Gericht vertagt sich
Pechstein-Prozess um Millionen – und die Wahrheit

15 Jahre nach den Dopingvorwürfen gegen Claudia Pechstein verhandelt das Oberlandesgericht München eine Millionenklage der Eisschnellläuferin gegen den Eislauf-Weltverband ISU. Ein Urteil gibt es erstmal nicht. Wir erklären, worum es in dem Prozess geht.

Von Victoria Reith |
Claudia Pechstein bindet sitzend ihre Schlittschuhe bei der Eisschnelllauf-WM in Herenveen 2023.
Claudia Pechstein fordert Schadenersatz vom Eislauf-Weltverband. (IMAGO / ANP / IMAGO)
Pechstein ist mittlerweile 52 Jahre alt, seit 2009 kämpft sie gegen die ISU und dafür, ihren sportlichen Ruf wieder herzustellen. Sie sagt, sie habe nicht gedopt. Und die ISU soll zahlen: Acht Millionen Euro Schadenersatz fordern ihre Anwälte in dem Prozess. Doch ein Urteil gibt es erst einmal nicht. Die Streitigkeiten gehen weiter: Nach einer mehrstündigen Verhandlung 24. Oktober vertagte das Gericht das Verfahren in den Februar.

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Was ist der Ausgangspunkt des Prozesses?

Claudia Pechstein wurde 2009 wegen eines Verstoßes gegen die Anti-Doping-Regeln für zwei Jahre gesperrt. Grundlage für die Entscheidung war ein erhöhter Retikulozyten-Wert, der bei Blutkontrollen bei der Mehrkampf-WM in Hamar im Februar 2009 durchgeführt wurde. Retikulozyten sind „junge“ rote Blutkörperchen, die nur eine kurze Zeit lang nachweisbar sind, ehe sie zu „erwachsenen“ Blutkörperchen werden. Diese sind für den Sauerstofftransport im Körper zuständig.
Pechstein bestritt, jemals gedopt zu haben und ruft den Internationalen Sportgerichtshof CAS an. Der bestätigt die Entscheidung der Internationalen Eislaufunion ISU. Sie bleibt dabei: Claudia Pechstein habe gedopt.

Warum wurde die Entscheidung am OLG München vertagt?

Beide Parteien konnten sich nicht auf einen Vergleich einigen. Der Eislauf-Weltverband blieb bei seiner Darstellung, der Rückschluss auf Doping anhand der auffälligen Blutwerte sei zulässig gewesen. Pechsteins Anwälte hielten dagegen, boten aber an, eine geringere Summe als Ausgleich für den Schaden zu akzeptieren, sollte die ISU zugeben, "dass das, was damals passiert ist, nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hatte". Pechstein und ihre Anwälte hatten sich gesprächsbereit gezeigt und waren zu finanziellen Abstrichen bis zur Hälfte der geforderten Summe bereit. Nach Angaben der Richter wird der Prozess am 13. Februar 2025 fortgesetzt.

Wie begründet Claudia Pechstein ihre Unschuld?

Pechstein führt an, dass ihr erhöhter Retikulozyten-Wert von einer Blutanomalie herrührt. Tatsächlich wird bei ihr eine solche, vom Vater vererbte Anomalie, festgestellt. Sowohl die deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie als auch ein Gutachter des Eislauf-Weltverbandes betonen, dass die erhöhte Retikulozyten-Zahl dadurch begründet werden kann.

Welche Rolle spielt der CAS in der Causa Pechstein?

