Gemessen an den Abenteuern, die der Alltag eines Schriftstellers bietet, verfassen überraschend viele Schriftsteller Autobiografien. Denn was tut ein Schriftsteller? Er schreibt. Und wie aufregend wird das wohl sein? Reinhold Messner bezwingt immerhin Achttausender. Ein solches Leben rechtfertigt gleich mehrere Autobiografien, selbst welche mit Titeln wie "Berge versetzen: Das Credo eines Grenzgängers". Keith Richards ist ein Rolling Stone. Das rechtfertigt sowieso alles. Aber das Dasein eines Schriftstellers?
Ein Schriftsteller muss schon etwas zu erzählen haben, das sich nicht ebenso gut in einen Bildungsroman verpacken ließe oder in ein tief empfundenes Versepos. Blessuren sind ein guter Anfang. Und zwar lieber sichtbare körperliche Blessuren als schwer nachweisbare seelische.
"Das Inventar deiner Narben, insbesondere der in deinem Gesicht, die du jeden Morgen, wenn du dich rasierst oder dir die Haare kämmst, im Badezimmerspiegel sehen kannst. Du denkst selten daran, aber wenn du es tust, begreifst du, es sind Zeichen des Lebens, die verschiedenen in dein Gesicht geschnittenen zerklüfteten Linien sind Buchstaben aus dem geheimen Alphabet, das die Geschichte dessen erzählt, der du bist, denn jede einzelne Narbe ist die Spur einer verheilten Wunde, und jede einzelne Wunde war das Ergebnis einer unerwarteten Kollision mit der Welt."
Paul Auster zählt und erzählt in "Winterjournal" seine Narben. Er benutzt seinen Körper als autobiografische Landkarte und reist damit zurück in seine Kindheit in New Jersey, in die Jahre, die er als Übersetzer und Möchtegernliterat in Paris verbrachte, und von da bis ins Jetzt des etablierten Autors, der in einem prächtigen Backsteinhaus in Brooklyn, New York, auf seinen verschneiten Vorgarten hinausschaut und denkt:
"Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten."
Dreiundsechzigjährig war Paul Auster, als er mit der Arbeit an "Winterjournal" begann. Das Pathos werden ihm Altersgenossen vergeben. Alle übrigen sollten sich in diesem Atlas der Sinneseindrücke mit dem "Du" anfreunden, mit dem Auster darin von sich spricht, als sei sein Ich ein anderer. Von den Füßen ...
"... auf dem kalten Boden, wenn du aus dem Bett steigst ..."
... bis zu ...
" ...deiner bräunlichen Haut, deinem welligen Haar und deinen graugrünen Augen, dein Leben lang ethnisch nicht einzuordnen ..."
Die Du-Form wirkt manieriert, ist jedoch ein gebräuchliches Mittel zur Schaffung von Distanz. In "Joseph Anton" schildert Paul Austers Kollege Salman Rushdie sich und die Zeit, die er auf der Flucht vor islamischen Fundamentalisten im Untergrund verbrachte, als Erlebnisse eines Dritten. Gertrude Stein schrieb ihre Autobiografie komplett im Namen einer anderen, nämlich in dem ihrer Gefährtin und nannte sie auch so, die "Autobiografie von Alice B. Toklas". Aber eigentlich will Paul Auster ja gerade nicht aus seiner Haut:
"Physische Freuden und physische Schmerzen. In erster Linie sexuelle Lust, aber auch die Lust am Essen und Trinken, der Genuss, nackt in einem warmen Bad zu liegen, sich das juckende Fell zu kratzen, zu niesen und zu furzen, eine weitere Stunde im Bett zu verbringen, an einem lauen Nachmittag im Spätfrühling oder Frühsommer das Gesicht in die Sonne zu halten und die Wärme auf deiner Haut zu spüren. Unzählige Beispiele, kein Tag, der nicht den einen oder anderen physischen Genuss bescherte und doch sind Schmerzen zweifellos beharrlicher und hartnäckiger, und im Lauf deines Lebens ist nahezu jeder Teil deines Körpers schon einmal Ziel einer Attacke gewesen."
"Wie viele Morgen bleiben noch?"
