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Paul Auster: "Mit Fremden sprechen"
Der Autor als Seiltänzer

In kleinen Schriften aus 50 Jahren gibt der amerikanische Autor Paul Auster Einblick in seinen Werdegang als Schriftsteller. Der Meister postmoderner Fiktion ist nicht nur ein begeisterter Leser der europäischen Moderne, sondern auch ein Lyrik-Experte, der in den USA Anthologien kuratierte.

Von Michael Watzka | 23.12.2020
Der Schriftsteller Paul Auster und sein Buch „Mit Fremden sprechen“
Mit Fremden sprechen: Kleine Schriften aus 50 Jahren von Paul Auster (Foto: imago-images/EvaxTedesjö/DN/TT, Buchcover: Rowohlt Verlag)
Es ist ein bekanntes Diktum, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband bewerten sollte. Doch wer bei Paul Austers neuer Sammlung nach der Coveraufschrift geht und klassische Essays erwartet, wird definitiv etwas anderes vorfinden.
Rezensionen, Vorworte zu Anthologien und Einführungen in Neuausgaben. Der Band enthält gut vier Dutzend kleinerer Beiträge, die im Laufe von Austers mittlerweile fünf Jahrzehnte währender Karriere verstreut erschienen sind. Die als Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten entstandenen Texte gewähren viele kleine Einblicke in Austers Werdegang: vom Rezensenten und Lyriker zu dem Autor postmoderner Fiktion, den wir heute kennen.

Austers Anfänge im New York der 1960er-Jahre

Angefangen hat für den 1947 in New Jersey geborenen Schriftsteller Paul Auster alles im New York der späten 60er und frühen 70er-Jahre. In diese Zeit fallen seine ersten Gehversuche als Lyriker. Im neuen Band finden sich außerdem ein Dissertationskapitel Austers sowie zahlreiche Rezensionen, die für die "New York Review of Books" entstanden sind.
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellen diese ein spannendes Zeitdokument dar. Wir begegnen Auster als Leser der europäischen Moderne und als intellektuellem Erben der historischen Avantgarden. Aus seiner Lesart dieser Texte entwickelt sich Austers Selbstverständnis als Autor.
Mit Austers Augen lesen wir hier Kafka und Baudelaire, Mallarmé und Hamsun, Ungaretti, Ball und Beckett. Neben den historischen Avantgardebewegungen gehören zu Austers literarischer Hausapotheke auch Vertreter der amerikanischen und französischen Nachkriegsliteratur sowie deren existentialistisches Verständnis vom Schreiben.

Becketts Minimalismus, Kafkas Hungerkünstler

Von Momenten der "Raserei" ist in Austers Rezensionen die Rede als dem Zündfunken künstlerischer Betätigung. Von Büchern, die in der Lesart des jungen Kritikers aus der "schieren Notwendigkeit" des Schreibens heraus entstehen. Und vom großen Werk als dem "Resultat eines Kampfes." Immer wieder zieht es Auster dabei in die Lyrik, insbesondere zu den Gedichten Paul Celans:
"Das Schreiben verlangt nach Celans Auffassung vom Autor, dass er persönliche Risiken eingehe. Celan hat nicht bloß geschrieben, um sich auszudrücken, sondern um sich in seinem Leben zu orientieren und seinen Standort in der Welt zu bestimmen, und dieses Gefühl der Notwendigkeit teilt sich auch dem Leser mit. Seine Gedichte sind mehr als literarische Produkte. Sie sind ein Mittel, am Leben zu bleiben."
Für den jungen Auster verschmilzt in seinen Rezensionen die Kunst mit dem Leben. Beispiele wie Kafkas Hungerkünstler oder den hungernden Hamsun im Oslo der Jahrhundertwende liest er genau wie Becketts Minimalismus als Ausdruck einer fundamentalen Einsamkeit am Grunde aller Literatur.

Minimalismus in vier Wänden

Dass dieses Literaturverständnis für ihn auch heute noch gilt, macht der Autor in einer 2006 gehaltenen Dankesrede deutlich, die zu den wenigen jüngeren Texten im Band zählt und ihm zugleich den Titel leiht:
"Ich rede vom Schreiben, insbesondere vom Schreiben als einem Instrument, Geschichten zu erzählen, erfundene Geschichten, die in dem, was wir Realität nennen, nie stattgefunden haben. Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in seinem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf jemals gefunden habe, lautet: Weil man muss, weil man keine Wahl hat."

