter widerstreitende Demonstrationen stattfinden, und dass es möglich wird, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Fragen haben, ihre Fragen auch beantwortet bekommen. Ich habe dazu meinen Beitrag auch geleistet und festgestellt, dass viele gar nicht wissen, welchen Restriktionen Flüchtlinge unterworfen sind, dass sie nicht arbeiten dürfen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz sie weiter diskriminiert, dass die Residenzpflicht sie an einen Ort bindet und ihnen nicht die Möglichkeit gibt, selbstbestimmt sich in der Bundesrepublik zu bewegen. All diese Dinge wissen viele Bürgerinnen und Bürger nicht, wenn sie es erfahren, dann schlägt die diffuse Angst, die dort herrschte, oftmals nicht nur in Mitleid, sondern auch den Willen zur Hilfe um. Ich denke, das müssen wir jetzt nutzen.
Heinemann: Frau Pau, kommen wir noch mal kurz zu der Veranstaltung im Juli zurück. Wäre die Situation nicht eine komplett andere, wenn diese Veranstaltung, diese Bürgerveranstaltung, nicht friedlicher und informativer abgelaufen wäre? Mussten die politisch Verantwortlichen, darunter Ihre Parteifreundin Frau Pohle, nicht damit rechnen, dass Rechtsextremisten das als Forum nutzen würden?
Pau: Aus meiner Sicht und aus meiner Erfahrung muss man damit rechnen, allerdings, wir haben nicht damit gerechnet, dass dort mehrere Hundert Menschen anreisen, die diese Veranstaltung für sich instrumentalisieren. Das kann man als Fehler bewerten, das hilft uns aber heute nicht weiter, sondern wir müssen heute mit dieser Situation umgehen.
Im Übrigen ist diese Bürgerversammlung gleich nach der Entscheidung, dass dieses Heim im August geschaffen werden soll, einberufen worden. Insofern war da sicherlich guter Wille da, aber man hätte sich sicherlich auch die Unterstützung der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Vorfeld sichern müssen, und auch eigene Kräfte im Bezirk – das Bezirksamt hat eine ganze Stelle, also einen Menschen, der sich mit diesen Entwicklungen beschäftigt, auch entsprechend einbinden müssen. Das ist damals nicht geschehen, das habe ich mit dem Bürgermeister, mit der Stadträtin, mit anderen Verantwortlichen besprochen, aber ich denke, das hilft uns jetzt in der Auseinandersetzung nicht weiter.
Heinemann: Nun sind nicht alle, die sich Sorgen machen, Rechtsextremisten. Haben Sie Verständnis dafür, dass ein Teil der Bevölkerung von Hellersdorf keine Asylbewerber in der Nähe haben möchte?
Pau: Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen diese Menschen, welche Schlimmes durchgemacht haben, ablehnen beziehungsweise in einen anderen Bezirk schicken wollen. Das habe ich den Menschen vor Ort auch gesagt. Ich habe Verständnis dafür, dass es Menschen gibt, die Ängste haben, weil sie nicht informiert sind beziehungsweise eben nicht wissen, unter welchen Umständen diese Flüchtlinge gekommen sind, deshalb auch mein Aufruf nach wie vor, sachlich aufklären.
Dazu ist gestern Abend eine Lösung gefunden worden, die ich auch sehr gut finde, dass nämlich diejenigen, welche sich in den letzten Tagen mit den Flüchtlingen solidarisiert haben, dort eine Mahnwache abgehalten haben, in der Nähe des Heimes jetzt eine Unterkunft bekommen, dort Beratungsangebote sowohl für die Anwohner als auch für die Flüchtlinge in den nächsten Monaten organisieren können. Ich denke, es muss jetzt erst einmal möglich sein, sich zu begegnen. Das war aufgrund der zugespitzten Situation mit angereisten Neonazis, welche die letzten drei Tage hier in diesem Bezirk also Demonstrationen abgehalten haben, bisher gar nicht möglich, dass die Menschen aus dem Heim in den Bezirk gingen und umgekehrt, dass die Menschen aus dem Kiez sich mit den Flüchtlingen irgendwo in Beziehung setzen.
Ich habe gestern früh eine Frau getroffen, die sagte mir: Ich spreche mehrere Sprachen, die diese Flüchtlinge hier im Heim sprechen, und ich war früher Lehrerin. Ich würde gerne den Kindern, die hoffentlich bald in die Kita und in die Schule hier nebenan gehen können, helfen, die deutsche Sprache zu lernen und sich möglichst schnell dann auch mit ihren neuen Freundinnen und Freunden in der Schule verständigen zu können. Das war bisher aufgrund dieser Situation überhaupt nicht möglich.