Paul Auster geht lose chronologisch vor. Es gibt keine Kapitel, dafür Abschnitte, von denen manche nur einige Zeilen lang sind und sich andere absatzlos über mehrere Seiten hinziehen. Es gibt auch solche, die gar nicht von ihm stammen. Protokolle von Versammlungen etwa, in denen Wohnungsbesitzer über Kakerlaken und einsturzgefährdete Decken diskutieren. Diese Passagen gehören mit zu den amüsantesten des ganzen Buches. Das überrascht vielleicht, aber Paul Auster ist nun einmal ein zutiefst unironischer Autor. Das Leben ist schließlich auch kein Spaß, erst recht nicht, wenn man aufwacht und sich fragt:
"Wie viele Morgen bleiben noch?"
Andererseits fängt man wohl gerade in dem Moment an, das Leben richtig zu genießen, in dem einem die Endlichkeit der noch zu erwartenden Morgen bewusst wird. Und Schriftsteller fangen an, ihre Autobiografien zu schreiben.
Paul Auster hat bereits mehrere autobiografische Bücher veröffentlicht. Mit "Die Erfindung der Einsamkeit" debütierte er. Diese von Essays begleitete Auseinandersetzung mit dem Tod seines Vaters markierte 1982 den Übergang Austers vom hoffnungslosen Dichter zum Prosaautor. Es folgten "Die Kunst des Hungers", "Das rote Notizbuch", "Von der Hand in den Mund", "Die Geschichte meiner Schreibmaschine" und 2010 eine dicke Sammlung autobiografischer Texte, wie sie Schriftsteller publizieren, die zu Ruhm gekommen sind.
Auster ist in den Achtzigerjahren mit den modernen Rätselromanen der New York-Trilogie zum Kultautor avanciert. Seither hat er sich mal von obskurer, mal von verschwatzter Seite gezeigt wie im Zirkusabenteuer "Mr. Vertigo" von 1994 oder 2005 in der Patchworkfamilienromanze "Die Brooklyn Revue". Doch wird Paul Auster besonders in Europa als Kryptopopulist verehrt, dessen Romane immer ein bisschen abgründiger zu sein scheinen, als sie sind, und den Leser sich schöngeistiger fühlen lassen, als er ist.
Paul Auster steht für Geschichten, in denen ein Protagonist, häufig ein Schriftsteller, der sich gerade in einem psychischen und/oder in einem Karrieretief befindet, auf einen mysteriösen Gegenstand oder Menschen stößt, die ihn in noch mysteriösere Gedanken oder Gegenden locken.
In "Das Buch der Illusionen" sind es die Spuren eines verschollenen Stummfilmkomikers. In "Nacht des Orakels" ist es das Universum der Fantasie an sich. Auster hat das Wechselspiel zwischen Erzähler, Erzählen und Erzähltem perfektioniert. Seine gelungensten Werke bewahrt er mit Elementen der klassischen Spannungsliteratur davor, sich in selbstreferenzielle rosa Wölklein aufzulösen.
Weil Paul Auster das Fragezeichen zu seinem Markenzeichen gemacht hat, sind die autobiografischen Schriften für seine Bewunderer von geradezu exegetischer Bedeutung. Wer das Leben eines Schriftstellers als Schlüssel zu seinem Werk betrachtet, wird von Auster üppig bedient. Die Jahre, in denen er am Hungertuch nagte und von einer schöpferischen Niederlage zur nächsten torkelte; die unglückliche erste Ehe; der Sohn aus dieser Ehe, demgegenüber er als Vater versagte: Diese Erfahrungen sollen den Nebel des Verhängnisses erklären, der über so vielen seiner Geschichten hängt. Dann der Blitz, der einen Jungen neben ihm erschlug, als Auster vierzehn war, und ihn für immer von der Allmacht des Zufalls überzeugte.
"Zufälle im Gegensatz zu Notwendigkeiten, die Erkenntnis, dass alles Leben zufällig ist, ausgenommen die einzige Notwendigkeit, dass es früher oder später zu Ende geht."
