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Kommentar zum Ukraine-Krieg
Plädoyer für einen realistischen Pazifismus

Wir benötigten einen der Situation angepassten neuen Grundkonsens über deutschen Pazifismus, kommentiert Thomas Franke die deutsche Debatte über den Ukraine-Krieg. Die schrillen Töne derzeit seien angesichts der Herausforderungen nicht angemessen.

Ein Kommentar von Thomas Franke |
Mit Plakaten und Fahnen nehmen Demonstranten an Kundgebungen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) teil.
Anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz gab es in der bayerischen Hauptstadt zahlreiche Gegendemonstrationen. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
Es wird derzeit wohl nirgendwo so erbittert über Krieg und Frieden gestritten wie in Deutschland. Dabei gibt es einen breiten Konsens in Nord und Süd, Ost und West, und auch in fast allen Teilen des politischen Spektrums, von der Antifa bis zur CSU: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus.
All die Weisheiten, dass es sinnvoller ist, tagelang zu reden, als eine Stunde zu schießen und dass Frieden nur über Verhandlungen erreicht werden kann, ist genauso Konsens, wie das Bekenntnis, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf. Es ist dieser Pazifismus der Nachkriegszeit, der das Grundgesetz und die europäische Einigung prägt.

Komplizierte Veränderungen

Lange Zeit war es einfach, sich zur Gewaltlosigkeit zu bekennen. Die Verantwortung für Krieg und Frieden lag bei den beiden Großmächten – der Sowjetunion und den USA. Als der Kalte Krieg vorbei war, wurde es kompliziert. Auf einmal sollte Deutschland weltweit einen aktiven Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten. Das ist 30 Jahre her und kam für viele überraschend. Mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit wollte Deutschland alles Mögliche sein, nur keine Militärmacht. Das ist komplett nachvollziehbar, aber eben nicht mehr so einfach.
Deutscher Pazifismus wird gespeist von der Schuld an zwei Weltkriegen und der damit verbundenen Angst vor der eigenen Stärke. Diese Angst ist Ausdruck eines kollektiven Tätertraumas. Traumata werden unbewusst über Generationen weitergegeben, bestimmen Handeln und Denken selbst derer, die sich dessen nicht bewusst sind. Das gilt für jeden Einzelnen und auch für ganze Gesellschaften.

Das deutsche Tätertrauma

Dieses Tätertrauma der Deutschen bricht ein ums andere Mal auf, wenn die Bundesrepublik sicherheitspolitisch oder gar militärisch gefordert ist. Und es spaltet die Gesellschaft tief. Wie tief zeigte sich zum ersten Mal deutlich im Jahr 1999, als es darum ging, ob sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz der NATO im Kosovo beteiligt. Dort massakrierten serbische Mörderbanden systematisch Albaner.
Deutsche Soldaten sollten sich deshalb an einem Kampfeinsatz beteiligen, noch dazu an einem, der nicht von einem UN-Mandat gedeckt wurde. Ein Tabubruch, der die deutsche Öffentlichkeit überforderte. Die Diskussion eskalierte auf dem Parteitag der Grünen.

Debatten im Kosovo-Krieg

Leidenschaftlich plädierte der damalige Außenminister Joschka Fischer dafür, militärisch einzugreifen. Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, rief er in den tobenden Saal. Beides gehöre für ihn zusammen. Auch seine Gegner argumentieren mit der Verantwortung, die aus der deutschen Vergangenheit erwachse, beschimpften ihn als Kriegstreiber.
Der Kampfeinsatz stoppte das Morden im Kosovo und befreite die Bevölkerung vom Joch der Serben. Ein Erfolg? Bis heute gehen die Ansichten dazu auseinander. Die Lage im Kosovo offenbarte das Grundproblem: Macht sich – wer angesichts eines drohenden Völkermordes Gewaltlosigkeit fordert – mitschuldig?

Die Bundeswehr in Afghanistan

Zwei Jahre später – 2001 - reisten deutsche Soldaten nach Afghanistan, um gemeinsam mit anderen Armeen die Menschen dort von der Unterdrückung durch die Taliban zu befreien. Weitere Auslandseinsätze folgten. Politisch und finanziell wurde die Bundeswehr vernachlässigt und zu einer Berufsarmee umgebaut. Es schien, als brauchte Deutschland keine Streitkräfte und nur wenige widersprachen. Die drängende Frage, ob es moralisch richtig ist, militärisch zu intervenieren, wurde aufgeschoben.

Der Krieg in der Ukraine

Dann besetzte 2014 Russland die Krim und überzog den Osten der Ukraine mit Krieg. Als Russland im vergangenen Jahr eine Großoffensive startete mit dem Ziel, die Ukraine, die Ukrainer und alles Ukrainische zu vernichten, traf das die deutsche Öffentlichkeit erneut unvorbereitet.
Die viel schwächere Ukraine rief nach militärischer Hilfe. Doch die Bitte um Beistand, vor allen Dingen um schwere Waffen ist mit dem Ideal, Frieden ohne Waffen zu schaffen, nicht vereinbar. Das kollektive Tätertrauma brach erneut auf.

Wegsehen geht nicht mehr

Ängstlich, wütend, hilflos betrachtet die deutsche Öffentlichkeit seitdem die Brutalität des russischen Angriffs auf die Ukraine. Wegsehen geht nicht mehr. Und die Frage, was Pazifismus bedeutet, wenn nicht Deutschland andere Länder angreift, sondern eingreifen kann, um die Rechte Unterdrückter und bedrohter Menschen durchzusetzen, steht unbeantwortet im Raum.
Wir brauchen einen der Situation angepassten neuen Grundkonsens über deutschen Pazifismus. Wie wollen wir Kriege stoppen und langfristig verhindern, ohne unsere Ideale zu verraten? Pazifismus ist ein konstitutiver Teil der deutschen Gesellschaft. Die schrillen Töne, mit denen die Debatte zur Zeit geführt wird, sind nicht angemessen.