Heinemann: Frau Pau, warum stehen solche Unterkünfte immer in Stadteilen wie Hellersdorf und nicht etwa am Prenzlauer Berg?
Pau: Wir haben die Situation, dass wir in allen Bezirken in Berlin Flüchtlinge aufnehmen und unterbringen müssen. Bisher ist in Hellersdorf ein Heim auch schon in Betrieb, aber insgesamt haben wir in Marzahn-Hellersdorf nicht so viele Flüchtlinge aufgenommen wie andere Bezirke, wie zum Beispiel Spandau. Im Übrigen, ich war gerade im Urlaub im Allgäu und habe festgestellt, dass auch dort alle Gemeinden vor dieser Frage stehen, ob es jetzt eine 1000-Seelen-Gemeinde ist oder eine 10.000 Menschen umfassende kleine Stadt.
Das heißt, wir brauchen eine Notaufnahme für diese Flüchtlinge, aber ich fordere auch die Verantwortlichen in allen Bundesländern und in allen Kommunen auf, möglichst bald mit den örtlichen Wohnungsbaugesellschaften, mit der Zivilgesellschaft vor Ort, nach Möglichkeiten zu suchen, dass, wenn diese Flüchtlinge, oder wenn klar ist, dass diese Flüchtlinge im Ort, in der Kommune bleiben, dass sie möglichst bald dezentral untergebracht werden, weil wer will schon und wer kann schon ewig irgendwie zu 100 oder 200 oder 300 Menschen in einem Heim leben. Das bringt auch nicht die Möglichkeit, anzukommen, zur Ruhe zu kommen und auch seine Traumata zu verarbeiten.
Heinemann: 2008 haben rund 20.000 Bewerber einen ersten Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt, in diesem Jahr könnten es bis zu 100.000 Menschen sein. Bei welcher Größenordnung ist Deutschland überfordert?
Pau: Deutschland ist in keiner Weise überfordert. Übrigens, Berlin hatte auch schon mehr Flüchtlinge aufzunehmen und hat das geschultert.
Heinemann: Zum Beispiel 1992, das war das Jahr von Rostock-Lichtenhagen.
Pau: Nein, das meine ich nicht, sondern ich meine die Zeit rund um den Jugoslawienkrieg. Und Rostock-Lichtenhagen ist allerdings ein sehr wichtiges Stichwort. 1992 brannte an jedem Tag in der Bundesrepublik eine Wohnung oder eine Unterkunft von Menschen mit ausländischen Wurzeln. Damals hat die Politik aus meiner Sicht völlig falsch reagiert, abgesehen davon, dass Neonazis das Gefühl hatten, sie können hier straflos durch das Land ziehen.
Und damals wurde das Asylrecht verändert, zum Teil geschliffen. Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr, 2013, auch – heute ist ja der Tag, an dem der NSU-Untersuchungsausschuss seinen Bericht vorlegt, also rund um die Nazimord- und Raubserie, dass wir hier andere Lehren ziehen und Möglichkeiten schaffen, Menschen, die in höchster Not geflohen sind, zu helfen, aufzunehmen und ihnen möglichst bald auch die Möglichkeit zu geben, an dieser Gesellschaft teilzuhaben, weil das gehört mit zum Problem, dass nach den Gesetzen, die Mehrheiten im Bundestag beschlossen haben, diese Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen, dass sie an die Residenzpflicht, sprich, an den Ort, an den sie eingewiesen werden, gebunden sind. Ich denke, da müssen wir reagieren, und nicht uns die Frage stellen, wann sind wir überfordert.
Heinemann: Bedarf es jetzt eines Krisengipfels, an dem alle politischen Kräfte teilnehmen?
Pau: Ich sehe nicht, dass es notwendig ist, einen Krisengipfel unter der Überschrift "Wir sind überfordert" einzuberufen, aber wenn es einen Gipfel gegen Rassismus und einen Gipfel zur Änderung der Gesetzeslage gibt, dann beteilige ich mich gern.
Heinemann: Aber zumindest die Bezirkspolitiker in Berlin-Hellersdorf scheinen doch überfordert zu sein, auch nach dem, was Sie eingangs dieses Gespräches gesagt haben.
