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Paul Widmer
Basislektüre für angehende Diplomaten

Vom alltäglichen Geschäft der Diplomaten wissen wir wenig. Gerade in Krisenzeiten findet es meist hinter verschlossenen Türen statt. Einblicke in die Arbeit des Berufsstandes gibt jetzt der Schweizer Paul Widmer, selbst ein erfahrener Gesandter.

Von Paul Stänner |
    Ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer wirft am 17.05.2013 in Berlin einen Schatten auf das Kopfsteinpflaster.
    Weltweit sind Diplomaten für ihre Länder aktiv, um Konflikte zu entschärfen. (Ole Spata / dpa)
    Die Ukraine, der Nahe Osten, die Länder der Arabellion, die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Zeiten der NSA-Affäre - überall sind Diplomaten für ihre Länder aktiv, um Konflikte zu entschärfen. In oftmals quälend lang andauernden Verhandlungen.
    "Wer möchte schon ein Drittel oder mehr seines Berufslebens mit Verhandlungen verbringen, die kein greifbares Resultat erzeugen? Die Gefahr, dass Diplomaten in solchen Lagen einem fatalen Zynismus verfallen, ist groß. Unter multilateralen Diplomaten findet man besonders viele Zyniker."
    Das sagt, am Ende seines Berufslebens, Paul Widmer. Widmer, Bauernsohn und gelernter Historiker, begann 1977 seine Laufbahn im diplomatischen Dienst der Schweiz. Er hatte in Zürich, Köln und Bielefeld Geschichte studiert, von einer akademischen Karriere aber Abstand genommen, weil er sich von den gnadenlosen Konkurrenzkämpfen vor allem an der Uni Bielefeld abgestoßen fühlte - lieber ging er in das zivilisierte Feld der zwischenstaatlichen Interessenkonflikte.
    Von 1992 bis 1999 vertrat er die Schweiz in Berlin, schrieb auch gleich, weil er gern schreibt, ein Buch über die besondere Lage der Berliner Gesandtschaft und übergab sie dann an Thomas Borer.
    Der Nachfolger dient Widmer in dem jetzt veröffentlichten Buch gleich als Beispiel. Wenig glücklich für Borer heißt das Kapitel Bescheidenheit. Leser sehr bunter Zeitungen mögen sich erinnern, dass Thomas Borer ein stets breit lachender Hansdampf war in allen nicht so wichtigen Gassen der Bundeshauptstadt. Der Boulevard liebte ihn, die politische Berichterstattung und vor allem die Politik selbst hatten ihre Probleme mit dem Botschafter, denn - so Widmer:
    "... die seriöse Arbeit, die er auch geleistet hat, ging in diesem Rummel fast unter. Deshalb kann man die entscheidende Frage, ob das flamboyante Intermezzo das Vertrauensverhältnis in den offiziellen deutsch-schweizerischen Beziehungen gestärkt hat, kaum bejahen. Letztlich ist Thomas Borer über seine eigene Eitelkeit gestürzt."
    Ganz letztlich - muss man ergänzen - ist Borer über eine fingierte Prostituiertenaffäre gestürzt, aber angreifbar hat er sich selbst gemacht.
    Basislektüre für angehende Diplomaten
    Widmers Buch ist eine Basislektüre für alle, die sich mit dem Gedanken tragen, in den diplomatischen Dienst zu treten oder auch nur sich eine Vorstellung von dessen Tätigkeit zu verschaffen. Von der Herkunft des Wortes "Diplomat" über die Anfänge des Gewerbes bei den antiken Griechen durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart - alles ist da. Widmer gibt einen Überblick über eine Unzahl internationaler Institutionen und ihrer Aufgaben und eventuell auch ihrer Rechtsverfassung. Er gibt Informationen über den Dresscode zu wechselnden Gelegenheiten und auch über die üble Nachrede:
    "'Ein Botschafter ist ein ehrlicher Mann, der ins Ausland geschickt wird, um für sein Land zu lügen', schrieb Sir Henry Wotton im Jahr 1604 in ein Gästebuch."
