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Peacekeeping darf nicht nur auf die militärische Schiene setzen

Dirk Müller: Am Telefon sind wir nun verbunden mit General a. D. Klaus Reinhardt, früher Oberbefehlshaber der KFOR-Truppen im Kosovo. Guten Morgen.

Moderation: Dirk Müller | 23.09.2004
    Klaus Reinhardt: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Reinhardt, kann man es sich als Soldat im Einsatz leisten sich zu wundern?

    Reinhardt: Nein. Ich habe mich auch gewundert, dass man dort so kalt erwischt worden ist und so zögerlich reagiert hat. Ich vermute, dass es einfach der längere Aufenthalt in Prizren war, der zu einem sehr engen Verhältnis zwischen der Truppe und der dortigen Bevölkerung geführt hat, und dass man sich aus Sicht der Truppe gar nicht vorstellen konnte, dass diese Bevölkerung plötzlich gegen einen auftritt, und dass man dadurch total überrascht war und fast geistig gelähmt erschien und nicht das gemacht hat, wozu man eigentlich ausgebildet worden ist.

    Müller: Also Nachlässigkeit?

    Reinhardt: Nachlässigkeit, mit Sicherheit auch nicht genügend Informationen, was lief. Ich war nicht lange vor diesem Einsatz im Kosovo und habe mit vielen Menschen gesprochen. Es ist mir klar geworden, und von jedem eigentlich auch deutlich gesagt worden, wir sind so frustriert über die Gesamtlage als Kosovobevölkerung, über die gesamte politische und auch ökonomische Lage, dass wir irgendwann demnächst wieder auf uns aufmerksam machen werden. Man weiß, wenn man da unten ist, auf sich aufmerksam zu machen, bedeutet Gewalt und dies ist genau das, was passiert ist. Ich wundere mich, dass man dort so überrascht wurde und nicht entsprechend vorgehalten hat.

    Müller: Jetzt könnte man fast zynisch sagen, Herr Reinhardt, das war zu lange für die Soldaten jedenfalls, Business as usual?

    Reinhardt: Es war mit Sicherheit zu viel Business as usual, und man muss einfach sehen, dass sich dann irgendwann einmal die hohe Aufmerksamkeit und die hohe Wachsamkeit abbaut, und dann ist man nicht mehr so schnell reaktionsfähig. Das hätte nicht passieren dürfen.

    Müller: Nun ist ja ein Feldwebel der Bundeswehr beispielsweise nicht verantwortlich für die politische und ökonomische Situation. Er ist ja vielleicht auch in seinem Tagesgeschäft als Soldat im Einsatz vor Ort nicht verantwortlich für die Sensibilisierung der Truppe. Wer ist denn verantwortlich dafür, dass die Soldaten immer in Hab-Acht-Stellung sind?

    Reinhardt: Das sind im Grunde genommen die militärischen Führer vor Ort, dafür habe ich sie ja, und dafür werden sie ja besonders auf diese Situation ausgebildet. Aber, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eins sagen. Wir sehen natürlich jetzt wieder, dass wir bei Peacekeeping über Truppe, über Militär diskutieren und dass wir auch dort unten, als diese Dinge losgebrochen sind, sofort mit militärischen Maßnahmen durch zusätzliches Einfliegen von Truppe reagiert haben. Das Entscheidende ist ja, dass heute die ökonomische Situation im Kosovo deutlich schlechter ist als vor vier Jahren, als ich weggegangen bin. Die Arbeitslosigkeit hat sich fast verdoppelt, es gibt keine politische Zukunft. Das heißt, man kuriert nicht die Symptome, an denen im Grunde genommen diese Dinge ausgebrochen sind, an die man endlich ran muss. Man darf dieses Peacekeeping nicht nur auf die militärische Schiene setzen. Das ist da unten nicht gut gelaufen, das Militär hat entsprechende Maßnahmen ergriffen, aber nun müssen endlich auch die ökonomischen und die politischen Maßnahmen greifen. Man muss eine Entscheidung treffen, was passiert aus diesem Kosovo, sonst werden wir erneut eine ähnliche Situation haben.

    Müller: Peacekeeping, also Friedenssicherung, um das noch einmal zu übersetzen, reicht nicht aus, sagen Sie. Heißt das denn, dass politisch nicht ausreichend flankiert worden ist?