Pau: Ich erwarte, dass man im Land Berlin gemeinsam zwischen Landesregierung und allen Bezirkspolitikern – Sie sollten Ihren Blick mal insgesamt auch auf Berlin werfen – eine Verständigung herbeiführt, wie wir in allen Bezirken mit dieser Situation umgehen. Wir haben in einem Bezirk, wo plötzlich Anwohner einen Spielplatz eingezäunt haben, damit die Flüchtlingskinder darauf nicht spielen – das ist nicht Marzahn-Hellersdorf, sondern ein Bezirk im ehemaligen Westteil der Stadt.
Ich denke, da müssen sich die Politiker aller Parteien dieser Situation zuwenden, erstens aufklären, aber zweitens auch deutlich machen, dass der erste Satz unseres Grundgesetzes, nämlich "Die Würde des Menschen ist unantastbar" nicht nur deutschen Menschen, nicht bloß Menschen mit einem deutschen Pass in der Tasche, sondern aller Menschen auch in allen Bezirken, gelebt wird.
Heinemann: Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Abgeordnete des Berliner Wahlkreises Marzahn-Hellersdorf. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am Telefon ist Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Abgeordnete der Linkspartei für den Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf. Guten Morgen!
Petra Pau: Guten Morgen!
Heinemann: Frau Pau, hat die Sozialstadträtin des Bezirks, hat Ihre Parteifreundin Dagmar Pohle versagt?
Pau: Also das Bezirksamt insgesamt war offensichtlich Anfang Juli, als eine Bürgerversammlung völlig aus dem Ruder lief und Rechtsextreme dort das Wort übernahmen, überfordert und offensichtlich auch überrascht von der Anreise von mehreren Hundert Neonazis aus Berlin-Brandenburg, sodass die Anwohnerinnen und Anwohner überhaupt nicht zu Wort kamen. Aber ich sehe nicht, dass die Bezirksverwaltung, welche übrigens nach gutem Brauch in Berlin von allen demokratischen Parteien getragen wird, versagt hat.
Heinemann: Wie konnte denn die Bezirksverwaltung von der Anreise von Rechtsextremisten überrascht sein? Das verstehe ich nicht.
Pau: Also ich war selbst vor Ort auf dieser Bürgerversammlung, und dort kam es zum Aufruf zu Straftaten, dazu, dass Menschen das Datum der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen auf dem T-Shirt trugen, und die Polizei, welche auch vor Ort war, nahm eine Anzeige zwar dieser Straftaten entgegen, aber reagierte nicht und setzte auch das Hausrecht nicht durch.
Aber das sind alles Dinge, die haben im Juli stattgefunden, und wir müssen uns jetzt um die Situation heute kümmern. Und ich bin sehr froh, dass es so ist, dass wir gestern Abend, obwohl Wahlkampf ist, alle Kandidaten, von der CDU meine Kollegin Monika Grütters aus dem Bundestag, wie auch die Kandidaten aller anderen Parteien, erklärt haben, das ist kein Wahlkampfthema, und wir stehen alle gemeinsam an der Seite der Flüchtlinge.
Es ist jetzt aus meiner Sicht notwendig, dass in diesen Kiez erstens Ruhe einzieht – dazu gehört auch, dass vor dem Heim nicht mehr weiter widerstreitende Demonstrationen stattfinden, und dass es möglich wird, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Fragen haben, ihre Fragen auch beantwortet bekommen. Ich habe dazu meinen Beitrag auch geleistet und festgestellt, dass viele gar nicht wissen, welchen Restriktionen Flüchtlinge unterworfen sind, dass sie nicht arbeiten dürfen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz sie weiter diskriminiert, dass die Residenzpflicht sie an einen Ort bindet und ihnen nicht die Möglichkeit gibt, selbstbestimmt sich in der Bundesrepublik zu bewegen. All diese Dinge wissen viele Bürgerinnen und Bürger nicht, wenn sie es erfahren, dann schlägt die diffuse Angst, die dort herrschte, oftmals nicht nur in Mitleid, sondern auch den Willen zur Hilfe um. Ich denke, das müssen wir jetzt nutzen.
Heinemann: Frau Pau, kommen wir noch mal kurz zu der Veranstaltung im Juli zurück. Wäre die Situation nicht eine komplett andere, wenn diese Veranstaltung, diese Bürgerveranstaltung, nicht friedlicher und informativer abgelaufen wäre? Mussten die politisch Verantwortlichen, darunter Ihre Parteifreundin Frau Pohle, nicht damit rechnen, dass Rechtsextremisten das als Forum nutzen würden?