Die Willkür des Schicksals als Leitmotiv
Die Willkür des Schicksals gehört zu Austers Leitmotiven. "Winterjournal" ist Paul Austers bisher ausführlichste Erkundung der eigenen Vergangenheit. Die Idee, dafür seinen Körper zum Ausgangspunkt zu nehmen, ist originell und einleuchtend zugleich. Auster schließt vom Haus auf seinen Bewohner. Er tut es metaphorisch, indem er seine sterbliche Hülle nach Hinweisen auf das absucht, was im Lauf eines Lebens zu Paul Auster geworden ist. Und er tut es buchstäblich, indem er sämtliche Adressen aufzählt, an denen dieser Paul Auster gelebt hat.
Einundzwanzig Wohnsitze, von:
"1. 75 South Harrison Street, East Orange, New Jersey. Eine Wohnung in einem ziemlich großen Backsteingebäude. Alter: 0 bis 1½. Keine Erinnerungen."
... über ...
"11. 2, rue du Louvre; 1. Arrondissement, Paris. Ein Dienstmädchenzimmer im obersten Stock eines sechsstöckigen Gebäudes unweit der Seine. Alter: 25. Das Zimmer war der kleinste Raum, den du je bewohnt hattest."
... bis ...
"21. Irgendwo in Park Slope, Brooklyn. Ein vierstöckiges Brownstowne-Haus mit einem kleinen Garten, erbaut 1892. Alter: 46 bis heute."
Jede Adresse ein Lebensabschnitt, jedes Zimmer der Brutkasten einer sich entwickelnden Biografie. Er glaube nicht an die Zeit, hat Vladimir Nabokov einmal gesagt. Paul Auster glaubt an den Raum. Wie Nabokov in "Erinnerung, sprich" versichert sich Auster in seiner Autobiografie seiner selbst, nur dass er sich in "Winterjournal" an Dingen orientiert, die noch vorhanden sind, während Nabokov im amerikanischen Exil allein die Sprache blieb, um das Verschwundene zu rekonstruieren. Natürlich existiert auch Paul Austers Erinnerung nur in Worten. In "Winterjournal" ordnet er sie, wie die Adressen, gerne zu Listen:
"Vanilla Fingers und Burry’s Double Dip Chocolate, Fig Newtowns und Mallomars, Oreo und Social Tea Biscuits(), Milky Ways, Three Musketeers, Chunkys, Charleston Chews, York Mints, Junior Mints, Mars, Snickers, Baby Ruths, Milk Duds, Chuckles, Goobers, Dots, Jujubes, Sugar Daddys..."
Das sind Paul Austers frühere Lieblingskekse und Schokoriegel.
"Lammkoteletts, Brathähnchen, Grillhähnchen, Rindfleischeintopf, Schmorbraten, Spaghetti mit Hackklößchen, kurz gebratene Leber und gebratene Fischfilets mit viel Ketchup. Kartoffeln. Maiskolben. Erbsen oder Erbsen und Karotten oder grüne Bohnen oder Rote Bete. Popcorn, Pistazien, Erdnüsse, Marshmallows, stapelweise Cracker mit Traubengelee, Hühnerpastete und Sara Lees Früchtekuchen."
Paul Auster widmet den Menüs seiner Kindheit und Jugend Passagen, wie sie Rabelais, Gargantua und Pantagruel zusammen nicht besser hingekriegt hätten. Ihnen fügt er das Rauchen und Trinken hinzu:
"Je älter du wirst, desto unwahrscheinlicher kommt es dir vor, dass du jemals die Willenskraft oder den Mut aufbringen wirst, deine geliebten Zigarillos und zahlreichen Gläser Wein dranzugeben, die dir in all den Jahren so viel Vergnügen bereitet haben, und manchmal denkst du, wenn du das alles zu diesem späten Zeitpunkt aus deinem Leben streichen solltest, würde dein Körper auseinanderfallen, würde dein Organismus einfach aufhören zu funktionieren. Zweifellos bist du ein beschädigter, ein verwundeter Mensch, ein Mann, der von Anfang an eine Wunde in sich herumgetragen hat (warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte auf Papier zu bluten?), und der Gewinn, den du aus Alkohol und Tabak ziehst, dient dir als Krücke, dein verkrüppeltes Ich aufrecht zu halten und durch die Welt zu tragen."