    Wotton bekam gewaltig Ärger für seine freimütigen Äußerungen und fiel in Ungnade. Später wurde er wieder aus der Versenkung geholt und gab nun die Empfehlung:
    "Sag immer die Wahrheit, man glaubt dir doch nicht. Aber so dienst du deinem Land gut und begibst dich nicht in Gefahr."
    Otto von Bismarck, fügt der Autor hinzu, soll dieser Rat immer besonders gut gefallen haben. In einem Abriss über die jüngere Vergangenheit skizziert Widmer, wie sich die Aufgaben des Diplomaten verändert haben:
    "Nach dem Ende des Kalten Krieges weitete sich die "Friedensdiplomatie" stark aus. Insgesamt fand eine Transformation statt, die sich dreifach von der früheren Phase abhebt:
    - Erstens hat sich die Natur der Konflikte gewandelt. Statt um zwischenstaatliche Streitigkeiten handelt es sich nun meistens um innerstaatliche gewalttätige Auseinandersetzungen.
    - Zweitens hat die Anzahl der Drittparteien massiv zugenommen. Statt einiger weniger Staaten und der UNO fühlen sich nun viele Staaten und internationale oder regionale Organisationen berufen, Dienstleistungen zur Friedensförderung anzubieten.
    - Drittens hat sich das Angebot an Dienstleistungen ausgeweitet."
    Voraussetzungen für einen Diplomaten
    Nämlich durch Überwachung von Volkszählungen, Wahlen oder Ausarbeitungen von Verfassungen - anhand einer längeren Liste macht Widmer klar, dass Diplomatie ein weites Feld ist und am Unterton, dass ihm die moderne Vielfalt nicht unbedingt behagt. Widmer beschäftigt sich ausführlich mit den Voraussetzungen für einen Diplomaten. Ein Kapitel widmet sich dem Charakter, den man mitbringen muss. Ein Kapitel beschreibt die Rolle der oder des mitreisenden Partners. Ein weiteres handelt von der intellektuellen Genauigkeit beim Abfassen von Lageberichten, mit denen die Zentrale versorgt werden muss. Er gibt handwerkliche Tipps, etwa, dass man durchaus seinem Gesprächspartner in der Regierung, zu der man entsandt wurde, die eigene Dialogzusammenfassung zum Gegenlesen geben sollte, um eventuelle Ungenauigkeiten zu vermeiden:
    "Niemand geht etwas von der Ehre ab, wenn man kleine Schwächen eingesteht, aber dadurch auch beweist, wie ernst man eine Angelegenheit nimmt."
    Manchmal schwingt ein geradezu väterlicher Unterton mit. Widmer scheint um die Zukunft seines Berufs und um den Nachwuchs besorgt. Und weil ihm als Historiker und als Lehrbeauftragter für Internationale Beziehungen der Universität St. Gallen die intellektuelle Redlichkeit wichtig ist, scheut er sich auch nicht, seiner ehemaligen Außenministerin Calmy-Rey grobe und schädliche Fehler vorzuhalten. Für die Zukunft sieht er eine Zunahme der E-Diplomacy, in der die Botschaften an der elektronisch kurzen Leine geführt oder auch ermuntert werden, auf Facebook und Twitter aufzutreten. Das allerdings ist dann auch der Punkt, an dem Widmer eine Entwicklung in die Breite statt in die Tiefe sieht - der Diplomat wird mehr Eventmanager und weniger ein politischer Beobachter und Akteur.
    Die Studenten in St. Gallen und auch die in Bielefeld bekommen mit diesem Buch einen kompletten Handapparat geliefert, erfahrungsreich, kenntnisreich und unterhaltsam geschrieben. Nicht-Studenten werden es ebenfalls schätzen.
    Paul Widmer: Diplomatie. Ein Handbuch
    Verlag NZZ Libro, 496 Seiten, 50 Euro
    ISBN: 978-3-038-23881-2