Paul Auster, ein Vermittler französischer Lyrik

Keine Frage: Mit seinen Rezensionen leistete Auster seinerzeit Pionierarbeit. Viele seiner Autoren entdeckte er für ein breiteres amerikanisches Publikum. In einer von ihm Mitte der 1980er-Jahre herausgegebene Anthologie etwa machte er die moderne französische Lyrik erstmals gesammelt in englischer Übersetzung zugänglich.
Austers Autoren-Blick und sein Zugang über die eigene Schriftstellerbiographie erlauben immer wieder spannende Einblicke in das Entstehen von Texten. Sein Pochen auf dem literarischen Existentialismus dagegen wirkt bisweilen etwas redundant. Auster verliert nämlich kein Wort über Werke, die nicht unter Schweiß und Tränen entstanden sind, etwa die Produkte der Populärkultur, denen auch sein eigenes Schreiben viel verdankt. Das ist umso bemerkenswerter, da Austers durch und durch europäisch-modernes Bild vom Künstler auch im deutlichen Gegensatz zu seinem eigenen Umfeld steht. Das Literaturbusiness im Amerika der Gegenwart wird spätestens seit der Jahrtausendwende von Produkten der universitären Creative-Writing-Programme geflutet. Die Verlagsprogramme dominieren fünf große Verlagshäuser sowie das Kommen-und-Gehen kultureller Trends.

Mythos mit Nachwirkung

Austers Bild vom hungernden jungen Schriftsteller, der wie er selbst in Paris seine Lehrzeit durchmacht, ist ein aus dem 19. Jahrhundert importierter Mythos mit großer Nachwirkung. Das erkennt auch Auster selbst. Und immer wenn er einen Schritt weiter geht und seine Faszination von diesem Bild hinterfragt, wird es in seinen Texten spannend. Denn wie in Austers eigener Fiktion geht es ihm in seinen Lesarten letztlich um die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, und darum, wie sich Sprache und Schreiben zu beiden verhalten. Im frühsten Text der Sammlung, einer Reihe von Syllogismen aus einer Kladde, schließt der gerade einmal 20-jährige Autor in der Manier Wittgensteins:
"Sprache ist nicht Erfahrung. Sie ist ein Mittel, Erfahrung zu ordnen. Was also ist die Erfahrung von Sprache? Sie gibt uns die Welt und nimmt sie uns. In einem Atemzug. Von Sprache entfremdet zu sein ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von Nichts. Du verschwindest."

Philippe Petit und der Autor

Das ultimative Bild für die Gratwanderung der Kunst zwischen Vorstellung und Wirklichkeit sucht Auster außerhalb der Literatur. Fündig wird er dabei in dem französischen Seiltänzer Philippe Petit. Den lernte er während seiner Jahre in Paris kennen, bei einer spektakulären Nacht-und-Nebel-Aktion an der Notre Dame. Jahre später sollte Petit auf einem Hochseil in Austers Heimat New York den Abgrund zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers überwinden. Ein Bild für die Ewigkeit, nicht nur für Auster. Denn im allein für sich tanzenden Hochseilartisten identifiziert Auster letztlich ein Bild für das Leben im Zeichen der Kunst. Ein Leben als Kunst wie es laut Auster in Petit "in denkbar ungeschminkter Form" hervortritt.
Als Sammelsurium solcher und anderer Fundstücke ist Austers Band ein toller Augenöffner, nicht trotz, sondern gerade wegen seiner heterogenen Gestalt. Anders als etwa sein Kollege Jonathan Franzen, dessen gesammelte Essays voriges Jahr erschienen sind, tritt Auster auf der Kurzstrecke in keinerlei nennenswerte Beziehung zum Genre Essay. Das ist aber eigentlich gar keine Schwäche des Buchs. Im Gegenteil. Gerade in ihrer Kleinteiligkeit ist diese Kollektion ein lesenswertes Dokument der US-amerikanischen Modernerezeption. Für die Augen eines amerikanischen Feuilleton-Publikums gedacht legt uns Auster scheinbar vertraute Texte der Moderne immer wieder neu ans Herz. Ungewollt zündet er in seinen Texten über Texte dabei immer wieder auch die Lampe über seiner eigenen Poetik an.
Paul Auster: "Mit Fremden sprechen"
Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren
aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Marion Sattler Charnitzky, Andrea Paluch, Robert Habeck und Alexander Pechmann
Rowohlt Verlag, Hamburg. 416 Seiten, 26 Euro.