Ein genussfreudiger Schwerenöter
In "Winterjournal" erweist sich Paul Auster als genussfreudiger Schwerenöter, der von den bunten Geleebonbons direkt zur Fischgräte findet, an der er 1971 beinahe erstickte. Da sind gebrochene Knochen, Blutgerinnsel, Panikattacken, und da ist der Autounfall, in dem er sich und seine Familie 2002 fast umbrachte. Inzwischen fährt Paul Auster nicht mehr Auto.
Es liegt in der Natur von Autobiografien, dass der Tod darin eine zentrale Rolle spielt. Eine Autobiografie schreibt, wer ums Ende weiß. Der Tod, der Paul Auster in "Winterjournal" neben dem eigenen und dem Tod im Allgemeinen beschäftigt, ist der seiner Mutter. Er berichtet vom Leben der Frau, die in der kleinbürgerlichen Umgebung seiner Kindheit den Glamour eines Filmstars hatte. Er schildert die Enttäuschungen, die sie zeichneten, die Apathie, in die sie versank, und was ihn am Schluss am traurigsten stimmt:
"Du warst bestimmt nicht der erste Sohn auf der Welt, der sich in dieser Lage wiederfand, aber das machte es kein bisschen weniger ungewohnt oder unangenehm: Für den Menschen zu sorgen, der einmal für dich gesorgt hatte, jenen Punkt im Leben erreicht zu haben, an dem die Rollen vertauscht wurden, wo du jetzt die Rolle des Vaters übernahmst, während sie sich in die Rolle des hilflosen Kindes zu fügen hatte."
Dieser Rollentausch ist keine ungewöhnliche Erfahrung, wie Paul Auster selber einräumt. Und doch berührt dieses Bemühen eines Sohnes, sich schreibend seiner Mutter zu nähern, zumal Auster Larmoyanz dabei weitgehend vermeidet. Vor Thanatos kommt Eros, vor dem Krepieren das Kopulieren. Sex enthalten die meisten Autobiografien, und die meisten Autobiografien enthalten in diesem Zusammenhang eine Menge Klischees. "Winterjournal" bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Der Feuerwehrmann zwischen den Beinen, mit dem Auster bald nordamerikanischen Masturbationsrekord bricht, seine peinliche Initiation in einem Hinterzimmer an der Upper West Side, um sich später in Pariser Bordellen in sämtlichen Stellungen des Kamasutra zu üben:
"Leider kannst du dich jetzt nur noch an eine erinnern, wahrscheinlich die reizloseste, aber auch die komischste, eben weil sie so reizlos ist: le paresseux, das Faultier, wobei Mann und Frau einander zugewandt, einfach auf der Seite liegen."
Derartige Eskapaden und damit auch die Ausführungen zu dem Thema nehmen am Abend nach einer Lesung an der Upper East Side ein Ende, als Auster seine zweite Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt kennenlernt:
"Am 23. Februar 1981, zwanzig Tage nach deinem vierunddreißigsten Geburtstag, nur vier Tage nach ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag, bist du ihr begegnet, wurdest du der Einen vorgestellt, der Frau, die seit jenem Abend vor dreißig Jahren an deiner Seite ist, deine Frau, die große Liebe, die dich aus dem Hinterhalt überfiel, als du am wenigsten damit gerechnet hattest."
In "Winterjournal" erscheint Siri Hustvedt als Lichtgestalt, die als Einzige die ewige Trübnis des Diesseits zu erhellen vermag. Gesegnet sei dieses Eheglück.
Paul Auster ist selten nostalgisch:
"Mit der guten alten Zeit kannst du nichts anfangen."
Ein klein wenig Nostalgie
Gleichwohl sehnt er sich manche Dinge aus der alten Zeit zurück:
"Das Klingeln der alten Telefone, das Klappern von Schreibmaschinen, Milch in Flaschen, Baseball ohne designated hitters, Vinylplatten, Galoschen, Strapse, Schwarz-Weiß-Filme, Schwergewichtschampions, die Brooklyn Dodgers und die New York Giants, Taschenbücher für fünfunddreißig Cent, die politische Linke, jüdische Restaurants, in denen es nur Milcherzeugnisse gibt, Doppelvorstellungen, Basketball vor dem Dreier, Kinopaläste, nicht digitale Kameras, Toaster, die dreißig Jahre lang hielten, Geringschätzung für Autoritäten, Nash Ramblers und Kombis mit Holztäfelung."
