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Konfliktregion Pazifik
Japans neue Sicherheitspolitik

Japans Regierung beendet seine ausschließlich auf Verteidigung ausgerichtete Sicherheitspolitik. Auslöser sind Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch Chinas Besitzansprüche auf Inseln im Ostchinesischen Meer und Drohungen gegen Taiwan.

Von Martin Fritz |
Ein 4.550 Tonnen schwerer Zerstörer der japanischen Selbstverteidigungskräfte.
Japan will die Obergrenze für das Verteidigungsbudget von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes seit Ende der 1970er Jahre bis 2027 nunmehr verdoppeln. Das entspräche rund 80 Milliarden Euro. (pa/Kyodo)
"Herr Premierminister, es freut mich sehr, Sie wiederzusehen. Wir treffen uns zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt in unserem Leben…", so US-Präsident Joe Biden in einem offiziellen Video, als er vor gut einer Woche Japans Regierungschef Fumio Kishida begrüßte - mit einem Handschlag vor dem Weißen Haus in Washington. Auf der Agenda stand die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsallianz beider Länder. Am Kamin kam Biden gleich zur Sache:
„Ich kann nur sagen, dass ich nicht glaube, dass es jemals eine Zeit gab, in der wir uns näher waren. Die Vereinigten Staaten stehen voll und ganz hinter dem Bündnis. Und wir bauen es aus, um Putin zur Rechenschaft zu ziehen, für seinen Krieg in der Ukraine."

Japan reagiert auf dramatisch veränderte Sicherheitspolitik

Premierminister Kishida nutzte seinen Antrittsbesuch in Washington seinerseits dafür, sich die Unterstützung Bidens für Japans neue, dramatisch veränderte Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu sichern. Dramatisch deshalb, weil sich Japan seit dem zweiten Weltkrieg explizit dem Pazifismus verschrieben hatte und diesem Grundsatz in seiner Außen- und Sicherheitspolitik treu geblieben war.
„Japan und die Vereinigten Staaten stehen derzeit vor den größten Herausforderungen und vor der komplexesten Sicherheitslage der jüngeren Geschichte. Daher haben wir eine neue nationale Sicherheitsstrategie formuliert. Japan hat dabei beschlossen, seine Verteidigungskapazitäten grundlegend zu verstärken, einschließlich der Fähigkeit zum Gegenschlag - und um das möglich zu machen, seinen Verteidigungshaushalt zu erhöhen.“
January 13, 2023, Washington, DC, United States of America: U.S President Joe Biden walks with Japanese Prime Minister Fumio Kishida, left, down the West Colonnade on the way to the Oval Office of the White House, January 13, 2023 in Washington, D.C. (Credit Image: é Adam Schultz/White House/Planet Pix via ZUMA Press Wire
Japans Premierminister Fumio Kishida zu Besuch bei US-Präsident Joe Biden in Washington. Dort sicherte er sich die Unterstützung für Japans neue Sicherheits- und Verteidigungspolitik. (pa/ZUMAPRESS.com/Adam Schultz)

Offensivwaffen, Munitionsvorräte, Vorbereitung auf Cyberkrieg

Mit dem Kabinettsbeschluss vom 16. Dezember hat Kishida ein umfassendes Paket geschnürt: Japan verdoppelt den Wehretat, kauft erstmals Offensivwaffen, legt Munitionsvorräte an und bereitet sich auf einen Cyberkrieg vor. Gleichzeitig vernetzt sich Japan militärisch mit neuen Partnern – mit Australien, Großbritannien, auch mit Deutschland. Alexandra Sakaki von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin bewertet die neuen Maßnahmen als Kurswechsel, als eine grundsätzliche Änderung der Einstellung Japans zu seiner Sicherheit und Verteidigung.
„Man hat sich sehr gerne auf die USA als den wichtigen Bündnispartner verlassen. Und das, was ich in den neuen Strategiedokumenten vor allen Dingen sehe, ist eben, dass Japan mehr Bereitschaft zeigt, aktiv selbst tätig zu werden, um die Sicherheit zu gewährleisten.“