Pau: Aus meiner Sicht und aus meiner Erfahrung muss man damit rechnen, allerdings, wir haben nicht damit gerechnet, dass dort mehrere Hundert Menschen anreisen, die diese Veranstaltung für sich instrumentalisieren. Das kann man als Fehler bewerten, das hilft uns aber heute nicht weiter, sondern wir müssen heute mit dieser Situation umgehen.
Im Übrigen ist diese Bürgerversammlung gleich nach der Entscheidung, dass dieses Heim im August geschaffen werden soll, einberufen worden. Insofern war da sicherlich guter Wille da, aber man hätte sich sicherlich auch die Unterstützung der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Vorfeld sichern müssen, und auch eigene Kräfte im Bezirk – das Bezirksamt hat eine ganze Stelle, also einen Menschen, der sich mit diesen Entwicklungen beschäftigt, auch entsprechend einbinden müssen. Das ist damals nicht geschehen, das habe ich mit dem Bürgermeister, mit der Stadträtin, mit anderen Verantwortlichen besprochen, aber ich denke, das hilft uns jetzt in der Auseinandersetzung nicht weiter.
Heinemann: Nun sind nicht alle, die sich Sorgen machen, Rechtsextremisten. Haben Sie Verständnis dafür, dass ein Teil der Bevölkerung von Hellersdorf keine Asylbewerber in der Nähe haben möchte?
Pau: Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen diese Menschen, welche Schlimmes durchgemacht haben, ablehnen beziehungsweise in einen anderen Bezirk schicken wollen. Das habe ich den Menschen vor Ort auch gesagt. Ich habe Verständnis dafür, dass es Menschen gibt, die Ängste haben, weil sie nicht informiert sind beziehungsweise eben nicht wissen, unter welchen Umständen diese Flüchtlinge gekommen sind, deshalb auch mein Aufruf nach wie vor, sachlich aufklären.
Dazu ist gestern Abend eine Lösung gefunden worden, die ich auch sehr gut finde, dass nämlich diejenigen, welche sich in den letzten Tagen mit den Flüchtlingen solidarisiert haben, dort eine Mahnwache abgehalten haben, in der Nähe des Heimes jetzt eine Unterkunft bekommen, dort Beratungsangebote sowohl für die Anwohner als auch für die Flüchtlinge in den nächsten Monaten organisieren können. Ich denke, es muss jetzt erst einmal möglich sein, sich zu begegnen. Das war aufgrund der zugespitzten Situation mit angereisten Neonazis, welche die letzten drei Tage hier in diesem Bezirk also Demonstrationen abgehalten haben, bisher gar nicht möglich, dass die Menschen aus dem Heim in den Bezirk gingen und umgekehrt, dass die Menschen aus dem Kiez sich mit den Flüchtlingen irgendwo in Beziehung setzen.
Ich habe gestern früh eine Frau getroffen, die sagte mir: Ich spreche mehrere Sprachen, die diese Flüchtlinge hier im Heim sprechen, und ich war früher Lehrerin. Ich würde gerne den Kindern, die hoffentlich bald in die Kita und in die Schule hier nebenan gehen können, helfen, die deutsche Sprache zu lernen und sich möglichst schnell dann auch mit ihren neuen Freundinnen und Freunden in der Schule verständigen zu können. Das war bisher aufgrund dieser Situation überhaupt nicht möglich.
Heinemann: Frau Pau, warum stehen solche Unterkünfte immer in Stadteilen wie Hellersdorf und nicht etwa am Prenzlauer Berg?
Pau: Wir haben die Situation, dass wir in allen Bezirken in Berlin Flüchtlinge aufnehmen und unterbringen müssen. Bisher ist in Hellersdorf ein Heim auch schon in Betrieb, aber insgesamt haben wir in Marzahn-Hellersdorf nicht so viele Flüchtlinge aufgenommen wie andere Bezirke, wie zum Beispiel Spandau. Im Übrigen, ich war gerade im Urlaub im Allgäu und habe festgestellt, dass auch dort alle Gemeinden vor dieser Frage stehen, ob es jetzt eine 1000-Seelen-Gemeinde ist oder eine 10.000 Menschen umfassende kleine Stadt.