Eine Autobiografie kann dazu dienen, sich selber und anderen, und auch Dingen ein Denkmal zu setzen, seien es Strapse und die politische Linken. Eine Autobiografie erfüllt überhaupt verschiedene Funktionen für verschiedene Leute. Es gibt den Leser, und es gibt den Autor. Der Leser tritt mit einem gewissen voyeuristischen Bedürfnis an eine Autobiografie heran. Bei Bling-Bling-Prominenz genügen ein paar saftige Fakten, um ihn zu befriedigen. Bei Geistesmenschen muss es mehr sein. Von ihnen verspricht man sich Erkenntnisse, die über die mehr oder weniger vergnügliche Darstellung von Ereignissen hinausgehen.
Der Autor kann die Autobiografie als Gelegenheit zur Selbstrechtfertigung betrachten oder als solche zur Selbstanklage. Oder er rechnet darin mit anderen ab. Eine Autobiografie kann für ihn eine nachträgliche Sinnsuche sein, die Summe von Einsichten, aus denen sich etwas über das Leben an sich ableiten lässt. Gelingt ihm Letzteres, erhält auch der Leser, was er sich von der Autobiografie eines Menschen, der seine Tage mit Denken und Schreiben verbringt, erhoffen darf.
Paul Auster schont sich nicht, was seine Schwächen betrifft. Seine Ungeduld, seine Anfälle von Selbstmitleid. "Winterjournal" ist aber auch kein Mea Culpa. Worüber Auster nicht schreiben will, schweigt er. Über den Sohn aus seiner ersten Ehe zum Beispiel, den er von einem bestimmten Punkt an einfach nicht mehr erwähnt. Und weshalb auch? Für den Klatsch werden andere sorgen. Schade ist, dass Auster beim Persönlich-Anekdotenhaften bleibt. "Winterjournal" ist Varieté, nicht "Sein oder Nichtsein". An einer besonders bedeutungsschwangeren Stelle zitiert Auster John Keats:
"Die warme Hand, die noch voll Leben ist/Und zupackt mit Begier, die würde dich,/Läg sie erstarrt in eisig stummer Gruft,/So jagen tags und so durchkälten nachts,/Dass du dein eigen Herzblut gäbst für sie,/Damit es rot durch meine Adern rausch/Und dir wär wieder leicht zumut – hier, schau:/Ich halte sie dir hin!"
Das Zitat führt ihn zu einem Geschichtlein über James Joyce und eine Dame, die ihn ehrfurchtsvoll gefragt haben soll, ob sie die Hand schütteln dürfe, die "Ulysses" geschrieben habe.
"Statt ihr seine rechte Hand anzubieten, hebt Joyce sie leicht an, betrachtet sie ein wenig und sagt: 'Ich möchte Sie daran erinnern, Madam, dass diese Hand noch viele andere Dinge getan hat'."
Mit derlei Geplauder hält man Dinnerpartys in Gang. "Winterjournal" ist Smalltalk, keine Existenzanalyse. Und um bei James Joyce zu bleiben: "Winterjournal" ist auch nicht "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann". Dafür sind die Episoden über die das werdende Selbstverständnis des Schriftstellers Paul Auster zu dürftig.
"Niesen und lachen, gähnen und weinen, rülpsen und husten, dich am Ohr kratzen, dir die Augen reiben, die Nase putzen, dich räuspern, an den Lippen knabbern, mit der Zunge an den unteren Scheidezähnen entlangstreichen - wie oft hast du das alles getan? Wie oft die Zehen gestoßen, die Finger gequetscht und den Kopf angeschlagen? Wie viele Schritte hast Du getan? Wie viele Stunden mit einem Stift in der Hand verbracht? Wie viele Küsse gegeben und bekommen?
Eine andere Frage: Wer will das unbedingt wissen? In "Winterjournal" tritt Paul Auster als Conférencier seiner eigenen Nabelschau auf, elegant wie üblich, meistens unterhaltsam und mit Make-up, das einmal mehr ein bisschen zu dick aufgetragen ist.
Paul Auster: Winterjournal Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 256 Seiten. 19.95 Euro.