Nach dem Krieg beschränkt auf Selbstverteidigungstruppen

Rückblende: Im Jahr 1960 schlossen Japan und die USA einen Vertrag über ein gemeinsames Sicherheitsbündnis. Im Kern ist der Vertrag ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs im Pazifik, so wie das westliche NATO-Bündnis ein Ergebnis des Krieges in Europa war. Und so wie Deutschland von den Alliierten besetzt wurde, besetzten die USA auch Japan, ihren erbitterten Kriegsgegner im Pazifik. Sie wollten damit sicherstellen, dass Faschismus und Militarismus nie wieder zurückkehren. Daher verbietet die neue Verfassung, die in den USA geschrieben wurde, dass Japan Krieg führt. Der Politologe Pascal Lottaz von der Waseda-Universität in Tokio beschreibt die Vorgänge von damals in einem Video-Interview.
„Die Amerikaner haben den Militarismus in Japan wirklich im Kern ausradiert. Und dann haben die japanischen Politiker gesagt: ‚Ja, aber wie verteidigen wir uns? Wir brauchen eine Verteidigung.‘ Und das haben die Amerikaner verstanden. Und da hat man gesagt: ‚Okay, ihr dürft Selbstverteidigungstruppen haben!‘ Die haben sie noch heute. Und dann gab es diesen großen Deal, dass Japan gesagt hat: ‚Okay, wir sind einverstanden, dass ihr eure Truppen bei uns stationiert, im Gegenzug dafür, dass ihr für unsere Sicherheit verantwortlich seid!‘ Man hat diesen Deal gemacht, und er hat wunderbar funktioniert.“

Streitkräfte nicht als außenpolitisches Machtinstrument eingesetzt

‚Pazifismus‘ verstand Japan dabei nicht als eine Form von Neutralität. ‚Pazifismus‘ bedeutete nur, dass Japan die eigenen, durchaus hochgerüsteten Streitkräfte nicht als außenpolitisches Machtinstrument einsetzte – sie lediglich zur Abschreckung bereithielt. Das hebt der Politologe Sebastian Maslow, der an der Shirayuri Frauenuniversität in Sendai lehrt, hervor.
„Japan wird öffentlich, international, als pazifistischer Staat, als Friedensstaat, immer wieder dargestellt. Das ist so ein bisschen fehlleitend. Sicherlich, Japan, in den Jahren des Kalten Krieges bis heute eigentlich, ist in seiner außenpolitischen Grundausrichtung pazifistisch. Pazifistisch aber nur deshalb, weil man sich eben nicht aktiv darum bemüht hat, seine starken Verteidigungskapazitäten einzusetzen.“

Japan als „Schild“, die USA als "Schwert"

Im Militärbündnis mit den USA bedeutete Pazifismus ganz konkret: Japan übernahm die defensive Rolle, vor allem, weil man die Verfassung so interpretierte, dass sie nur Notwehr gegen einen Angriff erlaubt. Zunächst benutzte man daher für Japan das Bild eines Igels, der sich einrollt und den Feind nur durch seine Stacheln abwehrt. Inzwischen sieht sich Japan als „Schild“, der einen Angriff abwehrt, während die USA „Speer“ oder „Schwert“ sind, also den Gegner angreifen, auch auf dessen eigenem Gebiet. Diese Rollenverteilung werde jetzt mit der neuen Ausrichtung komplizierter, analysiert die deutsche Sicherheitsexpertin Sakaki.
„In der Tat war es so, dass die Rollenverteilung im US-Bündnis mit Japan so war, dass Japan die Verteidigung, den Schild, gespielt hat im Bündnis und die USA die Speerfunktion übernommen haben, also Offensivfähigkeiten vorgehalten haben. Diese Aufteilung verliert so ein bisschen an Klarheit, damit, dass Japan Offensivfähigkeiten sich anschafft. Damit macht sich Japan auch zu einem wichtigeren Bündnispartner für die USA.“

Reaktion auf Nordkorea und China

Mit seiner geänderten Strategie reagiert Japan nach eigenen Angaben auf die Atom- und Raketenrüstung von Nordkorea, vor allem aber auf China. Japan beschreibt das militärische Auftreten Chinas in Ostasien als seine, Zitat: „größte strategische Herausforderung“. Gemeint sind zum einen die maritimen Besitzansprüche Chinas unter anderem auf Inseln im Ostchinesischen Meer, die Japan als sein eigenes Territorium betrachtet. Zum anderen geht es dabei um Chinas Drohungen gegen Taiwan, den unmittelbaren südlichen Nachbarn von Japan – das auf seine Unabhängigkeit pocht, von China jedoch als abtrünnige Provinz betrachtet wird. Im Umgang mit China will Kishida sowohl auf Abschreckung als auch auf Kooperation setzen. Der Premierminister bei einer Grundsatzrede an der John-Hopkins-Universität in Washington:
„Wir müssen dafür sorgen, dass China sich an die geltenden internationalen Regeln hält. Sicher ist das ein langfristiges Unterfangen, doch wir sollten dabei niemals akzeptieren, wenn versucht wird, den Status quo einseitig mit Gewalt zu verändern. Wir sollten daher unsere Abschreckung verstärken. Gleichzeitig aber hoffen wir, dass wir in gemeinsamen Fragen zusammenarbeiten können, um unsere Beziehungen auf friedliche Weise zu gestalten.“