Der Internationale Sportgerichtshof CAS in Lausanne urteilt seit 1984 bei Streitfällen im Sport und er hatte die Sperre für Pechstein trotz der Blutanomalie bestätigt. Pechstein war daraufhin zunächst vor mehrere Schweizer Gerichte gezogen und hatte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerde eingereicht, weil sie den Sportgerichtshof für parteiisch hielt. Der CAS sei ihrer Meinung nach nicht die geeignete Institution, um solche Fälle zu entscheiden. Er sei den Verbänden näher als den Sportlerinnen und Sportlern und diese sollten auch das Recht haben, vor ordentliche Gerichte zu ziehen.
Bevor ein Athlet überhaupt bei großen Wettkämpfen an den Start gehen darf, muss er in der Regel bei dem für seine Disziplin zuständigen Sportverband eine Schiedsvereinbarung unterschreiben. Das hat auch Claudia Pechstein getan. Mit der Schiedsvereinbarung wird die alleinige juristische Zuständigkeit des CAS in Streitfragen festgelegt. Der Rechtsweg vor ein staatliches Gericht ist damit praktisch ausgeschlossen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte folgte Pechsteins Argumentation nicht, sondern bescheinigte dem CAS Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit. Allerdings bemängelte er, dass die Statuten des CAS kein faires Gerichtsverfahren gewährleisten: Weil der Prozess vor dem CAS nicht öffentlich in einer mündlichen Verhandlung stattgefunden hat, wie es Pechstein gefordert hatte, wurde ihr eine Entschädigung von 8.000 Euro zugesprochen. An ihrer Dopingsperre änderte das aber nichts.

Wie ging es in der Zwischenzeit sportlich für Claudia Pechstein weiter?

Nach Ablauf der Sperre am 8. Februar 2011 qualifiziert sich Claudia Pechstein mit 38 Jahren bei den deutschen Meisterschaften in Erfurt für den Weltcup. Es folgen sechsmal WM-Bronze und einmal -Silber sowie einmal EM-Silber. 2014 in Sotschi, 2018 in Pyeongchang und 2022 in Peking startet sie bei Olympischen Winterspielen. Mit insgesamt acht Olympia-Teilnahmen stellt sie einen Rekord auf.

Warum wird der Fall nach so langer Zeit immer noch verhandelt?

Mit dem CAS-Urteil 2009 startet Claudia Pechstein einen Prozess-Marathon. Sie will, dass die Dopingvorwürfe gegen sie ausgeräumt werden. 2015 hatte die ISU Revision gegen eine Entscheidung des OLG München eingelegt, eine Schadenersatzklage von Claudia Pechstein zuzulassen. Vor zwei Jahren, im Juni 2022, gibt das Bundesverfassungsgericht wiederum einer Beschwerde von Claudia Pechstein statt: Sie habe vor dem CAS kein faires Verfahren bekommen. Damit ist ihre Schadenersatzklage gegen die ISU vor dem OLG München zulässig, die nun verhandelt wird. Die Schadenersatzklage beläuft sich laut Pechsteins Anwälten mittlerweile auf acht Millionen Euro inklusive Schmerzensgeld.

Was sagt Claudia Pechstein?

Die fünfmalige Olympiasiegerin Claudia Pechstein erklärt, moralisch sei sie längst rehabilitiert. Der Deutsche Olympische Sportbund habe bereits Anfang 2015 betont, dass sie Opfer und nicht Täter sei. „Allerdings fehlt noch die juristische Rehabilitierung“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. „Ich habe nie gedopt. Insofern blicke ich voller Zuversicht auf die Verhandlung.“ Pechstein erklärte vor Gericht darüber hinaus: "Räumt die ISU öffentlich ein, dass es falsch war, mich zu sperren, bin ich zu einem Vergleich bereit. Ansonsten erwarte ich ein Urteil im Namen des Volkes."

Wie ist die Position der ISU?

Bislang ist der Weltverband nicht davon abgerückt, dass die Sperre rechtens war. Man werde alle Möglichkeiten prüfen, hieß es nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2022. Und auch jetzt bleibt die ISU hart. Ein juristischer Berater des Weltverbandes erklärte, dass es weder eine Entschuldigung geben werde noch ein Bekenntnis, Unrecht getan zu haben. Überdies sei es ausgeschlossen, die von Pechstein geforderte Summe zu zahlen.
Der ISU-Berater drohte der Olympiasiegerin, dass die juristische Auseinandersetzung noch viele Jahre weitergehen könnte, sollte sie nicht einlenken. Die Anwälte der ISU gaben an, sich erst mit der Verbandsführung beraten zu wollen. Auf Vorschlag des Gerichts hat sich die ISU bereiterklärt, bis zum 14. November eine Ehrenerklärung zu formulieren.
Anschließend hat Claudia Pechstein drei Wochen Zeit zu entscheiden, ob sie damit einverstanden ist. Sollte eine Übereinstimmung gefunden werden, darf die Sportlerin einen zu zahlenden Betrag zur Abgeltung der Klageforderung vorschlagen, gab der Richter zu Protokoll.