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Peer Steinbrück
Keiner, der dazwischenredet

"Die Kanzlerkandidatur war ein Fehler," resümiert Peer Steinbrück in seinem Buch "Vertagte Zukunft" seinen letzten großen politischen Auftritt. Obwohl es darin explizit nicht um seinen damaligen Wahlkampf gehen soll, klingt es doch manchmal wie eine Retourkutsche des Ex-Kanzlerkandidaten.

Von Stefan Maas |
    Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück.
    Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Zu den Gründen, warum Politiker Bücher schreiben, gehört ganz sicher der, dass sie dort ihre Gedanken entwickeln können, ohne dass ihre Kontrahenten ständig dazwischenreden und widersprechen. Oder wie im Fall von Peer Steinbrück: die eigene Partei. Denn das hat die SPD getan, 2013, im Jahr der Bundestagswahl. Hat ihn, den Kanzlerkandidaten, nicht authentisch bleiben lassen, beschwert sich Steinbrück in seinem neuen Buch, "Vertagte Zukunft". Aus seiner Sicht einer der Gründe für das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten. Aber bei Weitem nicht der Einzige. Auch wenn er selber sagt:
    "Das Buch ist keine lange Beschäftigung mit dem Wahlkampf. Und auch, wie ich hoffe, und von einigen wird es mir bestätigt, auch kein larmoyanter Blick zurück auf einen Wahlverlierer. Das wird keiner lesen wollen."
    ...widmet er der Analyse der Niederlage und den Konsequenzen für seine Partei doch viel Raum. Steinbrück geht hart mit seiner eigenen Partei ins Gericht:
    "Einige Genossinnen und Genossen in tiefroten Parteizirkeln, auch in höheren Gremien, glauben, dass die Spitzenkandidaten und Führungspersönlichkeiten der SPD den mehrjährigen Praxistest als lupenreine Sozialdemokraten bestanden haben müssen - linientreue Zehnkaräter, bibelfest und im Milieu zuhause, eingeschworene Parteisoldaten eben. Das ist ein fundamentaler Irrtum."
    Schuld waren: die anderen
    Das klingt wie die Retourkutsche eines ehemaligen Kandidaten, der mit vielen Funktionären genauso gefremdelt hat wie sie mit ihm. Wie die Klage eines selbst ernannten Freigeistes, der durch den "Partei-TÜV" gefallen ist. Zumal er bei der Betrachtung der eigenen Rolle weniger kritisch ist. Steinbrück schreibt, seine Kandidatur sei ein Fehler gewesen, sein eigener Fehler. Eine - Zitat - "Fehleinschätzung meiner Möglichkeiten". Das klingt schonungslos - allerdings zeigt sich schnell, dass die Möglichkeiten vor allem von externen Faktoren begrenzt waren. Schuld waren: die anderen. Unter anderem die Wähler. Weil sie nicht wollten, was Steinbrück zu bieten hatte. Hinzu komme ein grundlegendes Problem, das die SPD belaste. Eines, das, so sagt er, in Zukunft den Status der SPD als Volkspartei gefährden könne:
    "Aus der Sicht vieler auch innovativer junger Leute ist die SPD sehr altbacken. Und weit davon entfernt, auf die unterschiedlich sich entwickelnden Lebenswelten einzugehen."
    Die historische Aufgabe der SPD, für den Wohlfahrtsstaat und die Gleichheit aller zu kämpfen, sei weitgehend erfüllt.
    "Insoweit sich die Politik der SPD darauf konzentriert und sich im Wesentlichen darin erschöpft, diesen Wohlfahrtsstaat auf hohem Niveau weiter auszubauen, weckt sie keine Begeisterung mehr. Möglicherweise versäumt sie darüber Antworten auf die Fragen von heute und morgen."
    Natürlich sei es ehrenhaft auf jene zu schauen, die Hilfe benötigten. Die inzwischen zum Beispiel vom Mindestlohn profitierten. Nur dürfe man eben den Blick nicht ausschließlich auf die Ränder der Gesellschaft richten und darüber die Mitte vergessen. Jene, die hart arbeiteten und sich die Frage stellten: Wie sollen WIR diesen Sozialstaat bezahlen? Die aber erreiche die SPD oft nicht mehr. Nicht nur, weil diese Wählergruppe sich nicht wiederfände in den düsteren Bildern, die die Partei etwa im letzten Wahlkampf von Deutschland gezeichnet habe. Zwar mag Steinbrück sich nicht vom Wahlprogramm distanzieren, das habe er schließlich mitbeschlossen, sagt er, aber für die Zukunft müsse die Partei sich breiter aufstellen – zum Beispiel in Sachen Wirtschaftskompetenz. Er gefällt sich in der Rolle desjenigen, der kein Blatt vor den Mund nimmt, und stilisiert sich zum Verkünder unbequemer Wahrheiten.