Auslöser: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine

Der eigentliche Auslöser für Japans neue Weichenstellung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die internationale Gemeinschaft stehe an einem Wendepunkt, erklärte Kishida in seiner Rede.
„Der Einmarsch Russlands in die Ukraine markierte das Ende der Ära nach dem Kalten Krieg. Er zeigte, dass Globalisierung und Interdependenz allein keinen Frieden und internationalen Fortschritt garantieren können. Als ich den Einmarsch miterlebte, wurde mir klar, dass dies ein Ereignis ist, das die Geschichte verändert, und dass es für Japan ein Moment der Wahrheit war. Wenn wir zulassen, dass das russische Vorgehen einseitig den Status quo verändert, wird dies auch in anderen Teilen der Welt, einschließlich Asien, geschehen. Japan muss handeln, um Freiheit und Demokratie zu schützen."

USA drängen Japan zu einer aktiveren Rolle in der Sicherheitspolitik

Über Japans neue Politik freuen sich besonders die Vereinigten Staaten. Anders als ursprünglich vertraglich festgelegt, drängen sie Japan seit vielen Jahren dazu, eine aktivere Rolle in der Sicherheitspolitik in Ostasien zu übernehmen und mehr Lasten im Bündnis zu schultern – bislang aber ohne viel Erfolg. Deswegen auch bezeichnete Christopher Johnstone die plötzliche Neuaufstellung Japans als „historisch“ – Christopher Johnstone, Japan-Chef am US-Zentrum für strategische und internationale Studien, bei einem Webinar:
 „Als jemand, der seit langem mit dem amerikanisch-japanischen Bündnis zu tun hat, ist es selten, dass man das Wort ‚beispiellos‘ verwenden kann, um etwas zu beschreiben, das Japan angekündigt hat. Und offen gesagt, hätte ich in all den Jahren, in denen ich im Pentagon und im Weißen Haus an dieser Allianz gearbeitet habe, nie gedacht, dass eine solche Veränderung, wie sie jetzt angekündigt wurde, möglich ist.“

Verdoppelung der Rüstungsausgaben bis 2027

Als Beispiel nannte Johnstone die Obergrenze für das Verteidigungsbudget von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die seit Ende der 1970er Jahre galt. Diese Grenze will die Regierung in Tokio nun bis 2027 nach dem Vorbild der NATO-Länder auf zwei Prozent verdoppeln. Nach heutigem Stand und Wechselkurs entsprechen diese zwei Prozent dann rund 80 Milliarden Euro.
„Wenn diese Politik umgesetzt wird, wird sie Japans Verteidigungshaltung und das Verteidigungsbündnis mit den USA grundlegend verändern. Und ich denke, man kann das Vorhaben durchaus als normbrechend bezeichnen.“
January 11, 2023, Washington, DC: Japanese Defense Minister Yasukazu Hamada, Japanese Foreign Minister Yoshimasa Hayashi, US Secretary of State Tony Blinken, and US Secretary of Defense Lloyd Austin.
Japans Verteidungsminister Hamada, Außenminister Hayashi, US-Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin wollen die US-Truppenpräsenz auf der Insel Okinawa anpassen - angesichts des wachsenden Machtstrebens Chinas soll im Süden Japas eine Art schnelle Eingreiftruppe entstehen. (pa/ZUMAPRESS.com/Freddie Everett/Us State)

Japan stünde weltweit an 3. Stelle bei den Verteidigungsausgaben

Tatsächlich würde Japan bei der Umsetzung seines Vorhabens weltweit an dritter Stelle stehen, was die Verteidigungsausgaben angeht - nach den USA und China. Mit einem großen Teil des zusätzlichen Geldes will die Regierung in Tokio neue Waffen für eine sogenannte „Gegenschlagsfähigkeit“ anschaffen, also die Fähigkeit, gegnerische Raketenbasen auf deren eigenem Territorium bereits vor einem Angriff auszuschalten. In der Vergangenheit hatte Japan mit Verweis auf Pazifismus und Verfassung auf solche Waffen ausdrücklich verzichtet. Deswegen beeilte sich die Regierung auch, zu versichern, dass diese neuen Waffen nur der Verteidigung dienen sollen. Satoru Mori, Sicherheitsexperte an der Keio-Universität in Tokio, zitierte bei dem Webinar aus der nationalen Sicherheitsstrategie.
„Die Regierung hätte beschließen können, diese Fähigkeit in dem Dokument ganz kurz zu erwähnen. Aber die entsprechende Passage im Dokument ist überraschend lang, und es gibt einen Satz, der lautet, ich zitiere: ‚Es ist unnötig zu sagen, dass Präventivschläge, nämlich zuerst zuzuschlagen, wenn noch kein bewaffneter Angriff stattgefunden hat, weiterhin unzulässig sind‘. Zitat Ende. Dies ist vielleicht eine Möglichkeit für die japanische Regierung, die Öffentlichkeit zu beruhigen, dass es sich nicht um eine Präventivschlagfähigkeit handelt.“