Das heißt, wir brauchen eine Notaufnahme für diese Flüchtlinge, aber ich fordere auch die Verantwortlichen in allen Bundesländern und in allen Kommunen auf, möglichst bald mit den örtlichen Wohnungsbaugesellschaften, mit der Zivilgesellschaft vor Ort, nach Möglichkeiten zu suchen, dass, wenn diese Flüchtlinge, oder wenn klar ist, dass diese Flüchtlinge im Ort, in der Kommune bleiben, dass sie möglichst bald dezentral untergebracht werden, weil wer will schon und wer kann schon ewig irgendwie zu 100 oder 200 oder 300 Menschen in einem Heim leben. Das bringt auch nicht die Möglichkeit, anzukommen, zur Ruhe zu kommen und auch seine Traumata zu verarbeiten.
Heinemann: 2008 haben rund 20.000 Bewerber einen ersten Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt, in diesem Jahr könnten es bis zu 100.000 Menschen sein. Bei welcher Größenordnung ist Deutschland überfordert?
Pau: Deutschland ist in keiner Weise überfordert. Übrigens, Berlin hatte auch schon mehr Flüchtlinge aufzunehmen und hat das geschultert.
Heinemann: Zum Beispiel 1992, das war das Jahr von Rostock-Lichtenhagen.
Pau: Nein, das meine ich nicht, sondern ich meine die Zeit rund um den Jugoslawienkrieg. Und Rostock-Lichtenhagen ist allerdings ein sehr wichtiges Stichwort. 1992 brannte an jedem Tag in der Bundesrepublik eine Wohnung oder eine Unterkunft von Menschen mit ausländischen Wurzeln. Damals hat die Politik aus meiner Sicht völlig falsch reagiert, abgesehen davon, dass Neonazis das Gefühl hatten, sie können hier straflos durch das Land ziehen.
Und damals wurde das Asylrecht verändert, zum Teil geschliffen. Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr, 2013, auch – heute ist ja der Tag, an dem der NSU-Untersuchungsausschuss seinen Bericht vorlegt, also rund um die Nazimord- und Raubserie, dass wir hier andere Lehren ziehen und Möglichkeiten schaffen, Menschen, die in höchster Not geflohen sind, zu helfen, aufzunehmen und ihnen möglichst bald auch die Möglichkeit zu geben, an dieser Gesellschaft teilzuhaben, weil das gehört mit zum Problem, dass nach den Gesetzen, die Mehrheiten im Bundestag beschlossen haben, diese Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen, dass sie an die Residenzpflicht, sprich, an den Ort, an den sie eingewiesen werden, gebunden sind. Ich denke, da müssen wir reagieren, und nicht uns die Frage stellen, wann sind wir überfordert.
Heinemann: Bedarf es jetzt eines Krisengipfels, an dem alle politischen Kräfte teilnehmen?
Pau: Ich sehe nicht, dass es notwendig ist, einen Krisengipfel unter der Überschrift "Wir sind überfordert" einzuberufen, aber wenn es einen Gipfel gegen Rassismus und einen Gipfel zur Änderung der Gesetzeslage gibt, dann beteilige ich mich gern.
Heinemann: Aber zumindest die Bezirkspolitiker in Berlin-Hellersdorf scheinen doch überfordert zu sein, auch nach dem, was Sie eingangs dieses Gespräches gesagt haben.
Pau: Ich erwarte, dass man im Land Berlin gemeinsam zwischen Landesregierung und allen Bezirkspolitikern – Sie sollten Ihren Blick mal insgesamt auch auf Berlin werfen – eine Verständigung herbeiführt, wie wir in allen Bezirken mit dieser Situation umgehen. Wir haben in einem Bezirk, wo plötzlich Anwohner einen Spielplatz eingezäunt haben, damit die Flüchtlingskinder darauf nicht spielen – das ist nicht Marzahn-Hellersdorf, sondern ein Bezirk im ehemaligen Westteil der Stadt.
Ich denke, da müssen sich die Politiker aller Parteien dieser Situation zuwenden, erstens aufklären, aber zweitens auch deutlich machen, dass der erste Satz unseres Grundgesetzes, nämlich "Die Würde des Menschen ist unantastbar" nicht nur deutschen Menschen, nicht bloß Menschen mit einem deutschen Pass in der Tasche, sondern aller Menschen auch in allen Bezirken, gelebt wird.
Heinemann: Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Abgeordnete des Berliner Wahlkreises Marzahn-Hellersdorf. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.