    "Was ich hier ausführe, ist für Programmatiker und Grundsatzabteilungsleiter der SPD schwere Kost. Wenn ich dann auch noch den historischen Auftrag der SPD, den Sozialstaat auszubauen, relativiere, kann mir die Exkommunikation drohen."
    Steinbrück teilt aus - in alle Richtungen
    Ein durchschaubarer Schachzug, um die eigene Glaubwürdigkeit, zu untermauern, den eigenen Mut zu betonen. Steinbrück der Querdenker. Aber nicht nur in diesem Kapitel nimmt der "einfache Abgeordnete" sich jene "Beinfreiheit", die Teile der SPD ihm als Kanzlerkandidat nicht lassen wollten. Steinbrück genießt diese intellektuelle Freiheit, sich mit den Themen zu beschäftigen, die ihn umtreiben. Der Leser profitiert davon, auch wenn er selbst nicht ungeschoren davonkommt. Denn Steinbrück teilt aus - in alle Richtungen. Gegen die Wähler, die 2013 lieber ein gemütliches "Weiter so" wollten wie es die Kanzlerinnen-Partei versprach. Die sich nicht aufrütteln lassen wollten. Gegen eine Gesellschaft, die der Politik zunehmend distanziert gegenübersteht. Die der Politik nicht vertraut, aber erwartet, dass sie sich um alles kümmert und diejenigen verspottet oder verachtet, die sich in Parteien engagieren. Eine alternde Gesellschaft, die sich den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr stellen mag, auch weil das bedeuten könnte, den eigenen Status quo infrage zu stellen.
    "In der öffentlichen Debatte, zumal in der medialen Präsentation, finden all jene schnell Zustimmung, die sich als Bedenkenträger, Alarmisten und Tiefbetroffene gegen politische Vorhaben, technische Innovationen, Investitions- und Infrastrukturprojekte wenden. Dabei müsste unsere Gesellschaft mit Blick auf ihre Zukunftssicherung ans Gelingen glauben und nicht ins Verhindern verliebt sein."
    Eine interessante Lektüre
    Dabei seien die Herausforderungen und Gefahren mannigfaltig, schreibt der ehemalige Bundesfinanzminister. Die Finanzkrise - noch längst nicht vorbei. Der Finanz- und Bankensektor - noch immer ungebändigt. Und auch die digitale Revolution wirft Fragen auf: Wie sicher sind die Daten der Nutzer, welchen Einfluss haben die großen Technologiekonzerne? Wie viel Einfluss hat die Politik noch? Der Großen Koalition wirft Steinbrück vor, mit Mütterrente und Rente mit 63 eine Kostenexplosion zu verursachen, das Erneuerbare Energien-Gesetz nennt er ein bürokratisches Monster, das zunächst abgeschafft und dann entschlackt wieder eingeführt werden sollte. Die Digitale Agenda der Bundesregierung könne mit den technischen Entwicklungen nicht mithalten, schreibt er. Systematisch reißt er in jedem Kapitel die Probleme an, bevor er sich ihnen ausführlicher zuwendet und Lösungs- und Finanzierungsvorschläge macht. Eine interessante Lektüre, auch wenn Rezipienten, die Steinbrücks letztes Buch gelesen haben, einiges bekannt vorkommen dürfte. Bleibt die Frage, warum er sich damit begnügt, als einfacher Abgeordneter ein Buch zu schreiben, statt sich etwa in einem Regierungsamt für eine andere Politik einzusetzen. Glaubwürdigkeit, sagt Steinbrück. Immerhin habe er versprochen, kein Ministeramt zu übernehmen, wenn er nicht Kanzler werde. Außerdem, könnte man hinzufügen: So redet ihm auch keiner dazwischen.
    Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. 304 Seiten, Verlag Hoffmann und Campe, 22 Euro.