Seit Abe kann Japan US-Kriegseinsätze unterstützen

Präventivschläge also, die laut Verfassung nicht erlaubt sind. Gegenschläge aber, die erlaubt sein sollen - dabei ebenfalls einen gegnerischen Angriff vorwegnehmen.
Eine Argumentation, die nicht aus heiterem Himmel kommt. Japan hat sich bereits im vergangenen Jahrzehnt schrittweise von seinem alten Verständnis von Pazifismus entfernt. Zunächst sprach man von „proaktivem Pazifismus“. Der damalige Premier Shinzo Abe lockerte das Verbot von Waffenexporten, und er war es auch, der auf eine Neuinterpretation der Verfassung drängte. Dann führte Abe das Konzept einer „kollektiven Verteidigung“ ein. Seitdem könnte Japan US-Kriegseinsätze, die Japans Sicherheit dienen, unterstützen. Mit der jüngsten neuen Weichenstellung verschafft sich Japan jetzt die Waffen für Angriffe, bevor der Gegner den ersten Schuss abgibt. Linke Intellektuelle wie der Ökonom Shinjiro Hagiwara halten genau das für „gefährlich“, sehen darin den alten Militarismus:
„In den drei neuen Sicherheitsdokumenten steht zwar immer noch das Wort ‚ausschließliche Verteidigungsorientierung', aber ich halte es für sehr heuchlerisch. Vordergründig heißt es, Japan werde seine Verteidigungsorientierung beibehalten, aber in Wirklichkeit wird darüber nachgedacht, wie man die Initiative ergreifen kann, um die Militärbasen anderer Länder anzugreifen. Japan hat nicht aus seiner Geschichte gelernt."

Kishida bekommt in der Öffentlichkeit viel Unterstützung

Japans Premierminister Kishida nutzt bei der Umsetzung seiner Strategie auch einen Meinungsumschwung in der Gesellschaft. Denn: Unter dem Eindruck von Russlands Angriff auf die Ukraine und Chinas Militärmanövern um Taiwan hat die traditionell solide Unterstützung für den alten Pazifismus nachgelassen. Umfragen zufolge billigt eine Mehrheit der Japaner die Steigerung des Wehrbudgets. Kishida bekommt in der Öffentlichkeit demnach viel Unterstützung, eine Ablehnung hält sich dagegen in Grenzen. So nahmen an einer Demonstration vor dem Parlament im Dezember überwiegend ältere Japanerinnen und Japaner teil. Als Konsequenz aus dem verlorenen Zweiten Weltkrieg lehnt diese Bevölkerungsgruppe eine Aufrüstung stärker ab als die Generationen danach.
„Japan hat einmal einen Angriffskrieg gegen China geführt, und viele Chinesen wurden getötet. Auch viele Japaner starben. Wir können nicht zulassen, dass künftige Generationen diesen Weg, der falsch ist, erneut beschreiten."
(140630) -- TOKYO, June 30, 2014 () -- People attend a rally to protest against the attempt to exercise the rights to collective self-defense in front of the Prime Minister's official residence in Tokyo, Japan, June 30, 2014. Thousands of Japanese people gathered here Monday, protesting against Japanese Prime Minister Shinzo Abe's attempt to allow Japan's Self-Defense Forces (SDF) to exercise the rights to collective self-defense. The Japanese government sought to get a green light from the Cabinet on July 1 for a resolution that will allow Japan to exercise collective self-defense rights through reinterpreting the country's pacifist Constitution. (/Liu Tian) (dzl)
Proteste gegen die Abkehr vom Pazifismus gibt es in Japan seit Jahren - es ist eine Minderheit. (pa/Photoshot)

Kritik an fehlender Debatte über neue Verteidigungsstrategie

Auch Medien üben vereinzelt Kritik. So die liberale Zeitung Asahi. Sie kritisiert, dass Premierminister Kishida vorab keine Debatte über die neue Strategie im eigenen Land geführt, sondern sie gleich US-Präsident Biden vorgestellt habe. Die linke Opposition denkt ähnlich, hinterfragt den politischen Prozess - zum Beispiel Mizuho Fukushima, die Vorsitzende der kleinen Sozialdemokratischen Partei.
"Die Regierung hat große Änderungen an wichtigen sicherheitspolitischen Maßnahmen vorgenommen – ohne dass vorher der Nationale Sicherheitsrat getagt hätte und ohne jegliche Diskussion im Parlament. Es ist völlig falsch, dass die Regierung auf diese Weise Kabinettsbeschlüsse fasst."