    Reinhardt: Natürlich ist politisch nicht ausreichend flankiert worden. Die entscheidende Frage der Bevölkerung dort unten ist: Was passiert denn nun nach fünf Jahren UNO-Verwaltung und nach fünf Jahren KFOR? Wann bekommen sie gesagt, wie sich die politische Entwicklung weiterentwickelt? Nur dann kann diese noch im sozialistischen Besitz befindliche Wirtschaft privatisiert werden, nur dann gibt es Investment von außen und nur dann kann die Wirtschaft wieder florieren. Wenn wir heute eine 73-prozentige Arbeitslosigkeit im gesamten Land haben, in Mitrovica von 90 Prozent, liegt ja dort der Hauptgrund der Unruhen. Man schlägt auf die Serben, man meint aber die internationale Gemeinschaft. Hier muss endlich angesetzt werden, dass man der Bevölkerung eine Option in eine bessere Zukunft wirklich verdeutlicht und nicht nur Sprüche macht, sondern den Sprüchen endlich Taten folgen lässt.

    Müller: Ist das Kosovo über den Irakkrieg, über den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zweite Schiene, vergessen worden?

    Reinhardt: Mit Sicherheit, zumindest aus Sicht der dortigen Bevölkerung. Ich erinnere mich, dass Herr Fischer als Außenminister sehr deutlich gesagt hat, als er hörte, da unten ist der Terror ausgebrochen, er muss sich in die Rahmenbedingungen des Kosovo wieder einlesen. Es gibt so viele andere Dinge, dass man sehr schnell dort zur Routine übergeht und ich hoffe, dass bei allem, was dort unten so falsch gelaufen ist, auch die Politik zu der Erkenntnis kommt, wir müssen mehr tun. Die Auseinandersetzung zwischen dem Verteidigungsminister Struck und Herrn Fischer in der letzten Woche, in der auch Herr Struck gesagt hat, ihr könnt das nicht alles auf die Schultern der Soldaten abschieben, zeigt im Grunde genommen, dass man hier auch auf der hohen Ebene erkannt hat, dass man Änderungen wahrnehmen muss.

    Müller: Herr Reinhardt, gehen wir vielleicht noch einmal kurz auf die Mängelliste ein. Können Sie sich denn daran erinnern zu ihrer Zeit als Kommandeur, dass Sie Schwierigkeiten hatten, sich mit anderen Kollegen auf Englisch zu verständigen?

    Reinhardt: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen und das darf eigentlich auch in einem eingeübten Stab nicht passieren. Es müssen Notfallpläne vorliegen. Lassen Sie mich an einem Beispiel sagen, wir haben eigentlich über die Jahre immer geübt, wie man mit einer Menschenmenge umgeht, wie man auch eine Menge, die einen sozusagen einsperrt, fertig wird, indem man Räumpanzer oder den Räumschild des Panzers runter nimmt, Soldaten davor schiebt und auf diese Menge entsprechend aktiv und offensiv zugeht. Das ist vergessen worden. Zu sagen, wir sind eingesperrt worden, wir kamen aus der Kaserne nicht raus, ist ja im Grunde genommen nicht das, wofür wir dort unten sind. Hier hat man Dinge, die man gelernt hat und die eigentlich Routine waren, in der Zwischenzeit so nicht mehr umgesetzt, und das muss man sehr schnell lernen. Denn sonst: Nur freundliche Leute runterzuschicken, die mit der Bevölkerung auch freundlich umgehen und die nicht in der Lage sind, wenn es drauf ankommt, auch die eiserne Faust zu zeigen und zuzuschlagen, bringt nichts.

    Müller: In der Mängelliste ist auch aufgeführt, wonach im März, also zur Zeit der Unruhen nicht ausreichende Krisenpläne vorhanden gewesen sein sollen. Das heißt von den rund 17.000 Soldaten waren nur rund 6000 operativ einsetzbar. Ist das vorstellbar?

    Reinhardt: Nun ist das immer so, dass Sie, wenn Sie im Ausland sind und jede Nation ihre eigene Logistik aufbaut und Sie dort aus dem Land nicht leben können, sondern Ihre gesamten Versorgungszüge bis nach Hause durchziehen und zusätzliche Fernmeldekräfte und Sanitätskräfte brauchen, bleibt bei einer solchen Größenordnung für die reine Kampftruppe tatsächlich etwa ein Drittel übrig. Das ist das Übliche, wenn sie im Ausland sind unter diesen Rahmenbedingungen. Um so mehr ist es notwendig, dass man Krisenpläne hat und die Kräfte, die man für derartige Einsätze hat, auch konzentrieren kann. Unabhängig davon sind auch die Kräfte, die keine wirklichen Kampfkräfte sind, die ja alle, zumindest in Deutschland, über die entsprechende Vorausbildung gegangen sind und in der Lage sein hätten müssen, in derartigen Einsätzen auch tatsächlich zum Tragen zu kommen. Ich verstehe nicht, warum das nicht geschehen ist.