Unzufriedenheit über Sicherheitsdoktrin in der Koalition

Unzufriedenheit gibt es auch in der Regierungskoalition selbst. Die buddhistische Komei-Partei, der langjährige, wenn auch kleine Koalitionspartner von Kishidas Liberaldemokraten, vertritt den traditionellen Pazifismus. Die neue Sicherheitsdoktrin habe bei der Einführung des Begriffs ‚Gegenschlagsfähigkeit‘ auf die Komei-Partei Rücksicht genommen – davon ist die Politologin Misato Matsuoka überzeugt. Sie lehrt an der Teikyo Universität in Tokio:
„Es ist wirklich schwer, zwischen einem Präventivschlag und einem Gegenschlag zu unterscheiden. Aber die Regierungspartei nahm damit auf ihren Koalitionspartner Rücksicht, die Komei-Partei. Vorher war immer von ‚gegnerischen Basen‘ die Rede, was wie ‚vorbeugender Schlag‘ klingt. Also wurde es umbenannt, in ‚Gegenschlagskapazität‘.“

Verfassungsänderung aus Sicht der Konservativen nötig

Ein Herumlavieren, ein Basteln an Begrifflichkeiten also – um eine Änderung der Verfassung und die Debatte darum zu vermeiden. Nach seiner Amtsübernahme im Oktober 2021 hatte Kishida seiner Liberaldemokratischen Partei zwar versprochen, die Verfassungsreform, ein Lieblingsprojekt seines Vorgängers Shinzo Abe, anzupacken. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament besitzt der Premier auch. Doch seitdem sind seine Popularitätswerte so stark gesunken, dass er darüber nicht mehr spricht. Das Thema bleibt aber nach Ansicht des Politologen Maslow auf der Tagesordnung.
„Also aus konservativer Perspektive ist das Ziel einer grundlegenden Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik die Veränderung der Verfassung. Dass sich an diesem Text nichts geändert hat, das heißt, die Verfassungsrealität ist immer noch dieselbe. Und in diesem Spannungsverhältnis bewegen wir uns immer noch. Das Ideal, was in der Verfassung steht, eines Pazifismus, existiert. Und in diesem Kontext definiert Japan seine Verteidigungspolitik neu.“
A Sukhoi-30 fighter plane of the Indian Air Force arrives at the Japan Air Self-Defense Force's Hyakuri Air Base in Omitama, Ibaraki Prefecture, eastern Japan, on Jan. 10, 2023, ahead of Japan and India's first joint fighter jet exercise. (Kyodo)
Japanische und indische Kampfeinheiten haben im Januar 2023 erste gemeinsame Manöver auf der Hyakuri Air Base in Omitama in der Präfektur Ibaraki im Osten Japans vorbereitet. (pa/Kyodo)

Höchster Schuldenstand der Welt, Rückgang der Bevölkerung

Die mangelnde innenpolitische Debatte über die Abkehr vom Pazifismus ist nicht das einzige Problem, das die Regierung hat. Die vielen neuen Aufgaben für das Militär ignorieren nämlich, dass Japan bald die Soldaten ausgehen, da die Bevölkerung dramatisch altert und schrumpft. Und die Anhebung des Wehretats auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung muss auch erst einmal finanziert werden. Schon heute lasten auf Japan die höchsten Schulden der Welt.
Doch noch türmen sich sichtbar solche konkreten Hürden für eine Öffentlichkeit nicht auf. Regierungschef Kishida steckt seinerseits in Vorbereitungen für den G7-Gipfel, der im Mai in Hiroshima stattfinden wird. Passend zum Veranstaltungsort will er dort für seine Vision einer ‚atomwaffenfreien Welt‘ werben. Japan - das einzige Land, über dem jemals Atomwaffen abgeworfen wurden, will sich gerade deshalb nicht nuklear bewaffnen - trotz der Verschlechterung des Sicherheitsumfeldes. Dasselbe Japan aber bricht heute mit einem Tabu: Dem Verständnis von Pazifismus, wie es einstmals in der Verfassung verankert wurde.